ür Er wußte nicht mehr, welcher Unachtsamkeit er damals entwischen konnte, und auch nicht mehr, welchen Weg er auf den Straßen West Kensingtons einschlug. All das war im undurchdringlichen Nebel der Erinnerung verschwunden. Aber die weiße Mauer und die grüne Tür leuchteten deutlich hervor.
Die Erinnerung an das kindliche Erlebnis ließ den Schluß zu, daß er beim allerersten Anblick jener Tür ein eigenartiges Gefühl verspürte, eine Anziehungskraft, ein Verlangen, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen und einzutreten. Und gleichzeitig war er fest davon überzeugt, daß es entweder unklug oder nicht recht von ihm war — er wußte nicht, welches von beiden —, dieser Anziehungskraft nachzugeben. Er versicherte, es sei merkwürdig, daß er von Anfang an — wenn das Gedächtnis ihm nicht einen seltsamen Streich spielte — wußte, daß die Tür unverschlossen war und daß er nach Belieben eintreten konnte.
Ich sehe die Gestalt des kleinen Jungen vor mir, gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Und ihm war auch ganz klar, daß sein Vater sehr ärgerlich ware, wenn er durch diese Tür ginge, obwohl der Grund dafür nie zur Sprache kam.
Wallace beschrieb mir diese Augenblicke des Zögerns mit äußerster Präzision. Er ging dicht an der Tür vorbei, und dann schlenderte er mit den Händen in den Taschen und dem kindlichen Versuch zu pfeifen weiter, bis die Mauer zu Ende war. Dort befanden sich seiner Erinnerung nach eine Anzahl ärmlicher, schmutziger Läden und insbesondere ein Installateur- und Tapetengeschäft mit einem staubigen Durcheinander von Tonröhren, Bleiblechen, Wasserhähnen, Tapetenmusterheften und Farbbüchsen. Er stand davor und tat so, als ob er diese Dinge betrachtete, und verspürte ein begieriges, leidenschaftliches Verlangen nach der grünen Tür.
Dann, so erzählte er, hatte er einen Gefühlsausbruch. Er rannte auf sie zu, damit ihn nicht Zögern überkäme; er stürzte mit schon ausgestreckter Hand durch die grüne Tür und ließ sie hinter sich zuschlagen. So kam er im Handumdrehen in den Garten, der ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr losließ.
Es fiel Wallace sehr schwer, mir eine Vorstellung von jenem Garten,
in den er gelangte, zu vermitteln. Es lag dort etwas in der Luft, das freudig
erregte, das einem ein Gefühl der Leichtigkeit und des Wohlbefindens verlieh
und frohe Ereignisse erwarten ließ; es war etwas an dem Anblick, der alle
Farben klar und rein und zart leuchten ließ. Sobald man eintrat, war man
unsagbar glücklich — wie man nur in seltenen Augenblicken,
und wenn man jung und fröhlich ist, auf dieser Welt glücklich
sein kann. Und alles dort war schön... - Herbert George Wells,
Die Tür in der Mauer. In: H.G.W., Die Tür in der Mauer. Stuttgart 1983.
Die Bibliothek von Babel Bd. 29, Hg. Jorge Luis Borges
Tür (2) In den Wochen, nachdem Doris weggegangen war, kamen Larry und die Kuckucksuhr noch schlechter miteinander aus als zuvor. Zum einen blieb der Kuckuck fast immer drinnen, manchmal sogar um zwölf Uhr, wenn er eigentlich am häufigsten rufen sollte. Und wenn er überhaupt herauskam, dann rief er meist nur ein- oder zweimal; nie rief er so oft, wie er sollte. Und in seiner Stimme lag ein mürrischer, abweisender Ton, ein unangenehmer Klang, der Larry beunruhigte und ein wenig ärgerte.
Doch er zog die Uhr immer wieder auf, weil es im Haus sehr still und ruhig war und es ihm auf die Nerven ging, niemanden zu hören, der herumlief, redete und Sachen hinwarf. Und so gefiel ihm sogar das Surren einer Uhr.
Nur den Kuckuck mochte er überhaupt nicht. Und manchmal redete er mit ihm.
»Hör zu«, sagte er einmal spät in der Nacht zu der geschlossenen kleinen Tür. »Ich weiß, daß du mich hören kannst. Ich sollte dich zurückschicken nach Deutschland -zurück in den Schwarzwald.« Er ging auf und ab. »Ich frage mich, was die beiden jetzt grade machen. Dieser kleine Spinner mit seinen Büchern und seinen Antiquitäten. Ein Mann sollte sich nicht für Antiquitäten interessieren; das ist was für Frauen.«
Er biß die Zähne zusammen. »Hab ich nicht recht?«
Die Uhr antwortete nicht. Larry trat vor sie hin. »Hab ich nicht recht?« fragte er. »Hast du denn gar nichts zu sagen?«
Er schaute auf das Zifferblatt der Uhr. Es war fast elf, nur noch wenige Sekunden bis zur vollen Stunde. »In Ordnung. Ich warte bis elf. Dann will ich hören, was du zu sagen hast. Du warst ziemlich still in den letzten paar Wochen, seit sie fort ist.«
Er grinste schief. »Vielleicht gefällt es dir hier nicht mehr, seit sie weg ist.« Sein Blick verfinsterte sich. »Nun, ich hab für dich bezahlt, und du wirst herauskommen, ob du willst oder nicht. Verstanden?«
Es wurde elf Uhr. In der Ferne, am Ende der Stadt, dröhnte die große Turmuhr schläfrig vor sich hin. Doch die kleine Tür blieb geschlossen. Nichts regte sich. Der Minutenzeiger lief weiter, und der Kuckuck rührte sich nicht. Er war irgendwo im Innern der Uhr, jenseits der Tür, stumm und fern.
»In Ordnung; wenn dir nicht danach ist«, murmelte Larry mit verzerrten Lippen. »Aber das ist nicht fair. Es ist dein Job herauszukommen. Wir alle müssen Dinge tun, die uns nicht gefallen.«
Elend ging er in die Küche und öffnete den großen, glänzenden Kühlschrank. Während er sich einen Drink eingoß, dachte er über die Uhr nach.
Eines war sicher - der Kuckuck sollte herauskommen, ob Doris nun hier war oder nicht. Sie hatte er immer gemocht, von Anfang an. Sie hatten sich gut verstanden, die beiden. Wahrscheinlich mochte er Bob ebenfalls - wahrscheinlich hatte er Bob oft genug gesehen, um ihn näher kennenzulernen. Sie wären bestimmt ziemlich glücklich miteinander, Bob und Doris und der Kuckuck.
Larry leerte sein Glas. Er öffnete die Schublade neben der Spüle und nahm den Hammer heraus. Er trug ihn vorsichtig ins Eßzimmer. Die Uhr an der Wand tickte ruhig vor sich hin.
»Hier«, sagte er und schwenkte den Hammer. »Weißt du, was ich hier habe? Weißt du, was ich damit machen werde? Du kommst zuerst dran - zuallererst.« Er lächelte. »Ihr seid doch alle aus dem gleichen Holz geschnitzt - ihr alle drei.«
Es war still im Zimmer.
»Kommst du raus? Oder muß ich reinkommen und dich holen?«
Die Uhr surrte ein wenig.
»Ich hör dich da drinnen. Du wirst 'ne Menge zu erzählen haben, genug für die letzten drei Wochen. Soweit ich ausgerechnet habe, schuldest du mir - «
Die Tür öffnete sich. Der Kuckuck schnellte heraus, direkt auf ihn zu. Larry hatte den Blick gesenkt, die Stirn nachdenklich gerunzelt. Nun sah er rasch auf, und der Kuckuck traf ihn genau ins Auge.
Er stürzte, Hammer und Stuhl und alles, und schlug mit einem fürchterlichen Krachen auf dem Boden auf. Einen Augenblick lang hielt der Kuckuck inne, sein kleiner Körper verharrte regungslos in der Schwebe. Dann glitt er zurück in sein Haus. Hinter ihm schnappte die Tür fest zu.
Der Mann lag auf dem Boden, die Glieder grotesk verrenkt, den Kopf auf
eine Seite gebogen. Nichts regte oder bewegte sich. Im Zimmer war es vollkommen
still, bis auf das Ticken der Uhr natürlich. - Philip K. Dick, Jenseits
der Tür. In: Variante zwei. Sämtliche Erzählungen Bd. 3. Zürich 1995
Tür (3) Ich war immer ein Feind des geregelten Lebens, wie es alle anderen führen. Die öde Monotonie ständig wiederholter Handlungen und fester Gewohnheiten brachte mich zur Verzweiflung. Obwohl mein Vater mir ein großes Vermögen hinterlassen hatte, neigte ich keineswegs zur Verschwendung. Weder prunkvolle Häuser noch elegante Kutschen lockten mich, weder tolle Jagden noch das müßige Leben der Badeorte; das Spiel bot meinem unruhigen Geist nur zwei Möglichkeiten: Das war zu wenig. Wir lebten in einer ungewöhnlichen Zeit: Die Romanciers hatten uns alle Gesichter des Menschen und alle Hintergründe des Denkens enthüllt. Man war vieler Gefühle müde, ehe man sie überhaupt empfunden hatte; manche ließen sich vom mystischen Dunkel unbekannter Abgründe faszinieren; andere waren besessen von einer Leidenschaft für das Absonderliche und suchten sich immer neue Sinnesreize zu verschaffen; wieder andere verzehrten sich schließlich in einem tiefen Mitleid, das sich auf alle Dinge erstreckte.
Abenteuer solcher Art hatten in mir eine unmäßige Neugier auf das menschliche Leben erweckt. Ich hatte das qualvolle Bedürfnis, mich meinem eigenen Selbst zu entfremden, ein Soldat, ein Armer oder ein Kaufmann zu sein, oder die Frau, die ich mit wippenden Röcken vorbeigehen sah, oder das zart verschleierte junge Mädchen, das in einen Konditorladen trat: Es hob den Schleier zur Hälfte, biß in ein Törtchen, goß Wasser in ein Glas und verharrte mit gesenktem Kopf.
So ist es leicht zu verstehen, warum eine Pforte immer wieder meine Neugier erregte. In einem abgelegenen Viertel gab es eine graue Mauer, die hoch oben von vergitterten runden Fenstern durchbrochen war; an einigen Stellen waren mit verblaßter Farbe blinde Fenster aufgemalt. Und am Fuße dieser Mauer war in einer merkwürdig unregelmäßigen Anordnung, die völlig unerklärlich wirkte, tief unter den vergitterten Fenstern eine niedrige, spitzbogige Tür eingelassen, die ein Schloß mit langen Eisenbeschlägen und grüne Querbalken hatte. Das Schloß war verrostet, die Angeln waren verrostet; unter der Schwelle in der verlassenen alten Straße wucherten Brennesseln und Goldlackbüschel, und weißliche Schuppen blätterten von der Tür wie von der Haut eines Leprakranken.
Gab es dahinter menschliche Wesen? Und welches seltsame Leben mußten sie führen, wenn sie den ganzen Tag im Schatten dieser grauen Mauer verbrachten, von der Welt getrennt durch die kleine, niedrige Tür, die niemals offenstand. Immer wieder brachten mich meine müßigen Spaziergänge in diese stille Straße, und ich stand fragend vor der Pforte wie vor einem Rätsel.
Als ich mich eines Abends in der Menge treiben ließ und nach merkwürdigen Gestalten Ausschau hielt, sah ich einen kleinen alten Mann mit hinkendem Gang. Aus seiner Tasche hing ein rotes Tuch, und er kicherte vor sich hin, während sein krummer Stock auf dem Pflaster klapperte. Im Lichtkreis der Gaslaterne schien sein Gesicht von Schatten durchquert, und seine Augen funkelten grünlich, so daß ich unwillkürlich an die Pforte denken mußte: Ich wußte mit einem Male, daß zwischen ihm und ihr irgendeine Beziehung bestand.
Ich folgte dem Mann. Ich kann nicht sagen, ob er von sich aus etwas dazu getan hat. Aber es war mir unmöglich, anders zu handeln, und als er sich in die verlassene Straße wandte und auf die Pforte zuschritt, überfiel mich jene plötzliche Vorahnung, die einen wie in blitzartigem Aufleuchten erkennen läßt, was geschehen wird. Er klopfte zwei- oder dreimal; die Tür bewegte sich lautlos in ihren rostigen Angeln. Ohne zu zögern, stürzte ich vorwärts; aber ich stolperte über die Beine eines Bettlers, der an der Mauer saß und den ich nicht gesehen hatte. Er hielt einen irdenen Napf auf den Knien und einen Zinnlöffel in der Hand. Er hob seinen Stock und verfluchte mich mit rauher Stimme, während die Tür sich leise hinter mir schloß.
Ich war in einem riesigen dunklen Garten, in dem wilde Krauter und Blumen bis in Kniehöhe wucherten. Der Boden war aufgeweicht wie durch ständigen Regen; er schien aus Lehm zu sein, so sehr gab er unter jedem Schritt nach. Ich tastete durch die Finsternis hinter den kaum wahrnehmbaren Geräuschen des Alten her, der immer weiterging, doch bald bemerkte ich einen Lichtschein; an einigen Bäumen hingen Papierlaternen, die ein rötliches, verschwommenes Licht verbreiteten. Und es war nicht mehr ganz so totenstill, denn der Wind schien leise in den Zweigen zu seufzen.
Als ich näher kam, sah ich, daß die Laternen mit orientalischen Blumen bemalt waren und daß sie das Wort »Opiumhaus« in die Luft zeichneten.
Vor mir erhob sich ein weißes, viereckiges Gebäude mit schmalen und hohen Öffnungen, aus denen langgezogene, schrille Geigenklänge, von Trillern durchsetzt, und ein Singsang träumerischer Stimmen zu mir drangen. Der Alte blieb auf der Schwelle stehen und forderte mich mit einer eleganten Bewegung seines roten Tuches auf einzutreten.
Im Flur bemerkte ich eine schmächtige gelbe Gestalt, die in ein wehendes Gewand gekleidet war; auch sie war alt, mit zahnlosem Mund und wackelndem Kopf. Sie führte mich in ein schlauchförmiges Zimmer, das mit weißer Seide ausgeschlagen war. Auf der Stoffbespannung wuchsen senkrechte schwarze Streifen in die Höhe, die sich zur Decke hin verjüngten. Vor mir stand ein Satz Lacktische, von denen einer unter den anderen paßte, darauf eine Lampe aus rotem Kupfer, in der eine kleine Flamme brannte, eine Porzellanschale, die eine graue Masse enthielt. Nadeln und drei oder vier Pfeifen mit Bambus stiel und silbernem Kopf. Die gelbe alte Frau rollte eine Kugel, spießte sie auf eine Nadel, ließ sie in der Flamme weich werden, stopfte sie dann behutsam in den Pfeifenkopf und legte einige durchlöcherte Plättchen darauf. Ohne weiter nachzudenken, zündete ich die Pfeife an und atmete zwei Züge des beißenden, giftigen Rauches ein, der mir den Verstand raubte.
Denn ich sah sogleich, ohne jeden Übergang, das Bild der Pforte vor meinen Augen, die bizarren Gestalten des alten Mannes mit dem roten Tuch, des Bettlers mit dem Napf und der Alten im gelben Gewand. Die schwarzen Streifen verbreiterten sich nun umgekehrt zur Decke hin und nahmen nach unten ab, in einer Art chromatischer Tonleiter der Dimensionen, die in meinen Ohren zu erklingen schien. Ich hörte das Geräusch des Meeres und der Brandung, die mit dumpfem Klatschen die Luft aus den felsigen Grotten treibt. Das Zimmer änderte seine Richtung, ohne daß ich eine Bewegung wahrgenommen hätte. Es kam mir vor, als hätten meine Füße die Stelle meines Kopfes eingenommen und als läge ich auf der Zimmerdecke. Schließlich erlosch jeder Wunsch nach Aktivität in mir; ich sehnte mich danach, ewig in diesem Zustand zu verharren und mich meinen Empfindungen zu überlassen.
In diesem Augenblick glitt die Wandtäfelung auseinander, und eine junge
Frau trat herein, wie ich sie niemals gesehen hatte. Ihr Gesicht war mit
Safran eingerieben, und ihre Augen lagen weit auseinander; ihre Wimpern
waren mit Gold belegt, und eine rosafarbene Linie zog delikat die Form
ihrer Ohrmuscheln nach. Ihre Zähne, schwarz wie
Ebenholz, waren mit blitzenden kleinen Diamanten übersät und ihre Lippen
tiefblau gefärbt. In diesem Schmuck, mit ihrer gesalbten, bemalten Haut,
erinnerte sie in Duft und Aussehen an durchbrochene, mit bunten Farben
bearbeitete chinesische Elfenbeinstatuen. Sie war nackt bis zur Taille;
ihre Brüste hingen wie zwei Birnen herab. -
Marcel Schwob, Das Opiumhaus. In: Das Spiegelkabinett. Englische und französische
Erzählungen des Fin de Siècle. Hg. Wolfgang Pehnt. München 1969 (dtv 567,
zuerst 1966)
Tür (4) Auf einer Insel am Saum der Erde lebte Utnapischtim, ein sehr, sehr alter Mann, der einzige Sterbliche, der dem Tod entgangen war. Gilgamesch beschloß, ihn aufzusuchen und von ihm das Geheimnis des ewigen Lebens zu erfahren.
Er gelangte zum Saum der Welt, wo ein ungeheuer hoher Berg seine Zwillingsgipfel gen Himmel streckte und seine Wurzeln in der Hölle vergrub. Ein Portal wurde von schrecklichen, gefährlichen Geschöpfen, halb Mann und halb Skorpion, bewacht. Entschlossen schritt er vorwärts und sagte den beiden Ungeheuern, er suche Utnapischtim.
»Niemand ist bis zu ihm vorgedrungen, noch hat jemand das Geheimnis des ewigen Lebens erfahren. Wir bewachen den Weg der Sonne, den kein Sterblicher betreten darf.«
»Ich werde es tun«, sagte Gilgamesch, und die Ungeheuer, gewahrend, daß es sich um einen ungewöhnlichen Sterblichen handelte, ließen ihn hindurchgehen.
Gilgamesch trat ein; der Tunnel wurde immer dunkler, bis ein Luftzug an sein Gesicht rührte und er einen Lichtschein ahnte. Als er ins Licht trat, befand er sich in einem Zaubergarten, in dem Edelsteine funkelten.
Die Stimme des Gottes erreichte ihn: Er befand sich im Garten der Wonnen und genoß eine Gnade, welche die Götter bisher keinem Sterblichen gewährt hatten. »Hoffe nicht, mehr zu erreichen.«
Doch Gilgamesch schritt über das Paradies hinaus. - Babylonische
Erzählung aus dem zweiten Jahrtausend vor Christi Geburt, nach (
bo4
)
Tür (5) Es war kein Balkon, nur statt des Fensters
eine Tür, die hier im dritten Stockwerk unmittelbar ins Freie rührte. Sie
war jetzt offen an dem Frühlingsabend. Ein Student ging lernend im Zimmer
auf und ab; kam er zur Fenstertür, strich er immer mit der Sohle draußen
über ihre Schwelle, so wie man flüchtig mit der Zunge
an etwas Süßem leckt, das man sich für spätere
Zeiten zurückgelegt hat. - (
hochz
)
Tür (6) Er hat eine eigentümliche Wohnungstür, fällt
sie ins Schloß, kann man sie nicht mehr öffnen, sondern muß sie ausheben
lassen. Infolgedessen schließt er sie niemals, schiebt vielmehr in die
immer halboffene Tür einen Holzbock, damit sie sich nicht schließe. Dadurch
ist ihm natürlich alle Wohnungsbehaglichkeit genommen. Seine Nachbarn sind
zwar vertrauenswürdig, trotzdem muß er die Wertsachen in einer Handtasche
den ganzen Tag mit sich herumtragen und wenn er auf dem Kanapee
in seinem Zimmer liegt, ist es eigentlich, als liege er auf dem Korridor,
im Sommer weht ihm die dumpfe, im Winter die eiskalte Luft von dort herein.
- (
hochz
)
Tür (7) Als Somogyi (aus Agram) nach monatelanger Abwesenheit gegen acht Uhr morgens die steinerne Wendeltreppe eines schmalen Hauses in der Via Mazzini emporstieg, um bei seinem Gelegenheits-Kumpan Bazzo sich zu verbergen, blieb er im zweiten Stock vor einer Tür stehen, an der ein schmutziggrauer Kanon hing mit der schwarz gedruckten Aufschrift: ›Servizio latrina cent. 30‹.
Somogyi, das bevorstehende schwierige Wiedersehen im Kopf, wollte schon weitergehen, als er fühlte, daß er die Gelegenheit benützen könnte; und während er bereits mit der Linken vorne an seiner Hose nestelte, öffnete er mit der Rechten die Tür.
Er hatte noch kaum recht gesehen, als ihm auch schon ein durchdringender Schrei entgegenscholl: mitten im Zimmer stand in einem großen Blech-Lavabo eine nackte Frau, in der einen Hand einen nassen Schwamm, in der andern ein Stück Seife.
Somogyi war so verdutzt, daß er völlig vergaß, wo seine Linke sich befand.
»Porco cane! Maledetto porco!« schrie die Frau, die Knie schließend und die Seife auf ihre Scham pressend. Ihr Gesicht gebärdete sich, als griffen ein Skorpion und eine Maus sie gleichzeitig an.
Somogyi, seine Linke immer noch an der gewissen Stelle, grinste jetzt langsam, aber außerordentlich sanftmütig. Infolgedessen übersah er, wie der rechte Arm der Frau ausholte und den Schwamm gegen ihn schleuderte.
Der Schwamm ging fehl. Er platschte, hart neben Somogyis Kopf, an die Wand, von der er, nachdem er einen dunkelbraunen Fleck von der Form Südamerikas zurückgelassen hatte, mit einem saftigen Glucksen auf die Steinfliesen fiel.
»Aiuto!« zeterte die Frau, nach diesem Mißerfolg noch wütender, und schüttelte drohend die Faust. »Aiuto!«
Aber Somogyi hatte die Tür bereits hinter sich geschlossen. Nicht zuletzt,
weil sein geschultes Ohr in der Ausführung des jüngsten
Hilfeschreies eine gewisse Mattigkeit wahrgenommen zu haben glaubte. Er
näherte sich zögernden Schrittes, mit seinen pfaublauen Augen
unentwegt auf die gleißende Leibesfülle der Badenden glotzend.
- Walter Serner, Das ominöse Schild. In: W.S.: Der Pfiff um die Ecke. Zweiundzwanzig
Kriminalgeschichten. München 1982 (dtv 1741, zuerst 1925)
Tür (8)
- Aus: Tomi Ungerer, Der Sexmaniak. Zürich 1968 (Diogenes Tb.
6, zuerst 1964)
Tür (9) Dr. Johnson hatte noch eine
andere Schrulle, die sich keiner seiner Freunde zu erklären wußte; gefragt
hat man ihn natürlich nicht. Mir kam es als ein abergläubisches Beginnen
vor, das er sich früh angewöhnt hatte, ohne sich je klarzumachen, wie sinnlos
es war. Es handelte sich darum, daß er beim Ein- und Ausgehen Wert darauf
legte, von einem bestimmten Punkt aus bis zur Türe eine
bestimmte Anzahl Schritte zu machen, oder es wenigstens so einzurichten,
daß er entweder mit dem rechten oder mit dem linken Fuß
(ich bin nicht sicher, mit welchem) über die Schwelle
trat. Zu dieser Mutmaßung bin ich gelangt, nachdem ich ihn unzählige Male
plötzlich habe innehalten sehen, worauf er anscheinend in tiefstem Ernst
seine Schritte nachzählte; wenn irgend etwas mit seinem Zeremoniell nicht
stimmte, ging er jeweils zurück, stellte sich gehörig hin, um nochmals
von vorne anzufangen; er kam aus seiner Entrückung erst wieder zu sich,
wenn alles seine Richtigkeit hatte; alsdann schritt er tüchtig aus und
schloß sich seinem Begleiter wieder an. - (
johns
)
Tür (10) Wieder in der Küche, suchte er in seinen Taschen nach einem Zehncentstück, und als er eines gefunden hatte, setzte er damit die Kaffeemaschine in Betrieb. Während der für ihn sehr ungewöhnliche Geruch in seine Nase stieg, sah er erneut auf die Uhr. Inzwischen waren fünfzehn Minuten vergangen. Er ging also mit energischen Schritten auf die Wohnungstür zu, drehte den Griff und zog den Riegel zurück.
Die Tür ließ sich nicht öffnen. Stattdessen ertönte eine Stimme: »Fünf Cents, bitte.«
Chip durchwühlte abermals seine Taschen. Keine einzige Münze mehr, nichts. »Ich zahle morgen«, sagte er zu der Tür. Erneut drehte er am Griff, doch das Schloss blieb zu. »Was ich dir zahle, ist eigentlich ein Trinkgeld. Ich muss dich nicht bezahlen.«
»Das sehe ich anders«, erwiderte die Stimme. »Bitte werfen Sie einen Blick in den Kaufvertrag, den Sie unterschrieben haben, als Sie diese Wohnung erwarben.«
In einer Schreibtischschublade fand er den Vertrag; seit der Unterschrift hatte er ihn immer wieder konsultieren müssen. Ganz klar: Für Offnen und Schließen der Tür war eine Gebühr obligatorisch. Kein Trinkgeld.
»Sie sehen, dass ich Recht habe«, ließ die Stimme selbstgefällig verlauten.
Chip nahm ein rostfreies Messer aus der Ablage neben dem Waschbecken und begann das Schloss aus der Geld verschlingenden Wohnungstür herauszuschrauben.
»Ich werde Sie verklagen«, sagte die Stimme, als sich die erste Schraube löste.
»Ich bin noch nie von einer Tür verklagt worden«, antwortete Chip. »Aber
ich glaube, ich werde es überleben.«
-
(ubik)
Tür (11) Meine tastenden Finger trafen
auf eine kleine, kreisrunde Vertiefung, etwa so groß wie eine Scheidemünze.
Dem Uneingeweihten mußte es scheinen, als ob
dort ein Dübel in dem Mauerwerk steckengeblieben sei. Ich drückte auf die
runde Fläche, eine Feder gab mit unwilligem Kreischen ein wenig nach. Ich
drückte fester zu und zu gleicher Zeit sprang mit leisem Ächzen die Tür
auf, genau so, wie ich's im Traume gesehen hatte.
Trotzdem ich alles, was eingetreten war, erwartet hatte, packte mich doch
in dem Augenblick, da die Tür aufsprang, ein namenloses Grauen und ich
fühlte mich ganz unvorbereitet jählings in einen Strudel von Ungeheuerlichkeiten
hineingerissen, so daß ich zunächst keines klaren Gedankens fähig war.
Endlich hatte ich mich soweit in der Gewalt, daß ich es wagte, einen Blick
auf das zu werfen, was die geheime Tür seit Menschenaltern verborgen hatte.
Ein kleines, schmales Gelaß lag vor mir, etwa so lang und so hoch, daß
ein erwachsener Mensch darin aufrecht stehen oder ausgestreckt liegen konnte.
Am Boden des Raumes, aus dem mir ein schleichender, widerwärtiger Geruch
von Moder entgegenwehte, lag ein Bündel Frauenkleider. Als ich aber näher
zusah, da mußte ich mich halten, um nicht laut aufzuschreien vor Entsetzen,
denn was ich im ersten Augenblick für einen regellosen Haufen von Kleidungsstücken
gehalten hatte, das umschloß den Körper einer zur Mumie
eingetrockneten menschlichen Leiche. Meine Blicke
wurden förmlich hineingesogen in das Halbdunkel des Gelasses, bis sie alles
Schreckliche restlos in sich aufgenommen hatten. Der Oberkörper ruhte halb
an der Rückwand, halb lag er auf dem Boden, als sei er vor Ermattung in
sich zusammengesunken, das Hinterhaupt lehnte an der Rückwand, so daß sich
der Kopf der Toten auf die Brust geneigt hatte und mir das entstellte Mumienantlitz
mit den halbgeschlossenen Lidern, hinter denen die eingetrockneten, lichtlosen
Augäpfel ruhten, gerade entgegenstarrte. Blondes,
zerrauftes Haar fiel über den mit pergamentartiger, faltiger Haut überzogenen
Totenschädel. Hinter den wie zu einem letzten Schrei emporgezerrten Lippen
bleckten zwei Reihen Zähne. Die Beine, an denen die langen Strümpfe schlotterten,
ruhten wie eingeknickt unter dem Oberkörper, die entfleischten Hände aber,
die rechts und links in die eng aneinanderstehenden Seitenwände gekrallt
waren, erzählten von den Qualen des Todes, der sich dieser Frau in seiner
fürchterlichsten Gestalt genaht hatte. - Arno Hach, Das Schloß
an der Landstraße. In: Jenseits der Träume. Seltsame Geschichten vom Anfang
des Jahrhunderts. Hg. Robert N. Bloch. Fankfurt am Main 1990 (st 1595,
zuerst 1920)
Tür (12) Sie waren im besten Segeln
begriffen, als ein lautes Tosen ihnen schon von ferne ans Ohr schlug. Es
war das Krachen der immer zusammenstoßenden und immer wieder zurückprallenden
Symplegaden, der Widerhall der Ufer und das Zischen
des zusammengepreßten Meeres. Tiphys, der Steuermann, stellte sich wachsam
ans Steuerruder. Euphemos der Held erhob sich im Schiffe und hielt auf
der flachen Rechten eine Taube. Wenn diese, hatte Phineus ihnen geweissagt,
furchtlos zwischen den Felsen durchflöge, so dürften auch sie kecklich
die Durchfahrt wagen. Eben öffneten sich die Felsen: Euphemos ließ die
Taube fliegen; alle richteten ihre Häupter in Erwartung empor. Die Taube
flog mitten hindurch, aber schon näherten sich die Felsen wieder, das schäumende
Meer wallte zischend einer Wolke gleich auf; ein Brausen erfüllte Wasser
und Luft; jetzt stießen die Felsen zusammen und klemmten der Taube die
letzten Schwanzfedern ab, doch war sie glücklich hindurchgekommen. Mit
lauter Stimme ermunterte Tiphys die Ruderer, da aber öffneten sich die
Felsen wieder und die in den Zwischenraum strömende Flut zog das Schiff
mit sich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem Haupte: eine turmhohe
Woge wälzte sich ihnen entgegen, bei deren Anblick
alle die Köpfe bückten. Aber Tiphys hieß mit dem Rudern innehalten und
die schäumende Welle wälzte sich unschädlich unter dem Kiele hin und hob
das Schiff hoch über die zusammenschwimmenden Felsen empor. Die Helden
arbeiteten, daß die Ruder sich krümmten; jetzt riß der Strudel
das Schiff wieder mitten in die Felsen hinab. Schon stießen die Felsen
zu beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm die Schutzgöttin
Athene einen unsichtbaren Stoß, daß es glücklich durchkam und die zusammenschlagenden
Felsen nur eben noch die äußersten Bretter des Hinterteiles zermalmten.
- (
sage
)
Tür (13) Während seiner sich allmählich ins Traumhafte verlierenden Meditationen hielt er, ohne daß es ihm zum Bewußtsein gekommen wäre, seine Augen auf die Tür geheftet, die das Blaue mit dem «englischen» Zimmer verband.
Französische Türen schließen schlecht: zwischen besagter Verbindungstür und dem Fußboden klaffte ein mindestens zwei Zentimeter breiter Zwischenraum. In letzterem erschien jetzt,'kaum erhellt vom matten Schimmer des Parketts, etwas Schwärzliches, Flaches — etwas, was der Klinge eines Messers ähnelte, denn der vom Kerzenschein getroffene Rand verlief in einer schmalen, wie metallisch aufblitzenden Linie. Diese beunruhigende Materie kroch langsam auf ein blaues Seidenpantöffelchen zu, das vom Vorwitz seiner Inhaberin bis fast an die Tür geschleudert worden war. Oder war es vielleicht etwas Insektenartiges, am Ende gar Tausendfüßlerisches ?. . .
Nein, ein Insekt konnte es nicht sein: es hatte keine festbegrenzten Umrisse . .. Schon waren zwei oder drei dieser rotbraunen Streifen, jeder mit blinkendem Rande, in das Zimmer eingedrungen. Durch den etwas abschüssigen Verlauf des Bodens wurde das Näherkommen beschleunigt . . .
Das tückisch züngelnde, bösartig sich schlängelnde Verhängnis kam rascher
herangekrochen, und schon hatte es das Pantöffelchen gestreift. Jetzt konnte
kein Zweifel mehr sein: es war eine Flüssigkeit; und diese Flüssigkeit
— im Schimmer der Kerze erkannte man ihre Farbe ganz deutlich — war Blut!
Und während Leo, in starrem Entsetzen, die grausigen Spuren
betrachtete, schlief, an seiner Seite, die junge Frau ihren friedlichen
Schlaf weiter, und ihr regelmäßiger Atem wärmte
ihm Hals und Nacken. - Prosper Mérimée, Das Blaue Zimmer.
Zürich ca. 1960 (zuerst ca. 1850)
Tür (14) Da stand gegenüber, jenseits der Gasse, in der Finsternis eine alte graue Steinmauer, die ich immer gerne sah, sie stand immer so alt und unbekümmert da, zwischen einer kleinen Kirche und einem alten Hospital, auf ihrer rauhen Fläche ließ ich bei Tage oft meine Augen ausruhen, es gab wenige so stille, gute, schweigende Flächen in der Innern Stadt, wo ja sonst auf jedem halben Quadratmeter ein Geschäft, ein Advokat, ein Erfinder, ein Arzt, ein Barbier oder Hühneraugenheilkünstler einem seinen Namen entgegenschrie. Auch jetzt wieder sah ich die alte Mauer still in ihrem Frieden liegen, und doch war etwas an ihr verändert, ich sah ein kleines hübsches Portal mit einem Spitzbogen in der Mitte der Mauer und wurde irr, denn ich wußte wahrhaftig nicht mehr, ob dies Portal immer dagewesen oder neu hinzugekommen war. Alt sah es ohne Zweifel aus, uralt; vermutlich hatte die kleine geschlossene Pforte mit ihrer dunklen Holztür schon vor Jahrhunderten in irgendeinen verschlafenen Klosterhof geführt und tat es heute noch, wenn auch das Kloster nicht mehr stand, und wahrscheinlich hatte ich das Tor hundertmal gesehen und bloß nie beachtet, vielleicht war es frisch bemalt und fiel mir darum auf. Immerhin blieb ich stehen und blickte aufmerksam hinüber, ohne doch hinüber zu gehen, die Straße dazwischen war gar so bodenlos erweicht und naß; ich blieb auf dem Trottoir und ^haute bloß hinüber, es war alles schon sehr nächtig, und mir schien, um die Pforte sei ein Kranz oder sonst etwas Buntes geflochten. Und jetzt, wo ich mir Mühe gab, genauer zu sehen, sah ich über dem Portal ein helles Schild, auf dem stand, so schien mir, irgend etwas geschrieben. Ich strengte die Augen an, und schließlich ging ich trotz Schmutz und Pfützen hinüber. Da sah ich über dem Portal auf dem alten Graugrün der Mauer einen Fleck matt beschienen, und über den Fleck liefen bewegliche bunte Buchstaben und verschwanden alsbald wieder, kamen wieder und verflogen. Nun haben sie, dachte ich, richtig auch diese alte gute Mauer zu einer Lichtreklame mißbraucht! Indessen entzifferte ich einige der flüchtig erscheinenden Worte, sie waren schwer zu lesen und mußten halb erraten werden, die Buchstaben kamen mit ungleichen Zwischenräumen, so blaß und hinfällig, und erloschen so rasch. Der Mann, der damit sein Geschäft machen wollte, war nicht tüchtig, er war ein Steppenwolf, armer Kerl; warum ließ er seine Buchstaben hier auf dieser Mauer im finstersten Gäßchen der Altstadt spielen, zu dieser Tageszeit, bei Regenwetter, wo niemand hier unterwegs war, und warum waren sie so flüchtig, so hingeweht, so launisch und unleserlich? Aber halt, jetzt gelang es mir, hintereinander konnte ich mehrere Worte erhaschen, die hießen:
MAGISCHES THEATER
EINTRITT NICHT FÜR JEDERMANN - NICHT FÜR JEDERMANN
Ich versuchte die Pforte zu öffnen, die schwere alte Klinke bewegte
sich auf keinen Druck. - Hermann Hesse, Der Steppenwolf. München
1963 (dtv 147, zuerst 1927)
Tür (15)
Aufschrift des großen Tors zu Thelem Hie kommt nicht her ihr Gleisner und Zeloten,
Hie komm nicht her Hai-Schlund und Praktikant, Hie kommt nicht her Filz, Lollhart, Wucher-Pack Hie kommt auch nicht ihr tollen Köder her |
- (
rab
)
Tür (16) Die Geisterwelt erscheint wie ein
Tal zwischen Bergen und Felsen, das da und dort sich einsenkt und ansteigt.
Die Tore und Pforten zu den himmlischen Gesellschaften sind nur sichtbar
für die, welche zum Himmel zubereitet sin d und werden von anderen nicht
gefunden; zu jeder Gesellschaft führt aus der Geisterwelt ein Eingang,
und hinter diesem ein Weg, der aber beim Hinansteigen sich in mehrere teilt;
die Tore und Eingänge zu den Höllen erscheinen auch nur denen, die hineingehen
sollen und denen sie alsdann geöffnet werden; wenn sie geöffnet sind, so
erscheinen finstere, wie mit Ruß überzogene Höhlen, die sich schief abw
ärts in die Tiefe ziehen, wo wieder mehrere Eingänge sind; durch jene Höhlen
dünsten garstige Dämpfe und ekelhafte Gerüche hervor, welche die guten
Geister fliehen, weil sie ihnen ein Abscheu sind, während die bösen Geister
sie begierig aufsuchen, weil sie ihnen behagen; de nn wie jeder in der
Welt sich an seinem Bösen ergötzte, so ergötzt er sich nach dem Tod an
dem üblen Geruch, dem sein Böses entspricht; sie können hierin den Raubvögeln
und reißenden Tieren, z.B. den Raben, Wölfen, Schweinen verglichen werden,
die, wenn sie den Qualm davon wittern, auf das Aas
und den Mist zufliegen und zulaufen; ich hörte einen wie von inwendigem
Schmerz laut aufschreien, als ihn der dem Himmel entströmende Hauch berührte,
dagegen aber [sah ich ihn] ruhig und vergnügt, als ihn der aus der Hölle
ausströmende Dunst traf. - Himmel und Hölle. Beschrieben nach
Gehörtem und Gesehenem von Emanuel Swedenborg
Tür (17) Das Schloß hatte unzählige Türen, aber
alle waren geschlossen. Es gelang Yvon, durch ein Kellerloch in den Keller hineinzukriechen
Von dort stieg er dann hinauf und befand sich in einein großen, herrlichen,
lichtdurchfluteten Saal. Sechs Türen befanden sich dann, und sobald er sie berührte,
öffneten sie sich von selbst. Aus diesem ersten Saal gelangte er in einen zweiten,
der noch schöner war als der erste. Drei weitere Türen führten hintereinander
in drei Säle, einer immer schöner als der andere. In dem letzten Saal sah er
seine Schwester; sie lag auf einem schönen Bett und schlief. Er betrachtete
sie eine Weile, starr vor Bewunderung, so schön fand er sie. Sie aber w achte
nicht auf, und es wurde Abend. Da hörte er etwas wie ein Geräusch von Schritten,
die näherkamen, und bei jedem Schritt läuteten Schellen. Dann trat ein schöner
Jüngling herein, der ging direkt auf das Bett zu, auf dem Yvonne schlafend lag,
und gab ihr drei schallende Ohrfeigen.. Und doch
wachte sie nicht auf und rührte sich nicht. Da legte sich der schone Jungling
neben sie aufs Bett. Jetzt war Yvon sehr verlegen und
wußte nicht, ob er gehen oder bleiben sollte. Er beschloß, zu bleiben, denn
ihm schien, daß dieser Mann seine Schwester sehr merkwürdig behandelte. Der
junge Ehemann schlief neben seiner Frau ein. Noch etwas verwunderte Yvon, er
vernahm nicht das leiseste Geräusch im Schloß, und ihm schien, als wurde dort
nicht gegessen. Er selbst war mit großem Appetit angekommen, aber jetzt spürte
er nichts mehr davon. - (
bret
)
Tür (18) Die Tür hat früher als Teil für das Ganze das Haus vertreten, so wie das Haus, das man besaß, und das Haus, das man machte, die Stellung des Besitzers zeigen sollten. Die Tür war ein Eingang zu einer Gesellschaft von Bevorzugten, die sich dem Ankömmling, je nachdem, wer er war, öffnete oder verschloß, was gewöhnlich schon sein Schicksal entschied. Ebensogut eignete sie sich aber auch für den kleinen Mann, der außen nidit viel zu bestellen hatte, jedoch hinter seiner Tür sofort den Gottvaterbart umhängte. Sie war darum allgemein beliebt und erfüllte eine lebendige Aufgabe im allgemeinen Denken. Die vornehmen Leute öffneten oder verschlossen ihre Türen, und der Bürger konnte mit ihnen außerdem ins Haus fallen. Er konnte sie auch offen einrennen. Er konnte zwischen Tür und Angel seine Geschäfte erledigen. Konnte vor seiner oder einer fremden Tür kehren. Er konnte jemand die Tür vor der Nase zuschlagen, konnte ihm die Tür weisen, ja, er konnte ihn sogar bei der Tür hinauswerfen: das war eine Fülle von Beziehungen zum Leben, und sie zeigen jene treffliche Mischung von Realistik und Symbolik, welche die Sprache nur aufbringt, wenn uns etwas sehr wichtig ist.
Diese großen Zeiten der Türen sind vorbei! Es ist sehr empfindungsvoll, jemand
zuzurufen, daß man ihn zur Türe hinauswerfen werde, aber wer hat je wirklich
einen hinaus«fliegen» gesehen? "Wenn es selbst manchmal versucht wird,
so hat der Vorgang doch selten mehr die großartige Einseitigkeit, die seinen
Reiz ausmacht, denn die Kompetenzen und Kräfte sind heute verworren. Man schlägt
auch niemand mehr die Tür vor der Nase zu, sondern nimmt schon die telephonische
Anmeldung seines Besuches nicht entgegen; und vor seiner eigenen Tür zu kehren,
ist eine unverständliche Zumutung geworden. Das sind längst undurchführbare
Redensarten, sind nur noch freundliche Einbildungen, die uns mit Wehmut besdileichen,
wenn wir alte Tore betrachten. Dunkelnde Geschichte um ein
Loch, das die Gegenwart vorläufig noch für den Zimmermann offen gelassen
hat. - (
nach
)
Tür (19) Ich biege in eine Nebenstraße ein. Es geht bergab — nicht steil, aber doch merklich; man verlegt immerhin ein wenig sein Gewicht. Die Straße wird enger und plötzlich auch dunkler, wie beschattet von einer großen Hand oder von Wolken — nein, es kommt mir vor, als sei da auf einmal eine Hochbahn hinter mir; es saust und dröhnt auch — natürlich, das macht die Straße so dunkel. Wie beim Gleisdreieck, denke ich im Weitergehen.
Aber wie ich zurücksehe — da war nämlich eine Uhr —, ist keine Hochbahn da. Die Häuser, alle ohne Balkons, stehen ein wenig schief. Merkwürdig. Ich meine, Himmel sieht man nicht — weder Mond noch Sterne, gar nichts —, vielleicht sind die Häuser auch besonders hoch... Na gut. Das Licht ist kalt, weiß mit Preußisch-Blau. Ausgesprochen kalte Töne sind das, ein wenig ins Grünliche spiegelnd. Übrigens muß es hier geregnet haben, vielleicht wurde auch einmal gesprengt; es fühlt sich glitschig an unter den Füßen. Man rutscht ein bißchen. Ist es Leim ? Vielleicht eine Leimfabrik und deren Abwässer. Es klebt ja sogar, man bekommt kaum die Füße hoch — unerhört, daß so etwas von der Obrigkeit geduldet wird!
Im Vorbeigehen sehe ich links in ein Fenster zu ebener Erde. In dem gelblich beleuchteten Viereck erkenne ich eine Art Frauenkörper. Das Hemd ist weiß und ganz unmodern mit blauen Bändchen durchzogen — klar erkennen kann ich es nicht. Es ist ein Bild ohne Schärfen, ohne Konturen, wie ein willkürlich verwischtes Ölbild. Ja, da hat jemand achtlos, ohne es zu wissen, seinen Anzug daran abgewischt. Vielleicht war der Maler auch unzufrieden mit seinem Ölbilde. Ich verweile aber nicht länger...
Herrgott, klebt der Leim an meinen Schuhen! Ich muß mich ja anstrengen, richtig mit Kraft ziehen, um die Füße zu setzen... Na, da ist ja endlich die Türe. Eine der Türen, will ich sagen, denn es gibt hier mehrere. Ich zähle ein ganzes Dutzend, und da hinten geht's immer noch weiter. Die Straße freilich stoppt hier, sie endet in Türen. Aber es sind Gott sei Dank keine Haustüren, gewöhnliche Zimmertüren sind das — also die sind ja sowieso offen. Schlüssel habe ich nämlich nicht. Wer sollte mir auch Schlüssel gegeben haben? Ganz abgesehen davon, daß ich hier niemand kenne und, außer jener völlig verwischten Frau gegenüber, auch niemand da ist, den ich eventuell um Schlüssel bitten könnte.
Ich will mich ja hier auch nicht zu aufdringlich benehmen. Ich bin also noch auf der Straße; da ist ja der Rinnstein... Ich drücke die Klinke herunter und bin in einer Art Passage zwischen großen Schaufensterscheiben. Hier müssen sicherlich mal Kaufläden gewesen sein. In einem der Schaufenster, das heißt dahinter, liegt eine alte Frau im Bett und strickt an einem ungeheuren Strumpf. Ihr Sohn, oder gar ihr Mann, das muß ein Riese sein — acht bis zehn Meter groß. Womöglich arbeitet er im Zirkus. Aber der dicke Wollstrumpf (aus Hasenwolle) fällt unten, wo sowieso alles ins Halbdunkel übergeht und unerkennbar wird, wieder auseinander. Die eben gestrickten Maschen lösen sich — von selbst, denn wer sollte sie sonst auflösen ? — lösen sich von selbst auf und steigen durchsichtig hoch, wie Blasen im Wasser...
Ich sehe min auch, daß das Zimmer, wenn man das Schaufenster überhaupt so nennen kann, feucht zu sein scheint. An der Schaufensterscheibe tropft Wasser, wie bei einer beschlagenen Brille. Das Bett der alten, ehrwürdigen Frau nimmt den ganzen Raum ein. Es ist einfach riesig. Vielleicht schläft der Riese darin, für den sie den enormen Hasenwollstrumpf strickt... Schimmel ist an der Wand, das kann man wohl sagen. Jetzt sehe ich auch, daß sogar die Bettlaken verschimmelt sind — denn die Flecken da können nichts anderes sein, grünliche und bräunliche Flecken sind es — natürlich, da tropft es ja auch von der Decke in einen alten, verbeulten Emailtopf, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Wie ungesund die hier wohnen! Es können ja auch arme Leute sein, denke ich, die an so etwas gewöhnt sind. ..
Die alte Dame hat mich bis jetzt komischerweise nicht bemerkt. Ich gehe also lieber gleich weiter. Aber ich finde auf einmal die Tür nicht mehr, durch die ich hereingekommen bin. Das kommt davon, wenn man nicht aufpaßt, denke ich; also gehe ich mal einfach da lang, sozusagen der Nase nach.. . Hätte ich mich vielleicht doch noch einmal umsehen sollen ? Ach, Quatsch. Wozu denn? Diese Türe führt zum Gang. Ich lese ein Schild:
Curt Hodapp, Bürstenmacher. Kommt mir mächtig bekannt vor. War ja ein Mitschüler von mir an der Oberrealschule! Aber daß der ausgerechnet hier wohnt. ..
Die Tür führt in einen dunklen Gang. Also beileibe nicht stehenbleiben, sage
ich mir, ganz ruhig weltergehen... Habe ich denn die richtige Tür aufgemacht
? Jetzt ist keine Zeit mehr für weitere Überlegungen, aber daß ich die Türen
vorher nicht so genau bemerkt habe — da sieht man doch, wie schlecht unsereiner
beobachtet. Die Straße muß tiefer liegen als gewöhnliche Straßen; alles ist
so ein bißchen kellerartig. Aber ganz tief liegt sie auch wieder nicht, denn
unter mir müssen noch andere leere Räume sein; es klingt so eigentümlich hohl
beim Auftreten. In diesem schlauchartigen Durchgang schimmert ganz hinten etwas
Licht — da geht es ins Freie, denke ich, da geht's raus. - George Grosz, Ein kleines Ja und ein
großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst
1955
Tür (20) Ich nahm meine Hündin
Barbette mit und machte meine ganze Reise, den Hin-
wie den Rückweg, nachts, auf der Plattform des Eisenbahnwagens
stehend, weil ich meine Ruhe haben wollte. In Pornic traf ich zwischen 6 und
7 Uhr früh ein. Die rue de la Source bis zu dem Landhaus. Die Haustür
nicht verschlossen. Ich ging hinein, fand sie auf ihrem Bett,
nackt, ganz Bereitschaft.
(Manchmal brachte sie es auch über sich, aufzustehen und mir entgegenzugehen,
und unsere ersten Worte waren: «Wie geht es denn dem...?») Dort fing es an.
Tagsüber kleine Plänkeleien. Ernsthaft dann abends, gegen Mitternacht auf dem
Boden, wo ich schlief; an das Fußende des Bettes hatte sie einen Ankleidespiegel
gestellt, und darin betrachtete sie verzückt das Paar,
das wir abgaben. - (
leau
)
Tür (20)
Tür (21) Er schloß die Tür auf und öffnete sie. Gerade als er eintreten wollte, hörte er einen entfernten Schrei. Und darauf ein Löwengebrüll, das jedoch rasch verstummte.
Er trat ein und war in Afrika. Wie oft hatte er im vergangenen Jahr die Tür geöffnet und sich im Wunderland befunden, mit Alice und der falschen Schildkröte, oder hatte Aladin mit seiner Wunderlampe gesehen, oder Jack Pumpkinhead aus Oz, oder Doktor Doolittle, oder die Kuh, die über einen äußerst echt aussehenden Mond sprang — all die köstlichen Erfindungen einer Scheinwelt. Wie oft hatte er Pegasus durch den Himmel an der Decke fliegen sehen, oder bunte Feuerwerksfontänen, oder Engelsstimmen singen hören. Aber jetzt, dieses gelblodernde Afrika, dieser Backofen mit Mord unter der sengenden Sonne! Vielleicht hatte Lydia recht. Vielleicht benötigten sie einen kleinen Urlaub von ihrer Phantasie, die für zehnjährige Kinder ein wenig zu wirklichkeitsnah zu werden begann. Es war in Ordnung, daß sie ihren Geist mit Phantasiegymnastik übten; aber wenn der lebhafte kindliche Geist sich auf eine Schablone festlegte ...? Es schien ihm, als hätte er schon seit einem Monat von ferne Löwengebrüll gehört und den strengen Raubtiergeruch bis in sein Arbeitszimmer hinein wahrgenommen. Doch da er sehr beschäftigt gewesen war, hatte er sich nicht weiter darum gekümmert.
George Hadley stand allein inmitten einer afrikanischen Steppe. Die Löwen blickten von ihrem Fraß auf und beobachteten ihn. Der einzige Bruch in der vollkommenen Illusion war die offene Tür, durch die er seine Frau sehen konnte, die weit hinter dem dunklen Korridor, wie ein gerahmtes Bild, geistesabwesend in ihrem Abendessen herumstocherte.
»Verschwindet«, sagte er zu den Löwen.
Sie verschwanden nicht. - Ray Bradbury, Der illustrierte
Mann. München 1972 (Heyne 3057)
Tür (22)
-
Dalí / Buñuel, Ein andalusischer Hund
(1929)
Tür (23)
- Boris Karloff
Tür (24)
Babe mochte Sue. Vassos mochte Sue. Sue mochte Babe. Vassos mochte das gar
nicht. Die Eifersucht verleitete den Griechen zu einer unüberlegten Handlung.
Als Babe eines Abends Einlaß begehrte, machte er ihm nicht auf. Babe kam trotzdem
herein ... - Aus: Hans Hillmann. Fliegenpapier. Nach Dashiell
Hammetts Kriminalgeschichte
Flypaper. Frankfurt am Main
1990
Tür (25) Am Morgen des 14. klopft Charlotte Dufrène, als sie kein Geräusch hört, an die gemeinsame Tür der beiden Zimmer. Da sie keinerlei Antwort erhält, ruft sie einen Etagenkellner. Der geht durch die Flurtür hinein, die nicht abgeschlossen war. Charlotte Dufrène und der Kellner erblicken Roussel ausgestreckt auf einer Matratze, die er bis zur Verbindungstür geschoben oder geschleift hat (was bei seinem Schwächezustand eine übermenschliche Anstrengung bedeutete). Sein Gesicht ist ruhig, entspannt und dieser Verbindungstür zugekehrt. Für die Überführung von Palermo mußte der Leichnam einbalsamiert werden.
In der Bühnenbearbeitung des Romans »Locus Solus« ist einer der Höhepunkte
des Schauspiels das »Ballet de la Gloire«: Selbstmord des unverstandenen Dichters,
den man anschließend in die Unsterblichkeit eingehen sieht — eine Unsterblichkeit,
die natürlich keineswegs die der jenseitigen Welt ist, sondern die rein bürgerliche
Unsterblichkeit der Welt der Statuen, der Denkmäler und der Straßennamen. Man
kann nicht umhin zu betonen, daß Roussel daran gelegen war, an einer Verbindungstür
zu sterben — der Tür, die in das Zimmer seiner Freundin und Vertrauten führte
(es sei denn, er habe vor dem Entzug im Übermaß die Euphorie
gewollt, welche die Schlafmittel ihm gaben). Welches auch sein unmittelbarer
Antrieb und welches auch der Grund gewesen sein mag, weshalb er sich die Wahl
einer solchen Stellung auferlegt hatte — wollte er ganz nahe an dieser Tür sein,
oder wollte er sie versperren? —, er ist aus eigenen Stücken auf der Schwelle
zu eben der Verbindung gestorben, die er, zumindest zu seinen Lebzeiten,
als unmöglich erkannt hatte, und mit den Augen auf die Stelle gerichtet, wo
sich (wie es scheint) die einzige Person befand, die ein wenig, aber ein wenig
nur, an seinem Innersten teilgehabt hat. - Michel Leiris, Konzeption
und Realität bei Raymond Roussel. In: R.R. Eine Dokumentation. Hg. Hanns Grössel.
München 1977
Tür (26) Wir schliefen nicht, aber wir lagen in der hingebungsvollen Ruhe da, wie sie auf die genossene Lust zu folgen pflegt, da hörten wir plötzlich, wie die Tür zum Zimmer aufging. Augenblicks sprang ich mit einem Satz zu meinem Degen, sowohl zu meiner eigenen Verteidigung als auch, um unser gemeinsames Mündel zu schützen. Ich trat näher, sah jedoch niemanden. Aber die Tür stand tatsächlich offen. Da wir Licht hatten, ging ich auf die Suche, fand jedoch keine lebende Seele. Da fiel mir wieder ein, daß wir ja unsere gewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen vergessen hatten. Zweifellos war die Tür nur angelehnt oder schlecht verschlossen gewesen und nun von selber aufgegangen.
Als ich wieder zu meinem verängstigten Liebchen ins Bett steigen und sie
beruhigen wollte, fand ich sie nicht mehr vor. Sie war zwischen Bett und Wand
hinuntergefallen oder hatte sich dort in Sicherheit gebracht. Kurzum, sie lag
bewußtlos dort, regungslos, nur von wilden Zuckungen geschüttelt. Stellen Sie
sich meine Verlegenheit vor! - Choderlos de Laclos, Gefährliche
Liebschaften
Tür (27)
- (
rom
)
Tür (28) Er stand vor einer
großen Tür, die ein Drachen und furchterregende Harpyien bewachten. Weder vermochte
er die Tür zu öffnen, noch antwortete jemand auf seinen Ruf, und so beschloß
er zu warten. Der Schlaf übermannte ihn. Als er gegen Abend erwachte, sah er
ein blinkendes Licht, das näherkam, riesig, anwuchs und ihn schließlich blendete:
es war ein hochgewachsener, strahlender Mensch. Der sagte ihm, dies sei die
Tür des Sonnenuntergangs und dahinter läge das Reich der Toten. Der Sterbliche,
der sie durchschritte, könne nicht zurückkehren. »Wie kannst du dann durch sie
hindurchgehen?« »Ich bin die Sonne«, antwortete der Gott und trat ein.
- Hethitische erzählung aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus, nach (
bo4
)
Tür (29) Könige fassen Türen nicht an.
Sie kennen dies Glück nicht: sanft oder heftig eine dieser vertrauten Füllungen vor sich her zu schieben, dann sich umzudrehen nach ihr, um sie wieder zurechtzurücken, — eine Tür in den Armen zu halten.
Das Glück, eins dieser hohen Hindernisse eines Zimmers bei seinem Porzellanknopf am Bauch zu packen; dies unverhoffte Leib-an-Leib, wenn der Schritt einen Takt verhält, das Auge sich öffnet und der ganze Körper sich an seine neue Behausung gewöhnt.
Mit freundlicher Hand hält er sie noch, bevor er sie endgültig verstößt und
sich einschließt, — was ihm das kräftige, doch gut geölte Einschnappen der Feder
auf angenehme Weise versichert. - Francis Ponge, Im Namen der Dinge. Frankfurt am Main 1973
(BS 336, zuerst 1942)
Tür (30)
-
Ralph
Gibson
1970
Tür (31) Es war ihm, als kröche faulige
Feuchtigkeit unter der Tür hervor. Ein Zittern überlief ihn. Dann schlug auch
noch eine Uhr zwölfmal. Die Schläge ließen ihn förmlich schlottern. Und vollends
sank ihm das Herz in die Hosen, als er hörte, wie im Türschloß ganz leise der
Sicherheitsschlüssel herumgedreht wurde. Rimskis feuchtkalte Hände krallten
sich um die Aktentasche; er spürte, daß er, wenn das Kratzen im Schlüsselloch
noch etwas länger dauerte, es nicht aushaken und gellend aufkreischen
würde. - (
meist
)
Tür (32) Klopft an, einmal, zweymal,
dreymal. Dann werdet ihr eine Stimme hören, die euch zurufen wird: Wer klopft
an die Thür dieser Schatzkammer? Dann antwortet: Ich bin es, Dschuder der Fischer,
der sie öffnen soll. Hierauf wird der Thürhüter herauskommen und sagen: Streckt
euren Hals aus, damit ich mit dem Degen einen Streich darnach führe, um zu sehen,
ob ihr wirklich Dschuder seyd. — Diesem Befehl des Pförtners müßt ihr Folge
leisten. Ihr streckt euren Hals aus, und es wird euch nichts zu Leide geschehn;
aber wenn ihr euch fürchtet und euch weigert, den Hals auszustrecken, so wird
er euch unfehlbar tödten. Wenn ihr auf diese Weise diesen Zauber zerstört habt,
so werdet ihr an der zweyten Thür einen Reuter mit eingelegter Lanze finden.
Zeigt ihm nur muthig die Brust, und ihr werdet sogleich das Phantom verschwinden
sehen, und ohne die geringste Schwierigkeit durch die Thür hindurchgehn. Aber
wenn ihr euch weigern solltet, euch von seiner Lanze durchbohren zu lassen,
so würde er euch ohne alle Umstände zuverlässig tödten. An der dritten Thür
würde es euch gerade so gehen, wenn ihr den Pfeilen ausweichen wolltet, die
der Thürhüter auf euch abschießen wird. Wenn ihr an der vierten Thür anklopft,
so werden sieben Ungeheuer herauskommen, die euch zu verschlingen drohen werden.
Fliehet nicht vor ihnen, sondern reicht ihnen die Hand, und sie werden alsbald
verschwinden. An der fünften Thür werdet ihr einen schwarzen
Sklaven finden, der zu euch sagen wird, wenn du Dschuder bist, so öffne die
sechste Pforte, und diese wird sich dir von selbst aufthun, sobald als du die
Namen Moses und Jesus aussprichst. Zwey Drachen, der eine rechts, der andre
links, werden sich dir dann in den Weg stellen, und ihre ungeheuern Rachen
öffnen, aber wenn du geradezu über sie hinschreitest, wirst du an das siebente
Thor kommen. Hier wirst du deine Mutter herauskommen sehn, die zu dir sagen
wird: Willkommen! mein Sohn! Komm! laß dich umarmen! Aber du mußt
zu ihr sagen: Hebe dich weg von mir, oder ich tödte dich; dann nimm den Degen,
mit dem du an deiner rechten Seite umgürtet seyn wirst, und drohe, sie auf der
Stelle zu tödten, wenn sie nicht alle Kleider auszieht. Dann kannst
du endlich in die eigentliche Schatzkammer hineintreten, wo du den Magier Schamardal
auf einem goldenen Thron sitzen sehen wirst, mit einer Strahlenkrone auf dem
Haupte, mit dem Degen, von dem ich schon gesprochen habe, in der Hand,
und den Ring mit dem magischen Siegel am Finger. Die Schachtel von Kohol mit
der Augentinktur hängt vor ihm an einer goldnen Kette. Ihr bemächtigt
euch dieser Dinge ohne Mühe, und kehrt dann glücklich zu mir zurück. -
(
101
)
Tür (33) Ich spürte eine ziehende Angst; ich ging trotzdem nieder; die Schuhe kreisten. — Der Hof war mit feinem Sand bestreut, doch ich sah, da ich zögernd der Mauer zuschritt, nur meine Fußspur, nicht die der Nonnen. — In der Mauer der Umriß einer Tür. - Ich entschloß mich hindurchzugehen, da fuhren plötzlich die Schuhe nieder, schwarze, stumm heulende Geschosse; sie versuchten, mich von der Tür wegzutreiben, sie versuchten, mich ins Gesicht zu treffen; ich duckte mich, sie fuhren vorüber, und nun trat ich hastig durch die Tür.
Hinter der Mauer ein leeres Gemach, fensterlos, lampenlos, grell ausgeleuchtet,
weiße Wände, weißes Parkett. Ich wartete, ich wagte nicht weiterzugehen, ich
wartete und starrte die Wand an, und in der Wand trat eine Gestalt hervor, zuerst
kaum sichtbare Konturen, eine schmale, schlanke Gestalt; ich spürte eine jähe
Erregung, und plötzlich hing vor der Wand ein Mantel, schwarz, bis hinab zum
Boden reichend, schmal, ohne Taille, hochgeschlossen, und über dem Mantel die
leere Fläche eines weißgekalkten Gesichts; und der Mantel begann sich zu bewegen,
und ich dachte entsetzt, schnell aufzuwachen, bevor
das Gräßliche geschah. - Franz Fühmann, Der Traum von der Nonne. In: F.F.,
Der Mund des Propheten. Späte Erzählungen. Berlin 1991
Tür (34) In ihrem sechsten Lebensjahr führt sie ein Traum in der Nacht hinter den hohen Spiegel, der in einem Rahmen aus Mahagoniholz an der Wand ihres Zimmers hängt. Dieser Spiegel wird zu einer offenen Türe, die sie durchschreitet, um in eine lange Pappel-Allee zu gelangen, die in gerader Perspektive zu einem kleinen Haus hin führt. Die Türe zu diesem Haus ist geöffnet. Sie geht hinein und befindet sich vor einer Treppe, die sie hinaufgeht. Sie begegnet keinem Menschen. Sie steht vor einem Tisch. Auf diesem Tisch liegt eine kleine, weiße Karte. Als sie diese Karte in die Hand nimmt, um den Namen darauf zu lesen, erwacht sie. Der Eindruck dieses Traumes ist so stark, daß sie aufsteht, um den Spiegel zur Seite zu schieben. Sie findet die Wand und keine Türe.
Von einer unerklärlichen Einsamkeit erfüllt, geht sie an diesem Morgen in das Zimmer ihrer Mutter, um - wenn es möglich wäre, in diesem Bett dahin zurückzugelangen, woher sie gekommen ist, um nichts mehr zu sehen.
Da wälzt sich ein Berg von lauem Fleisch, der den unreinen Geist dieser Frau
einschließt, über das entsetzte Kind, und sie flieht für immer die Mutter, die
Frau, die Spinne! - Unica Zürn, Der Mann im Jasmin.
Frankfurt am Main - Berlin 1977
Tür (34)en sind Mauerlöcher zum Ein- und Ausgehen. Man geht aus, um die Welt
zu erfahren, und verliert sich dort drinnen, und man kehrt heim, um sich
wiederzufinden, und verliert dabei die Welt, die man erobern wollte.
Dieses Türpendeln nennt Hegel das "unglückliche Bewußtsein". Außerdem
kann geschehen, daß man bei der Heimkehr die Türe geschlossen findet.
Zwar hat man einen Schlüsselbund in der Tasche (man kann den Geheimcode
entschlüsseln), aber der Geheimcode kann sich in der Zwischenzeit
umcodiert haben. Heimtücke ist für Heim und Heimat charakteristisch.
Dann bleibt man obdachlos im Regen unter der Traufe. Türen sind weder
glückliche noch verläßliche Instrumente. -
Vilém Flusser
Tür (35) Die Tür öffnete sich nicht.
Sie hatte etwas unbarmherzig Endgültiges an sich, als würde sie ab jetzt für
alle Zeiten so verschlossen bleiben. Als könnte nichts in der Welt sie je wieder
öffnen. Türen können etwas ausdrücken. Wie diese. Sie war starr, leblos. Sie
führte nirgendwohin. Sie war nicht der Anfang von irgend etwas, so wie es sich
für eine Tür gehört. Sie war das Ende von etwas. -
Cornell Woolrich, Ich heiratete einen Toten. Zürich 1989 (zuerst 1948)
Tür (35) Zwei Treppenhäuser
gestatten es, mehr oder weniger tief in die Passage
hineinzugehen. Alles ist dazu angetan, eine etwaige Flucht
zu erleichtern oder einem oberflächlichen Beobachter Zusammenkünfte zu
vertuschen, die hinter dem einstigen Himmelblau der Tapeten in der Ausstattung
eines alltäglichen Raumes ein großes Geheimnis nicht ruchbar werden lassen.
Man hat sich ausgedacht, im ersten Stock auf der entferntesten Treppe eine
Tür anzubringen, die es im gegebenen Fall erlaubt, diesen so ferngelegenen
Ausgang zu schließen, obgleich sie nur an Pfosten
hängt und man lediglich über das Treppengeländer zu steigen braucht, um
sie zu umgehen. Diese matte Drohung läßt den, der darüber nachdenkt, in
Vermutungen ergehen, die etwas Berauschendes haben. Man fragt sich nach
dem Sinn dieser Tür, deren Vorhandensein an die gemeinsten Unternehmungen
der Polizei gemahnt und an Verfolgungen bis in die Liebesnester jener sentimentalen
Mörder, die die Schwäche des Fleisches ausgeliefert hat und die man frühmorgens
in solchen Labyrinthen der Wollust, in denen sie sich verbergen, umzingelt
und in die Enge treibt, während diese verruchten Helden, die Hand auf dem
wild schlagenden Herzen, in gespannter Erwartung auf Zehenspitzen hinter
den Türen noch die unbewußten Seufzer der Lust der anderen vernehmen. Dann
und wann geht auf den Gängen das Licht an, doch bevorzugen sie das Zwielicht.
Spaltbreit öffnet sich eine Tür und man erblickt einen Morgenrock oder
hört ein Chanson. Dann ist ein Glück zu Ende, Finger entflechten sich und
ein Überzieher schreitet hinab in den anonymen
Tag, in das Land der Ehrbarkeit. -
(ara)
Tür (36) Eines Sonntags wachte ich wie üblich an diesem Tag sehr spat auf. Es muß gegen halb eins gewesen sein. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich zu erleichtern, stand auf und ging hinunter in das Badezimmer im ersten Stock. Nachdem ich mich etwa eine Viertelstunde auf der Toilette aufgehalten hatte, sprach ich kurz mit meinem Vater, was er nachträglich bestätigte. (Dies schließt die Möglichkeit aus, daß ich vielleicht träumte, ins Badezimmer hinuntergegangen zu sein - ich war also wach, hellwach.) Ich ging wieder in mein Zimmer hinauf und sah, kaum hatte ich die Tür geöffnet, vor dem Fenster halb mir zugewandt eine ziemlich großgewachsene Frau sitzen, die eine Art Nachthemd trug. Trotz der »absoluten Realität« und normalen Körperlichkeit dieses Wesens erkannte ich sofort, daß ich Opfer einer Halluzination war, und war wider alles Erwarten beeindruckt. Ich sagte mir: »Geh wieder ins Bett, so daß du dies erstaunliche Phänomen in aller Ruhe betrachten kannst.« Ich ging wieder ins Bett, legte mich aber nicht nieder. In dem Augenblick jedoch, als ich die Erscheinung aus den Augen ließ, um mir meine beiden Kissen in den Rücken zu stopfen, verschwand sie. Ich sah sie nicht allmählich entschwinden, sondern als ich wieder in ihre Richtung blickte, war sie einfach verschwunden.
Aufgrund der unbestreitbaren Tatsache dieser Erscheinung erwartete ich, daß
andere möglicherweise folgen würden. Obwohl sie sich niemals wiederholt hat,
mache ich mich seither jedesmal, wenn ich eine Tür öffne, darauf gefaßt, daß
ich etwas sehen könnte, das nicht normal ist. - (dali)
Tür (37)
Tür (38)
- N.N.
Tür (39) Es ist durchaus möglich, dass wir
jetzt durch eine dunkle Türöffnung treten, die auf der anderen
Seite keinen Boden hat, und auf den Bauch fallen. (Mitglied des Stadtrats
von Honolulu, zitiert vom Pressecorps) - Nach: Colin Dexter, Und kurz ist unser Leben. Reinbek
bei Hamburg 2000
Tür (40) Warum wurde jene Tür nicht ein
für allemal geschlossen? Schwingt sie vielleicht deshalb noch hin und her, weil
sie die einzige Tür ist, die von einer schlaffen, altersschwachen und abgezehrten
Hand im Stich gelassen wurde, und weil sich gerade deshalb hinter dieser ahnungslosen
Tür ein trübes und trostloses Geheimnis verbirgt,
ein beweinens-wertes, mitleiderregendes und nunmehr nur noch vergeblicher Hilfe
würdiges Ding? Und ihr werdet den bestürzten Schlägen eures Herzens lauschen,
denn die nicht mehr makellose Stille flüstert
euch etwas zu, worin Entsetzen und Hoffnung
sich vermischen -der Schrecken vor dem Geschehen und der Wunsch, in dem Geschehen
möge sich etwas Geheimnisvolles verbergen, ein okkultes Signal, unentzifferbar
aber entscheidend gerade durch seine Eigenschaft eines Signals.
- Giorgio Manganelli, Geräusche
oder Stimmen. Berlin 1989
Tür (41) Was aber führt aus dem uns
immer wieder in die Tiefe ziehenden Sumpf unserer
emotionalen und damit überhaupt menschlichen Verfasstheit hinaus, wenn nicht
die Tür, diese grundlegende Erfindung des Menschen, die so sehr mit seinem innersten
Wesen in Verbindung zu stehen scheint, dass man geneigt ist, einen bekannten
Satz Jacques Lacans zu paraphrasieren: Das Unbewusste scheint wie eine
Tür strukturiert. Hubert Fichte wollte nicht der 450. Weiße sein, der
über die Türen der Dogon forscht, sondern lieber etwas über die psychiatrischen
Einrichtungen erfahren. Kann es aber nicht sein, dass gerade die Tür eng mit
der Psyche verwandt ist? - (raf)
Tür (42) Nie werde ich dem Gefühl
entsagen können, daß hier, dicht an meinem Gesicht, zwischen meinen Fingern,
etwas wie eine blendende Explosion hin zum Licht geschieht, ein plötzlicher
Vorstoß meiner selbst ins Andere oder des Anderen in mich, etwas unendlich Kristallinisches,
das sich verdichten und zu totalem, raum- und zeitlosen Licht werden könnte.
Wie eine Tür aus Opal und Diamant, von der aus man das zu sein beginnt, was
man wirklich ist und was man nicht sein will und nicht zu sein versteht und
nicht sein kann. - (ray)
Tür (43) Türen sind Mauerlöcher zum Ein- und Ausgehen. Man geht aus, um die
Welt zu erfahren, und verliert sich dort drinnen, und man kehrt heim, um
sich wiederzufinden, und verliert dabei die Welt, die man erobern
wollte. Dieses Türpendeln nennt Hegel das "unglückliche Bewußtsein".
Außerdem kann geschehen, daß man bei der Heimkehr die Türe geschlossen
findet. Zwar hat man einen Schlüsselbund in der Tasche (man kann den
Geheimcode entschlüsseln), aber der Geheimcode kann sich in der
Zwischenzeit umcodiert haben. Heimtücke ist für Heim und Heimat
charakteristisch. Dann bleibt man obdachlos im Regen unter der Traufe.
Türen sind weder glückliche noch verläßliche Instrumente. -
Vilem Flusser, Telepolis
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