hr  Aristoteles sagt, jedes Tier kann seine Ohren bewegen, nur der Mensch nicht, und das ist recht so. - (meg)

Ohr (2) Auffallend ist, daß die letzten Jahrzehnte ungeheurer Wissenschaftsarbeit keinen einzigen Wert erbrachten, der eine Neugeburt war. Neben intelligent scheinender Wissenschaft kann jede alte Dummheit und brutale Kleinlichkeit unverändert weitergedeihen.

Die Herrschaft über physische Kraftwerte, die zur Schaffung der Flugzeuge führte, war für einige Menschen ein Gewinn. Das Radio, das die Lebenswelt des Ohres verpestet hat, war ein sinnloser Vorgang industrieller Ausbeutung einer Erfindung, die wichtig war, die Menge aber kaum anging. Es genügte, diese Einrichtung in den Dienst der Schiffe zu stellen, die ihren Ruf erweitern wollten. Botschaften an alle oder viele sind Wahnsinn. Jeder hat sein Werden für sich, und was kann grotesker sein, als daß alle angebrüllt wurden zu einer Zeit, in der das Gehör des Menschen in sein Inneres verlegt werden wollte, um die dort anwachsende Vielstimmigkeit wahrzunehmen? - Ernst Fuhrmann, Was die Erde will. Eine Biosophie. München 1986 (Matthes & Seitz, debatte 9, zuerst 1930)

Ohr (3)

Hieronymus Bosch: Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren

- Aus: Walter Bosing, Hieronymus Bosch. Köln 1987

Ohr (4)  Schon Charles Darwin war aufgefallen, daß das Anlegen der Ohren in vergnügten Situationen dem widerspricht, was man von Hunden kennt. Hunde ziehen, wenn sie miteinander kämpfen, die Ohren nach hinten an den Kopf gedrückt zurück. Was sich bei ihnen deutlich von den hängenden Ohren unterscheidet, die sie zeigen, wenn sie gestreichelt werden wollen. Bei vielen Tieren kann man allein von der Stellung der Ohren auf ihren Gemütszustand schließen. Und das Anlegen derselben als Ausdruck von Aggression ist weit verbreitet. Pferde nutzen es ebenso wie Luchse, bei denen es schon wegen der exponierten langen Ohren besonders eindrücklich ist. Bei manchen Primaten wie den Galagos können die Weibchen von den mehr oder weniger angelegten Ohren auf das Selbstvertrauen der Männchen schließen und so ihre Wahl treffen.

Daß eine im Tierreich häufig vorkommende Bewegung wie das Ohrenanlegen so unterschiedliche Bedeutungen haben kann, läßt für die Entstehung von Ausdrucksbewegungen nur den Schluß zu, daß bestimmte Bewegungen nicht von vorheroin mit einer Bedeutung wie Wut oder Freude belegt sind. Oft handelt es sich um ursprüngliche Reflexe, die auf ganz andere Reize als soziale reagierten. Mäuse zum Beispiel verengen, wenn sie ein schrilles Geräusch hören, die Augen und legen die Ohren an. Wie aus dieser Reaktion eine Handlung mit informativem Charakter für andere Tiere werden konnte, läßt sich kaum nachvollziehen. Anders ist das beim Stirnrunzeln des Menschen. Offensichtlich ist es aus dem intensiven Fixieren von Objekten in nächster Nähe des Gesichts entstanden. Säugetiere mit beweglichem Gesicht, wie Hunde, Kapuzineraffen und Menschen, ziehen dabei die Augenbrauen zusammen. Die dabei aufgewendete Konzentration und Aufmerksamkeit ist leicht in soziale Kontexte zu transformieren. So gilt das direkte Anblicken bei den meisten Säugetieren als Zeichen von Interesse und Zuwendung. Aber Interesse kann leicht umschlagen in Skepsis oder Zorn, und dabei kräuselt sich nicht selten die Stirn.

Bei Menschen geschieht das ohne jede Beteiligung des Ohres. Es ist, wie der Soziologe der Sinne Georg Simmel sagt, ein passives Anhängsel der menschlichen Erscheinung geworden. Das schlechthin egoistische Organ, das nur nimmt, aber nicht gibt. - Cord Riechelmann, Bestiarium. Der Zoo als Welt - die Welt als Zoo. Frankfurt am Main 2003

Ohr (5)  Mehr als zwei Ohren zu haben ist für den von guter Vorbedeutung, der Menschen bekommen will, die ihm gehorchen werden, z.B. eine Frau, Kinder oder Haussklaven. Einem Reichen bedeutet es einen guten Leumund, wenn die Ohren wohlgestaltet, einen schlechten, wenn sie mißgestaltet und ungleich groß sind. Schlimm ist das Traumgesicht für einen Sklaven und einen Prozessierenden, für den Kläger sowohl wie für den Beklagten. Dem Sklaven bedeutet es, er werde noch lange Zeit gehorchen müssen, dem anderen, es drohe ihm, falls er als Kläger auftritt, eine Gegenklage; ist er aber der Beklagte, so werden abgesehen von den schon bekannten Anklagepunkten noch weitere gegen ihn erhoben werden; es sagt ihm gewissermaßen, er habe noch mehr Ohren nötig.  - (art)

Ohr (6)   Das Ohr, das Organ der Furcht, hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so reich entwickeln können, wie es sich entwickelt hat, gemäß der Lebensweise des furchtsamen, das heißt des allerlängsten menschlichen Zeitalters, welches es gegeben hat: im Hellen ist das Ohr weniger nötig. Daher der Charakter der Musik, als einer Kunst der Nacht und Halbnacht. - (mo)

Ohr (7)  Das Ohr beleidigte ihn. Lamb mochte es nicht, Frauen den Hof zu machen, doch spürte er, aus diesem oder jenem Grund, daß es keiner besonderen Überredungskünste bedurfte, mit diesem Ohr zu schäkern. Mehrere Wochen lang hatte er es schon beobachtet, gleichgültig, ungerührt. Es war ein so lächerlich kleines Ohr - die bloße Andeutung eines Ohrs. Warum sollte sich ein ausgewachsener Mann wie er mit einer solchen Lappalie abgeben? Derlei Torheiten war er langst entwachsen. Seine eigene Tochter war ja fast schon so alt wie das Ohr. Wie dem auch sei, derlei Gedanken standen völlig außer Frage. Trotzdem war das Ohr eine unleugbare Herausforderung. Und dieser kleine schmale Kopf, der so selbstsicher auf seinem hübschen Hals thronte, ja reizlos war das nicht.

So seltsam es klingt, das Antlitz der Besitzerin des Ohrs hatte Mr. Lamb noch nie geschaut. Er hatte nicht einmal versucht, seine Nachforschungen so weit zu treiben Er hatte es für sicherer befunden, es besser in Ruhe zu lassen. Er hatte Vorstellungen, was das Gesicht betraf, vage Spekulationen, aber er hielt sich nicht damit auf. Warum sollte er? Was interessierte ihn das schon?  Blödsinn!.

Der Zug verlangsamte seine Fahrt, näherte sich Lambs Station. Erfahrene Pendler nahmen bereits ihre unvermeidlichen Siebensachen aus den Gepacknetzen. Methodisch faltete Mr. Lamb seine Zeitung und vertrieb das Ohr aus seinen Gedanken. Das heißt, er hob sich halb aus seinem Sitz, bereit, sich einen Weg den Gang entlang zu bahnen, als sich das Ohr reichlich unerwartet drehte und Mr. Lamb sich wie einer, der unvermittelt schrumpft, hastig wieder setzte. Der Mann war durch und durch geschockt. Er fühlte sich inniglich liebkost - von einem unglaublich zarten Augenpaar, in ein Gesicht gefaßt, dessen Blässe gewöhnlicherweise mit angeborener Zuchtlosigkeit einhergeht. Auch gab's da einen Mund, lebhaft und von schrecklicher Hilflosigkeit, gleichzeitig aber auch zu allerlei fähig.

Dies war eine der alarmierendsten Erfahrungen in Mr. Lambs Leben. Diese Augen!  Die Begierde darin. Welch ein Benehmen für eine Frau, einen Mann in aller Öffentlichkeit so anzusehen! Das einzige Wort, das Lamb in Verbindung mit diesen Augen, einfiel, war »wollüstig«. Das waren wirklich wollüstige Augen, und dennoch, es ließ sich schwer ausdrücken, waren sie es auf unbewußte Weise. Das Mädchen wußte nicht, was es tat. Es konnte es gar nicht wissen.

Ein Wesen mit solchen Augen, befand Lamb, sollte man zwingen, eine dunkle Brille zu tragen. - (lam)

Ohr (8) Das Volk der Mansak  Diese befinden sich in der östlichen Region, in der Nähe der Gog und Magog. Sie haben die Gestalt des Menschen und Ohren wie die des Elefanten, und jedes Ohr ist wie ein Gewand. Wenn sie schlafen gehen, breiten sie eines von den Ohren aus und bedecken sich mit dem anderen. - Al-Qazwíní, nach: Der Rabe, Magazin für jede Art Literatur Nr. 35, Zürich 1993

Ohr (9)  Lange, große Ohren sind tatkräftigen und mutigen Menschen eigen.

Menschen mit kleinen Ohren sind furchtsam.

Schön geformte Ohren lassen auf einen guten Tonauffassungssinn schließen.

Je edler das Ohr, desto edler ist die Anlage des Empfindungslebens eines Menschen.

Sehr anliegende Ohren sind friedfertigen, stark abstehende streitsüchtigen Menschen eigen.

Ohren, die stark an tierische Formen erinnern, sind verbrecherischen Menschen eigentümlich.

Stark verbildete Ohren haben alle stark abnormen Menschen. Adel der Seele zeigt die Schönheit des Ohres an.   - Carl Huter, Illustriertes Handbuch der Menschenkenntnis. Schwaig bei Nürnberg 1930

Ohr (10)  

ein ohr geht ironisch spazieren es begrüßt die zunehmende entropie verneint aber eine lupine die wolkensäule wird eingeführt das ohr macht sich durch klangverschiebung zur dorischen schnecke ein logos gibt sich als transvestit zu erkennen das ohr hört trotzdem weiter ein präfix wird angeschmiedet ein ablaut stellt allgemeines in frage und evoziert späte zeit hierauf wird ein abgas verdinglicht gleichzeitig ein geläufiges dialektwort durch doppelte negation vertieft und gehoben die einfache lupine ist bösartig aber nicht rachsüchtig sie bestätigt das ohr das ohr ist ironisch aber nicht unwissend es bestätigt die zunehmende entropie historifizierende wiederholung der wolkensäule suggeriert ohne ihn auszusprechen den gedanken daß alles in und nichts zwischen den zeilen steht so intensiv daß ein zwischen den zeilen schwebendes abgas den gedanken in frage stellt und gleichzeitig aber nicht ursächlich bedingt die dorische schnecke bestätigt hierauf stellen ein paar an und für sich insignifikante reizwörter sich gegenseitig in abrede werden aber durch die anwesenheit der und im kontrast zur späten zeit als präsent und wiederholbar gedacht bzw allgemein attestiert worauf das doppelt verneinte dialektwort mit seinem homonym zu einer metafer koaguliert in der sich eine der beiden verneinungen skeptisch zurücknimmt weil das gedicht hier schließt ist die metafer sehr ernst dieser ernst überträgt sich dem ganzen gedicht das ganze gedicht bestätigt einen komplexen tatbestand und stellt sich positiv in frage

  - (pas)

Ohr (11) 

Ohr (12)   Erst beim Heimgehen ist dem Brenner aufgefallen, wie raffiniert der Schorn sein Thema gewählt hat. Auf einer Festspielparty vor unzähligen weltberühmten Musikern ausgerechnet über das Ohr reden, da muß ich schon ganz ehrlich sagen, nicht blöd. Er hat geredet über den van Gogh mit seinem Ohr (zuviel Verzicht), über den Paul Getty mit seinem Ohr (zuviel Gier) und ganz allgemein über das gute Ohr und über das schlechte Ohr. Weil das Ohr ist natürlich eine sehr gute Sache für einen Musiker, da gibt es gar nichts. Aber es kann auch böse sein, das Ohr, wenn der Mensch zu neugierig ist. Und Bibel ganz brutal: Wenn dich dein Ohr ärgert, dann schneid es ab.

«Dann  schneid   es   ab!»  hat   der  Bischofskandidat Schorn mehrmals in seiner Rede ganz schneidig ausgerufen. Weil er hat gesagt, man darf sich nicht irritieren lassen von den Verleumdungen, und wenn die Öffentlichkeit sich über den Wohltätigkeitsgedanken lustig macht, dann muß man sein Ohr vor diesem Gift verschließen. Und der Monsignore Schorn sehr interessante Formulierung: Man soll sein Ohr nicht jedem leihen, weil könnte leicht sein, daß man es nicht mehr zurückkriegt.

Der Brenner hat sich am Heimweg erinnert, daß bei dieser Formulierung die weltberühmten Musiker richtig zusammengezuckt sind, Furchtbare Vorstellung, weil natürlich Gehör wichtiger als Stimme, das hat ja sogar der Brenner von seinem Puntigamer Musiklehrer gewußt. Jetzt wie kommt der Detektiv auf die Idee, daß diese Worte ausgerechnet ihm allein gegolten haben?

Sicher, für einen Detektiv ist das Gehör auch sehr wichtig. Es wird zwar immer viel geredet von der Nase, die ein Detektiv haben muß. Aber ich sage, Gehör wichtiger als Nase! Und Nase war ja wirklich nicht die große Stärke vom Brenner. Aber stundenlang jedem noch so unwichtigen Gewäsch sein Ohr leihen, da war er schon, möchte ich fast sagen, eins a.  - Wolf Haas, Silentium! Reinbek bei Hamburg 2012

Körperteile, menschliche
Oberbegriffe
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Unterbegriffe
Ohrabschneiden
VB
Gehör Klänge
Synonyme