(kü)
Nacht
(2)
Ich liebe die
Nacht mit Leidenschaft. Ich liebe sie, wie man sein Land oder seine Geliebte
liebt, mit instinktiver, tiefer und unüberwindlicher Liebe.
Ich liebe sie mit allen meinen Sinnen, mit meinen Augen, die sie sehen,
mit meiner Nase, die sie riecht, mit meinen Ohren,
die ihr Schweigen vernehmen, mit meinem ganzen Fleisch, das sich von den
Finsternissen streicheln läßt. - Guy de Maupassant
Nacht
(3)
Es
war eine von jenen unheimlichen Nächten, wo Licht und Finsterniß schnell
und seltsam mit einander abwechselten. Am Himmel flogen die Wolken, vom
Winde getrieben, wie wunderliche Riesenbilder vorüber, und der Mond
erschien und verschwand im raschen Wechsel. Unten in den Straßen herrschte
Todtenstille, nur hoch oben in der Luft hauste der Sturm, wie ein unsichtbarer
Geist.
Es war mir schon recht, und ich freute mich über meinen einsam wiederhallenden
Fußtritt, denn ich kam mir unter den vielen Schläfern vor wie der Prinz
im Mährchen in der bezauberten Stadt, wo eine böse Macht jedes lebende
Wesen in Stein verwandelt hatte; oder wie ein einzig Übriggebliebener nach
einer allgemeinen Pest oder Sündfluth. -
[August Klingemann,] Nachtwachen von Bonaventura. Frankfurt am Main
1974 (it 89, zuerst 1804)
Nacht
(4) Es war Mitternacht;
wir legten die Waffen nicht ab. Nach einer anscheinenden Ruhe, die ungefähr
eine Stunde dauerte, empörten sich die Soldaten von neuem. Sie waren ganz
von Sinnen und kamen wie Verzweifelte mit Säbeln oder Messern auf uns los.
Wir mußten uns abermals zur Wehr setzen. Sie griffen uns zuerst an, wir
drängten sie zurück, und bald war das Floß mit
ihren Leichen bedeckt.
Diejenigen unter ihnen, die keine Waffen hatten, bissen mit den Zähnen
und nicht selten ziemlich derb. Herr Savigny erhielt einen solchen
Biß an Bein und Schulter, wie auch eine Säbelwunde am rechten Arm, so daß
er lange Zeit ein Paar Finger nicht gebrauchen konnte. Auch einige andere
wurden verwundet, von den Kleidern ganz zu schweigen, die von Degen- und
Messerstichen durchbohrt waren. - Savigny, Corréard: Der Schiffbruch
der Fregatte Medusa. Nördlingen 1987 (zuerst 1818)
Nacht
(5)
Eines
Nachts erwischten wir einen kleinen Teil von einem Holzfloß
— schöne Kiefernplanken. Es war zwölf Fuß breit und an die fünfzehn oder
sechzehn Fuß lang und ragte über sechs oder sieben Zioll aus dem Wasser
heraus, eine stabile, ebene Fläche. Bei Tage konnten wir manchmal Sägebalken
vorbeitreiben sehn, aber wir ließen sie schwimmen; wir kamen bei Tage gar
nicht zum Vorschein.
Eine andre Nacht, kurz vor Morgengrauen, als wir am Kopf der Insel waren. kam an der Westseite ein Holzhaus angeschwommen. Es war zwei Geschosse hoch und kippte bedenklich über. Wir ruderten hin und gelangten an Bord und kletterten durch ein Fenster in den Oberstock. Aber es war noch zu dunkel, um was zu erkennen, so machten wir das Boot fest und setzten uns rein, um aufs Tageslicht zu warten.
Es wurde dämmerig, ehe wir noch ans Ende der Insel gelangten. Da guckten wir zum Fenster rein. Wir konnten ein Bett erkennen und einen Tisch und zwei alte Stühle und eine Menge Sachen, die auf dem Fußboden rumlagen; und an der Wand hingen irgendwelche Kleidungsstücke. In der äußersten Ecke lag etwas auf dem Boden, das aussah wie ein Mann. So rief Jim: »Hallo, du!«
Aber es rührte sich nicht. Da rief ich noch mal, und dann sagte Jim: »Der Mann schlafen nix — er sein tot. Du bleiben da — ich gehn und sehen nach.«
Er ging rein, beugte sich über ihn und guckte und sagte: »Ein tote Mann.
Ja, ein tote, und nackend. Sein schossen worden in Rücken. Ich glauben,
er schon tot zwei Tage oder drei. Komm rein, Huck, aber kucken du nix auf
sein Gesicht — es sein zu gräßlich.« -
Mark Twain, Huckleberry Finns Abenteuer. Frankfurt am Main 1975 (it 126, zuerst
1884)
Nacht
(6)
Schweigende Nacht. Schweigendes Haus. Ich bin gehirnlich heimgekehrt
Ich wälze Welt. Ich röchle Raub.
|
- (
benn
)
Nacht
(7)
Die
offene Hütte des Mattenwebers beim Hindutempel war erfüllt von schlafenden
Menschen, die umherlagen wie eingewickelte Leichen.
Hoch oben am Himmel brannte das starre Auge des Mondes. Dunkelheit täuscht
Kühle nur vor; beständig mußte ich mir vorsagen, das grelle Licht trüge
keine Schuld an der Hitze ringsum. Eine krankhafte Wärme
ging vom Mond aus und strahlte in die Luft.
Wie ein gerader Streifen aus poliertem Stahl lief die Straße hinüber zur Stadt der furchtbaren Nächte; an den Wegrändern hingestreckt in phantastischen Stellungen, leichenhaft schlafend, die Leiber von hundertsiebzig Menschen auf Lagerstätten. Einige ganz in Weiß gehüllt und die Münder fest geschlossen, einige nackt und schwarz wie Ebenholz in dem gleißenden Licht, und einer, weit weg von ihnen, das Gesicht aufwärts gekehrt, den Kiefer herabgesunken, silberig schimmernd und aschig fahl: ein Aussätziger. Die übrigen: erschöpfte Kulis, Diener, Kleinladenbesitzer und Kutscher von dem nahen Wagenstand. Szene: das Land vor den Toren der Stadt Lahore und eine heiße Augustnacht. Das war alles, was ich sah, aber nicht alles, was ich hätte sehen können. Der Hexenspuk des Mondlichts hatte die Welt in ein grausiges Bild verwandelt: die lange Reihe der nackten »Toten« bot einen schauerlichen Anblick - und als letzter darin der statuenhafte Leprakranke.
Wieder: leichenhaft schlafende Leiber, eine Koppel bewegungslos ruhender Kamele am Wegesrand, Mondlichtstreifen, eine weiße Straße, eine Vision dahineilender Schakale, Ekka-Ponys in tiefem Schlummer, das Zuggeschirr noch auf dem Rücken, und - wieder Leichen, Leichen. Messingbeschlagene Landkarren blitzen im Mondlicht - wieder Leichen, Leichen. Wo immer ein Heuwagendach, ein Baumstumpf, ein zersägter Stamm, ein Büschel Bambus, oder ein Strohhaufen Schatten wirft, da ist der Boden bedeckt mit diesen Schlafleichen. Einige mit dem Gesicht nach abwärts, die Arme verschränkt, im Staub; einige mit über den Köpfen gefalteten Händen; andere, zusammengekrümmt wie Hunde, oder wie die Geschützrohre steif an den Seiten der Kornwagen liegend. Andere wieder im grellen Mondesglanz und die Stirnen an die Knie gepreßt.
Ich empfände es wie eine Erlösung, wenn sie
schnarchen würden, aber alles bleibt still
wie auf einem Totenfeld. Bisweilen beschnuppert den oder jenen ein Hund
und trabt dann weiter. Hie und da liegt ein mageres Kindchen neben seinem
Vater auf der Erde und gelegentlich schlingt sich ein Arm um seinen Körper;
aber zumeist schlafen die Kleinen bei ihren Müttern auf den Dächern. -
Gelbhäutige, blankzähnige Parias weiß man nicht gern in der Nähe brauner
Kinderleiber. Ein erstickend heißer Hauch aus dem Munde des Delhi-Tores
ertötet fast meinen Entschluß, um diese Stunde die Stadt der furchtbaren
Nächte zu betreten. - Rudyard Kipling, Die Stadt der furchtbaren
Nächte, nach (
ki
)
Nacht
(8) Ich mache mich mit Joseph
durch die Wüste auf nach Assuan. Aus Angst vor
Hyänen sind wir bis an die Zähne bewaffnet; unsere Esel trippeln munter
drauflos, ein kleiner Junge von ungefähr zwölf Jahren, ganz reizend in
seiner Anmut und Behendigkeit, bekleidet mit einem großen weißen Kittel,
läuft mit einer Laterne voran. Das Blau des Himmels ist mit Sternen übersät,
fast sind es Feuer, so funkelt das, eine wahrhaft orientalische Nacht!
Rechts tauchte ein singender Araber auf einem
Kamel auf, er kreuzte den Weg vor uns und ritt
weiter. - (
orient
)
Nacht
(9)
Die freie Nacht ist aufgegangen, Die Liebste ist mir heut gestorben, Im Hause ist ein wildes Klingen, Wie oft hab ich hier froh gesessen, |
- Achim von Arnim, Isabella von Ägypten. In: A.v.A., Erzählungen.
München 1979 (dtv 2056, zuerst 1812)
Nacht
(10) Schon regnete es Asche, doch
zunächst nur dünn. Ich schaute zurück: Im Rücken
drohte dichter Qualm, der uns, sich über den Erdboden
ausbreitend, wie ein Giessbach folgte. 'Lass uns vom Wege
abgehen', rief ich, 'solange wir noch sehen können,
sonst kommen wir auf der Strasse unter die Füsse und werden im
Dunkeln von der mitziehenden Masse zertreten.' Kaum hatten wir
uns gesetzt, da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem,
wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum,
wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte Weiber heulen,
Kinder jammern, Männer schreien; die einen riefen nach ihren
Eltern, die anderen nach ihren Kindern, wieder andere nach ihren
Männern oder Frauen und suchten sie an den Stimmen zu erkennen;
die einen beklagten ihr Unglück, andere das der Ihren, manche
flehten aus Angst vor dem Tode um den Tod, viele beteten zu den
Göttern, andere wieder erklärten, es gebe nirgends noch
Götter, die letzte, ewige Nacht sei über die Welt
hereingebrochen. Auch fehlte es nicht an Leuten, die mit erfundenen,
erlogenen Schreckensnachrichten die wirkliche Gefahr
übersteigerten. Einige behaupteten, in Misenum sei dies und das
eingestürzt, anderes stehe in Flammen - blinder Lärm, aber
sie fanden Glauben.
Dann hellte es sich ein wenig auf, doch es war anscheinend nicht das Tageslicht, sondern ein Vorbote des nahenden Feuers. Aber das Feuer blieb in ziemlicher Entfernung stehen; es wurde wieder dunkel, wieder fiel Asche, dicht und schwer, die wir, fortgesetzt aufstehend, abschüttelten; wir wären sonst verschüttet und durch die Last erdrückt worden. Ich könnte damit prahlen, dass sich mir trotz der furchtbaren Gefahr kein Seufzer, kein verzagtes Wort entrungen hatte, hätte ich nicht - ein schwacher, aber für uns Menschen immerhin ein im Tode wirksamer Trost - fest geglaubt, ich ginge mit allem und alles mit mir zugrunde.
Endlich wurde der Qualm dünner
und verflüchtigte sich sozusagen zu Dampf oder Nebel. Bald wurde
es richtig Tag, sogar die Sonne kam heraus, doch nur fahl wie bei
einer Sonnenfinsternis. Den noch verängstigten Augen erschien
alles verwandelt und mit einer hohen Ascheschicht wie mit Schnee
überzogen. - Plinius d. J. an Tacitus
Nacht
(11)
|
-
Rilke
, Buch
der Bilder
Nacht
(12)
Nacht
(13)
Nacht
(14) Nehmen wir einmal
ganz willkürlich an, in einem Raumbereich von 10 Lichtjahren rund um die Erde
gebe es 100 Sterne, die unsere Nacht mit ihrem milden Licht erhellen. Jetzt
gehen wir einen ersten Schritt weiter und berücksichtigen alle Sterne bis zur
doppelten Entfernung, also bis zu 20 Lichtjahren. Die dabei neu hinzukommenden
und durchschnittlich doppelt so weit von uns entfernten Sterne erscheinen uns
dann ihrer verdoppelten Entfernung wegen zwar nur etwa ein Viertel so hell wie
die 100 Sterne, von denen wir ausgegangen waren. Aber, und das ist der entscheidende
Punkt: Bis zur doppelten Entfernung gibt es bei gleichmäßiger Verteilung der
Sterne im Raum nicht bloß doppelt oder viermal so viele, sondern gleich achtmal
so viele, also 800 Sterne. Verdoppeln wir die Entfernung abermals, indem wir
jetzt eine Raumkugel mit einem Radius von 40 Lichtjahren rings um die Erdkugel
betrachten, so ergibt sich, daß die Helligkeit der neu hinzukommenden Sterne
zwar auf ein Sechzehntel (»Quadrat der vierfachen Entfernung«) zurückgeht, der
Gesamtzahl der Sterne aber gleichzeitig auf das 64fache (nämlich die dritte
Potenz der vierfachen Entfernung!) sprunghaft anwächst.
So geht das bei jeder Vergrößerung der Entfernung weiter. Die Zahl der Sterne nimmt sehr viel schneller zu, als die Helligkeit der einzelnen Sterne abnimmt. Das hängt einfach damit zusammen, daß der Inhalt der Raumkugel, die wir in unserem gedanklichen Versuch um die Erde gelegt haben, rascher anwächst als ihre Oberfläche, auf die sich die Sterne aus unserer Perspektive projizieren.
Deshalb muß, so folgerte Olbers zwingend weiter, irgendwann, und wenn auch erst in einer noch so großen Entfernung, schließlich eine Grenze erreicht sein, von der ab die überschießende Zunahme der Sternzahl die Abnahme ihrer Helligkeit nicht nur ausgleicht, sondern gewissermaßen »überkompensiert«. Da diese Grenzentfernung in einem unendlich großen Weltall auf jeden Fall überschritten sein muß, müßte der ganze Himmel eigentlich auch nachts taghell leuchten. Glücklicherweise kann man das Problem, mit dem sich Dr. Olbers herumschlug, noch einfacher formulieren: Man braucht bloß daran zu denken, daß dann, wenn das Weltall wirklich unendlich viele (wohlgemerkt: nicht unvorstellbar viele, sondern unendlich viele!) Sterne enthielte, an jedem noch so winzigen Punkt des Himmels unendlich viele Sterne hintereinander stehen würden. Durch unendlich viele Sterne an jedem Punkt des Nachthimmels würde aber eine unendlich große Helligkeit produziert, die daher auch noch auf der Erde unendlich groß sein müßte, ohne Rücksicht darauf, bis in welche Entfernung sich diese Sterne gleichmäßig verteilen.
»Folglich«, so erklärte Olbers, »darf es nachts eigentlich überhaupt nicht
dunkel werden.« - Hoimar von Ditfurth, Im Anfang war der Wasserstoff.
München 1985 (zuerst 1972)
Nacht
(15) »Zum Teil haben die Toten
das Böse der Nacht verschuldet, zum anderen Teil
Schlaf und Liebe.
Für was ist der Schläfer nicht alles verantwortlich! Welcherart Umgang pflegt
er, und mit wem? Mit seiner Nelly legt er sich nieder und findet sich schlafend
im Arm seines Gretchens wieder. Tausende kommen an sein Bett, ungebeten. Und
dennoch: wie erkennt man die Wahrheit, wenn sie nicht unter den Anwesenden weilt?
Mädchen» die der Schläfer niemals begehrt hat, streuen ihre Gliedmaßen um ihn
unter des Morpheus Fuchtel. So sehr ist der Schlaf zur Gewohnheit geworden,
daß mit den Jahren der Traum seine eigenen Grenzen verzehrt und das Geträumte
ihm zu Heber Gewohnheit wird; ein Gelage, wo Stimmen sich mischen, einander
lautlos bekämpfen. Der Schläfer ist Eigentümer eines unerforschten Landes. Er
geht eigenen Geschäften nach, im Dunkel - doch wir, seine Partner, die wir in
die Oper gehen, die wir dem Klatsch der Freunde im Café zuhören, die Boulevards
entlangschlendern oder eine schweigsame Naht nähen, können uns das nicht leisten,
wahrhaftig, nicht einen Zentimeter davon. Und wollen wir es auch mit unserem
Blut bezahlen: es sind da weder Theke noch Kasse. Du, die du stehst und herniederblickst
auf eine, die im Schlafe liegt - du kennst sie, die horizontale Angst, Angst
unerträglich. Denn der Mensch trifft auf sein Schicksal senkrecht. Er wurde
nicht geschaffen, um jenes andere zu erfahren, und nicht als Resultat eines
anderen Verschwörung.
Man schlägt die Leber aus der Gans und macht pâté daraus: man zerstampft die Muskeln eines Menschen cardla und macht einen Philosophen.« »Ist es das, was ich zu lernen habe?« fragte sie bitter. Der Doktor sah sie an. »Für den Liebenden ist es die Nacht, in der seine Geliebte verschwindet«, sagte er, »und es bricht sein Herz. Er weckt sie plötzlich, nur um einer Hyäne in die Fratze zu sehen; eine Hyänenfratze, das ist ihr Lächeln geworden, wenn sie aus der Gesellschaft scheidet.
Schläft sie? Schiebt sie nicht ihr Bein zur Seite, für eine unbekannte Garnison? Oder - im Augenblick einer Sekunde - erschlägt sie uns nicht mit der Axt? Verspeist sie nicht unser Ohr in Blätterteig? Stößt sie uns nicht mit dem Handrücken von sich, um sich mit einer Mannschaft Matrosen und Mediziner einzuschiffen zu fernen Häfen? Und wie steht es mit unserem eigenen Schlaf? Auch wir treiben es ja nicht besser und betrügen sie mit der Tugend unseres Tages. Lange üben wir Enthaltsamkeit, doch kaum hat unser Kopf das Kissen berührt, das Auge den Tag entlassen, da kommt schon die ganze Horde der lustigen Brüder, fordert und kassiert. Wir erwachen aus unserem Tun, in Schweiß gebadet; denn es hat sich in einem Haus zugetragen, das keine Adresse ist, in der Straße keiner Stadt, bebürgert mit Einwohnern keines Namens, den es zu verleugnen gelte. Diese Leute haben keine Identität - wir sind es selbst. Eine Straßenbezeichnung, eine Hausnummer, ein Eigenname - und wir hören auf, uns selbst zu bezichtigen. Schlaf verlangt von uns schuldige Immunität. Da gibt es keinen unter uns, der, könnte er ewiges Inkognito wahren, hinterließe er keinen Fingerabdruck auf unseren Seelen, nicht Vergewaltigung, Mord und alle Scheußlichkeiten verüben wurde. Denn wenn aus seinem Hintern Tauben flattern, Schlösser aus seinen Ohren sprießen, dann wird der Mensch um sein Schicksal besorgt; was soll es sein: ein Haus, ein Vogel oder ein Mensch? Vielleicht wird immer nur ein Schläfer, dessen Schlaf ihn durch drei Generationen trägt, unversehrt dieser entvölkerten Vernichtung entsteigen.« Schwer wandte sich der Doktor im Bett um. »So dicht liegt der Schlaf auf dem Schläfer, daß wir ihm >vergeben<, wie wir den Toten >vergeben<, auf denen die Erde lastet. Was wir nicht sehen - so sagt man uns -, das beweinen wir nicht; und doch beunruhigen uns Nacht und Schlaf; Verdacht ist unser schwerster Traum, und Angst die Peitsche. Des Eifersüchtigen Herz kennt die beste, die wahrhaft befriedigende Liebe: im Bett des anderen, wo der Rivale für die Unvollkommenheit des Liebenden aufkommt. Phantasie reitet weit, um dieses Duell nicht zu versäumen, ungehindert, jegliche Auslegung mißachtend, welche das Gesetz dieses ungesehenen Spiels bergen mag.
Vom Osten her erwarten wir eine Weisheit, die wir nicht gebrauchen, und vom
Schläfer das Geheimnis, das wir nicht erfahren. Und so frage ich denn: wie steht
es um die Nacht, die schreckliche Nacht? Finsternis ist die Kammer, da deine
Geliebte ihr Herz rasten läßt; ist das Nachtgeflügel, das sich deinem und ihrem
Geist krächzend entgegenkrallt; dessen Gedärm zwischen dir und ihr die furchtbarste
Entfremdung fallen läßt. Das Tropfen deiner Tränen ist sein unfehlbarer Pulsschlag.
Das Volk der Nacht begräbt seine Toten nicht, sondern dir - ihrer Geliebten
und Wächterin - wirft es die Kreatur an den Hals, ihrer Gebärden entblättert.
Und wohin du gehst, geht auch sie: ihr beide vereint, dein Lebendes und ihr
Totes, das nicht sterben will: ins Tageslicht, ins Leben, in den Schmerz; bis
ihr beide zu Aas verwest.« - Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1936)
Nacht
(16)
Unkenpfiff von Nacht betaut, |
- Max Jacob, nach
(mus)
Nacht
(17) Die Nacht ist auf einen
jeden Fall beschissen. Ich weiß nicht, wo ich hingehe, wenn ich ausgehe, Gerechtigkeit
zu üben, ich finde mich dann einfach nicht. Man hört auch nichts von erschlagenen
Männern, höchstens von geschlagenen Frauen. Es ist etwas Schäbiges an meiner
Erinnerung, ganz im Gegensatz zu dem stolzen Zug, den ich manchmal empfinde.
Ich scheine für nichts gut zu sein und nur mir selber eine Last. Die Häsin ist
da auch kein Trost. Hat so ein schönes Gesicht, so adrett. Die Vorderpfoten
hält sie tapfer unter ihr Haupt, dann faucht sie auch manchmal, als wäre jemand
da, der sie stört, sie hat nämlich zwei Junge zwischen den Hinterbeinen. Die
kann sie aber nicht mehr bewegen. Die sind steif, langsam verfaulen die, was
stinkt. - Herbert Achternbusch, Ich bin ein Schaf. Memoiren.
München 1996
Nacht
(18) Versunken in die Nacht.
So wie man manchmal den Kopf senkt, um nachzudenken, so ganz versunken sein
in die Nacht. Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine
unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten,
unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter
Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und
wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen,
ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen wo man
früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin,
ruhig atmend. - (
kaf
)
Nacht
(18)
Clorinda bejamert die abschewliche Deus meus illumina tenebras meas. Psal. 17. v. 29. O GOtt / erleuchte meine Finsternuß! 1. FEindliche / trutzige / 2. Falsche / verdächtliche / 3- Grausame / grewliche / 4- Reinigkeit-hassende / 5- Neidige / hässige / 6. Grimmige / leydige / 7- Tägliche / schmertzliche / 8. Sehet die nächtige / 9- Trewloß-unärtige / 10. Under der Feindlichen / 11. Alle Maeotische / 12. Dise verhinderet / 13- Alle Gott-zeigende / 14. Dise Heil-flüchtige 15- Dise betriegende 16. Dise Nacht schwächet mich / 17. Dise verteufflete / 18. Leider diß Eulen-blind 19- Dises seynd aber die ... (a) Mittnächtige Länder. |
- J. M. Laurentis von Schnifis, nach: Lyrik des
Barock II. Hg. Marian Szyrocki. Reinbek bei Hamburg 1971
Nacht
(19) Wie
stieg dein Geist empor, gleich einem Blitze, der aufwärts gegen den
Himmel hineinschlägt, als die große Nacht mit ihrem Heiligenscheine aus
Sternen aufgerichtet vor dir war! - Unter dem Himmel gibt es keine
Angst, nur unter der Erde! Breite Schatten legten sich ihm in den Weg
nach Elysium, den am Sonntage Tautropfen und Schmetterlinge färbten. In
der Ferne wuchsen feurige Zacken aus der Erde und gingen; es war der Leichenwagen
mit den Fackeln in der tiefen Straße. Als er an den Scheideweg kam, der
durch die Schloßruinen in den Tartarus führt: sah er sich nach dem
Zauberhaine um, auf dessen gewundner Brücke ihm Leben und Freudenlieder
begegnet waren; alles war stumm darin, und nur ein langer grauer
Raubvogel (wahrscheinlich ein papierner Drache) drehte sich darüber hin
und her. - Jean Paul, Titan
Nacht
(20)
Notturno Schlamme den grauenvollen Unterleib, die fratzenhafte Spalte, die Behaarung, den Rumpf, das Leibgesicht, das Afternahe, das sich im Dunkel vorfühlt, über meinen: Füllt euch bis an die Gurgeln! Verfilzt das Röhricht! Beißt euch an die Wurzeln! Schon ist ein Wehen an den Schläfen, Entquellungen und Sammlung oberhalb - Schlachtet und klafft und brütet und verdickt euch: Aufrauschung will geschehn: Mein Hirn!! Oh! Ich! Flutet die Scham in Trümmer durch die Nacht -: ... Nun steht es dunkelblau gewölbt von Stern und Licht. ~ Blut-über. Schamstill. Irdisch abgenabelt. In sich. Der Kreis. Der Einsame. Das Glück. Halbgöttisch prüft die Hand die kühle Sterntraube. Schmale helle Luft die Lippe saugt sich ans Herz gedehnten Zuges. - Geschlechtszersetzungen. Zerfall der Artbedienung: Augen aufgetrunken, Ohren zerrauscht, verwehend Lippe: Hirnscheitelsonne. Schattenentsteigung: Ich!?- Ausgenackt, Hirn-anadyomene ...?? Man bläfft die Sterne an, und von der Schulter schmilzt das Meer, und die Koralle aus dem Haar und von dem Knie der Fisch - aber die rauhe Muschel am Gemachte ...?? Flutschändung! Schlammblut! Und noch nicht schattenlos ...? Die kleinen Monde der blauen Dunkel um den Fuß der Brust? Und Mittagszeit...? Und Nächtigung im Mittagsauge ...? - Und leiser Überfall...? Und Uferschatten ...? Zeltgiebel wieder ...? Rauchhemmungen des Lichts.. .? Ein Aasgestank nach Zunge ...? Wo bist du, Nackter?!! Schwinge! Flügelrausche!! Entfaltung!!!?- Keine Antwort? Schweigen? Schielen nach der Vorhaut? Rückzug? Gutes altes Ludentum ...? Zerrinnung? Wahnwort? Vögelhypothese ...?? In die Knie, Hund! Bedunste dich!! Rumpf, Leibgesicht, Afternahes, über ihn! - |
- Gottfried Benn, nach: Dein Leib ist mein Gedicht. Deutsche erotische
Lyrik aus fünf Jahrhunderten. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt / M.
Berlin Wien 1973
Nacht
(21)
Schöner weißer Leichnam der Nacht, wahrhaftig! So sind also die
Nordwest-Winde des Todes letzten Endes gebirgs-süß! All die bekümmerten
Sterne sind jetzt zu Bett gebracht: drei Kugeln aus der Hand der Frau
und keine freundlicher: in den Schädel, ins Genick und eine tiefer: drei
slerngleiche Löcher unter einer Million pockiger Poren und dem Mond
deines Mundes: Venus, Jupiter, Mars, und alle Sterne verschmolzen
unverzüglich zu diesem einem guten weißen Licht über dem Obduktionstisch
— der herkömmliche Nachtfalter schlägt seine Flügel dagegen - außer daß
es hier zwei sind. Aber am süßesten sind die Liebkosungen des
Landarztes, ein bißchen unbeholfen vielleicht - mais! - und der
Staatsanwalt, Peter Valuzzi und die anderen, sie schwingen grüne
Ahornarme hin und her zu dem Glockengeklingel des frühesten
Lumpensammlers. Ansonsten: - freundlich dumme Hände, freundlich rauhe
Stimmen, unendlich besänftigend, unendlich gleichgültig, unendlich
unmöglich, friedlich plappernd über wie, wohin, warum und es ist Nacht,
und die grüne Schärfe des Gestern hat alles gesagt, was es konnte,
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Reue ist insofern eine Tugend,
als sie die Gefühle aufrührt. Aber sie als Verhaltenskritik aufzufassen
ist Torheit. Sie als solche aufzufassen heißt zu versuchen, die Gefühle
eines gewissen Zuslands einem früheren Zusland anzupassen, zu dem sie
in keinerlei Beziehung stehen. Auch wenn die Imagination den Stachel der
Reue nicht entfernen kann, so kann sie den Verstand anleiten, den
richtigen Gebrauch von ihr zu machen. - (kore)
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