enken  Am Ende wäre Denken dies: ganz intensiv, ganz aus der Nähe, beinahe sich in ihr verlierend, die Dummheit betrachten; der Überdruß, die Unbeweglichkeit, eine große Müdigkeit, eine gezielte Stummheit, die Trägheit bilden die Kehrseite des Denkens - oder vielmehr seine Begleitung, seine tägliche undankbare Beschäftigung, die es vorbereitet und die von ihm aufgelöst wird. - M. Foucault, nach: Botho Strauß, Paare, Passanten. München 1984 (dtv 10250, zuerst 1981)

Denken (2) SURREALISMUS, Subst., m. — Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.

ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. - André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus (1924)

Denken (3) Das Denken ist ein Werkzeug für alle Dinge und befaßt sich mit allem. Darum verwende ich auch zu den Versuchen, die ich hier damit anstelle, jeden beliebigen Anlaß. Wenn es ein Gegenstand ist, von dem ich nichts verstehe, so erprobe ich es erst recht daran und prüfe behutsam von weither die Furt, und wenn ich sie dann für mein Maß zu tief finde, halte ich mich aus Ufer: und diese Erkenntnis, daß ich sie nicht zu durchwaten vermag, ist schon ein Merkmal der Wirkungen des Denkens, und zwar von jenen, deren es sich am meisten rühmt. Zuweilen versuche ich an einem nichtigen und leeren Gegenstand aus, ob es etwas daran zu finden wisse, um ihm Wesen zu geben und ihn zu halten und zu stützen. Zuweilen führe ich es auf einen erhabenen und vielbegangenen, an dem es nichts mehr selbst zu entdecken vermöchte, da der Weg so ausgetreten ist, daß es nur noch auf den Spuren anderer gehen kann. Hier ergötzt es sich damit, sich den Zugang auszusuchen, der ihm der beste scheint, und unter tausend Fußpfaden zu entscheiden, daß dieser hier oder jener dort der bestgewählte sei.

Ich nehme den ersten besten Stoff, den der Zufall mir zuwirft. Sie sind mir alle gleich viel wert. Und ich setze mir niemals vor, sie zur Ganze abzuhandeln. Denn ich sehe von nichts das Ganze: noch sehen es jene, die es uns zu zeigen versprechen. Von hundert Gliedern und Gesichtern, die jedes Ding hat, nehme ich eins, zuweilen nur, um es zu betasten, zuweilen, um es zu ritzen, und manchmal, um es bis auf die Knochen zu quetschen. Ich stoße hinein, nicht so breit, sondern so tief ich nur kann.

Und ich liebe es meist, es von einer ungewohnten Seite zu ergreifen. Ich lieBe mich darauf ein, es von Grund auf zu behandeln, wenn ich mich weniger kennte. Da ich so hier ein Wort und dort ein anderes fallen lasse, von ihrem Kernstück abgerissene Pröbchen, brockenweise, ohne Absicht und ohne Versprechungen, bin ich nicht pflichtig, dafür gutzustehen noch auch mich selbst daran zu halten, ohne meine Meinung zu ändern, wenn es mir behagt, mich dem Zweifel und der Ungewißheit hinzugeben und meiner eigentlichsten Eigenart, der Unwissenheit. - (mon)

Denken (4) Der Inhalt ist von der üblichen verstandesgemäßen Aufnahme her nicht entscheidend. Er schwindet einem unter der Hand weg, er löst sich auf in eine Kette von Assoziationen, die jeweils wieder nur durch den letzten Ausgangspunkt zu dem Ganzen zusammengebunden sind. Der Unterschied zum schlußfolgernden Denken besteht eben darin, daß es auf den ersten Anschlag ankommt, und daß am Ende der Kette, auf diesen Anschlag bezogen, sich schließlich ein Zusammenhang aufhellt, den man sich in der Folge dieses Denkprozesses selbst erarbeitet hat, der voll neuen intensiven Lebens ist und den man als weiteren Anschlag einsetzen kann, um einer neuen Formulierung zu folgen und weiterzudenken. Das ursprüngliche Thema wechselt, es vertieft sich und kehrt auf das eigene assoziative Denken bezogen zurück mit einer völlig veränderten Perspektive. - Aus: Franz Jung, Erinnerung an einen Verschollenen. Ernst Fuhrmanns Lehre von den Zusammenhängen. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 1, Salzhausen / Frankfurt am Main 1981

Denken (5)

-  Manfred Schmidt,  Nick Knatterton Gedenkausgabe, Oldenburg u. Hamburg 1971 (Stalling, zuerst 195*)

Denken (6) Wie schon vor Jahrtausenden wird etwas, das man Meditation genannt hat, das innere Gehen sein. Den inneren Gang muß man als die wesentliche Lebensfunktion bezeichnen. Alles äußere Tun ist unwichtig. Es kann den umgewandelten Bewegungen der Tiere entsprechen, es kann auch eine Kopie dessen sein, was der Mensch innen denkt, aber der Mensch muß erfahren, daß der innere Gang seine gesamte Entwicklung in ganz biologischer Hinsicht ausmacht.

Gewiß gibt es die niederste Stufe der Meditation immerwährend. Ein Mensch, der eine Erfindung machen will, muß meditieren. Er muß seine inneren Organe eine Weile jene Stellung einnehmen lassen, die er als Endeffekt einer Maschine wünscht, Der Mensch kann nicht, wie man meint, denken, sondern er kann nur eine Stellung in sich schaffen, und da die innere Organisation des Menschen alles enthält, auch jede nur erdenkbare Einzelheit einer Maschine, so muß er dieses organische Innere in die Stellung bringen, die seinem Problem entspricht. Wenn dieser Organismus ihm dann die fehlenden Teile instinktiv baut, so kann er aus diesem Geschehen die Konstruktion, die er braucht, ablesen. Aber oft braucht sein Organismus Jahrzehnte, um eine solche gesuchte Stellung voll einzunehmen, denn sein Organismus ist schwer zu bewegen. Die Lösung solcher Aufgaben bezeichnet man deshalb als niederes Nachdenken. - Ernst Fuhrmann, Was die Erde will. Eine Biosophie. München 1986 (Matthes & Seitz, debatte 9, zuerst 1930)

Denken (7) Man gewöhne sich alles Sprechendenken, Denken in Worten, ab, man vergesse die Sprache, und überlasse sich ganz sich selbst; so wird man reines Bewußtsein, reines Entstehen, haben, wenn man immerhin auch so in einen Zustand käme, über den man sich eben nicht wörtlich Rechenschaft zu geben wüßte, und welchen man auch den schwärmerischen nennen könnte. Er allein ist es, den man Ideenzufluß nennt, und diesen fasse man fest, ohne immer gleich nach Worten zu begehren. Liest man, so bilde man sich von jedem gegebenen Wort erst den Begriff, dann halte man ihn, vergesse das Wort, gehe weiter, und fahre so fort; auf diese Weise wird man den Verstand einer Sache am besten ins reine bringen, und allerdings gibt es Werke, die nur so gelesen werden dürfen. Aber nun denke man sich dieses Denken des Begriffes abermals, vergleiche das Denken beider Begriffe, und gebe acht auf ihre Differenz; sie wird sich dir von selbst ergeben, denn noch weißt du sie nicht, du kannst sie daher nicht wollen, du kannst sie nur innewerden, sie finden, dich so und so modifiziert finden. Hätte ich ein sprachloses System auf diese Art im Kopfe: gewiß, ich würde es nie verlieren. Auch würde sich auf diese Art das Ideal einer Sprache aufstellen, ja finden, lassen. - (rit)

Denken (8) Wozu denkt der Mensch? wozu ist es nütze? - Wozu berechnet er Dampfkessel und überläßt ihre Wandstärke nicht dem Zufall? Es ist doch nur Erfahrungstatsache, daß Kessel, die so berechnet wurden, nicht so oft explodieren! Aber so, wie er alles eher täte, als die Hand ins Feuer stecken, das ihn früher gebrannt hat, so wird er alles eher tun, als den Kessel nicht berechnen. — Da uns Ursachen aber nicht interessieren, - werden wir sagen: Die Menschen denken tatsächlich: sie gehen, z.B., auf diese Weise vor, wenn sie einen Dampfkessel bauen. - Kann nun ein so erzeugter Kessel nicht explodieren? O doch.  - (wit)

Denken (9)  Wenn man zu anhaltend über den nämlichen Gegenstand nachdenkt: Es gilt hier das nämliche Gesetz, was bei der Muskelbewegung stattfindet. Wenn man den Arm immer in derselben Richtung bewegt, so ist man in einer Viertelstunde müder, als wenn man zwei Stunden lang verschiedene Arten von Bewegung damit gemacht hätte. Ebenso mit den Geistesgeschäften. Es erschöpft nichts mehr, als das beständige Einerlei in dem Gegenstand und der Richtung der Denkkraft, und Boerhave erzählt von sich selbst, daß er, nachdem er einige Tage und Nächte immer über den nämlichen Gegenstand nachgedacht hatte, plötzlich in einen solchen Zustand von Ermattung und Abspannung verfallen wäre, daß er eine geraume Zeit in einem gefühllosen und totenähnlichen Zustand gelegen habe.  - (huf)

Denken (10) Ich scheue mich, in der Aufzählung der grundlegenden Schriften Fuhrmanns eine Inhaltsangabe zu präzisieren. Der Inhalt ist von der üblichen verstandesgemäßen Aufnahme her nicht entscheidend. Er schwindet einem unter der Hand weg, er löst sich auf in eine Kette von Assoziationen, die jeweils wieder nur durch den letzten Ausgangspunkt zu dem Ganzen zusammengebunden sind. Der Unterschied zum schlußfolgernden Denken besteht eben darin, daß es auf den ersten Anschlag ankommt, und daß am Ende der Kette, auf diesen Anschlag bezogen, sich schließlich ein Zusammenhang aufhellt, den man sich in der Folge dieses Denkprozesses selbst erarbeitet hat, der voll neuen intensiven Lebens ist und den man als weiteren Anschlag einsetzen kann, um einer neuen Formulierung zu folgen und weiterzudenken. Das ursprüngliche Thema wechselt, es vertieft sich und kehrt auf das eigene assoziative Denken bezogen zurück mit einer völlig veränderten Perspektive.  - Aus: Franz Jung, Erinnerung an einen Verschollenen. Ernst Fuhrmanns Lehre von den Zusammenhängen. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 1, Salzhausen / Frankfurt am Main 1981

Denken (11)

Nun vernimm noch in Kürze, wodurch in Bewegung gesetzt wird
Unser Geist und woher der Gedanke zum Denken gebracht wird.
Erstlich behaupte ich dies: es bewegen sich Bilder der Dinge
Viele auf vielfache Art nach allen möglichen Seiten.
Zart ist ihr Wesen; drum bleiben sie leicht in der Luft aneinander
Bei der Begegnung hängen wie Spinnengewebe und Blattgold.
Sind ja doch solcherlei Bilder viel feiner in ihrem Gewebe,
Als was sonst uns die Blicke ergreift und das Auge kann reizen.
Denn durch die Maschen des Leibes gelangen uns solche ins Innre,
Wecken den duftigen Geist und reizen die Sinnesempfindung.
So erblicken wir denn Centauren und Glieder der Scylla,
Fratzen des Höllenhunds und Bilder von lange Entschlafnen,
Deren Gebein in der Todesnacht umschließet die Erde.
Überall schwärmen ja Bilder herum von allerlei Arten,
Die teils erst in den Lüften sich ganz selbständig entwickeln,
Teils auch irgendwie aus verschiedenen Dingen sich lösen,
Und aus deren Gestalten sich formt ein neues Gesamtbild.
Denn das Centaurenbild kann gewiß nicht vom Lebenden stammen,
Weil es ja nie in der Welt solch lebendes Wesen gegeben;
Doch wenn der Zufall eint die Bilder vom Roß und vom Menschen,
Hängen sie leicht aneinander, da, wie schon früher gesagt ward,
Sie gar feine Natur und zartes Gewebe besitzen.
Ebenso bilden sich auch noch sonst gleichartige Bilder.
Dringen nun diese beweglich mit äußerster Leichtigkeit weiter,
Kann, wie ich früher gezeigt, ein beliebiges einziges Bildchen
Auch schon durch einen Stoß, da es fein ist, den Geist uns erregen.
Denn auch dieser ist selbst gar wundersam zart und beweglich.

Daß dies so, wie ich sage, geschieht, kannst leicht du begreifen;
Denn da das geistige Schauen dem leiblichen ganz analog ist,
Muß sich auch jenes natürlich auf ähnliche Weise vollziehen.
Da ich nun oben gelehrt, daß wenn ich den Löwen, zum Beispiel,
Sehe, mein Auge einmal durch Bilder des Löwen gereizt wird,
Gilt auch der Schluß, daß der Geist auf ähnliche Weise erregt wird,
Nämlich durch Bilder von Löwen und anderem, was er so wahrnimmt
Grad wie das Auge, nur daß er noch zartere Bilder kann schauen.
Eben darum bleibt, wenn auch die Glieder im Schlummer sich strecken,
Wach noch die geistige Kraft. Nur daß dieselbigen Bilder
Wie im Wachen, so jetzt auch im Traume die Seele uns reizen,
Aber so stark, daß wir glauben noch lebend manchen zu schauen,
Den schon das Leben verlassen und Tod und Erde verschluckt hat. 

- (luk)

Denken (12)   Das komplizierteste Organ in der Natur von Menschen ist das Hirn. Es ist auffällig, daß menschliche Hirne überhaupt nicht in der Form der sog. Rationalität arbeiten. Weder arbeiten sie von ihrer Natur oder Einrichtung her logisch noch teleologisch (zielbezogen), noch theologisch (mythenbildend), noch machen sie die gewaltigen Pausen wirklich, die sie scheinbar machen, wenn sie diszipliniert oder nach Arbeitsanweisung funktionieren. Sie befinden sich vielmehr, gerade wenn sie nach den Kriterien eines unternehmerisch geführten Betriebs »nichts tun«, auf höchster Arbeitsstufe, während längerdauernder Zwang zum Nichtstun sie lähmt. Wenn einer »gar nichts denkt«, zeigt das Enzephalogramm »weißes Rauschen«, hohe Aktivität.  - Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6. Frankfurt am Main 1979

Denken (13)  (Sollte der simultane Denker und Beobachter - theils der thetische - theils der synthetische Denker und Beobachter seyn - i.e. der Naturmensch - und der gebildete Mensch. Der successive Denker ist der Gelehrte im gewissen Sinn - und der antithetische Denker und Beobachter. Thun zerfällt gleichsam in Denken und Beobachten - daher ist der Zustand des abwechselnden Denkens und Beobachtens der gelehrte Zustand. Ein Einfall ist ein synthetischer Gedanke. Was zugleich Gedanke und Beobachtung ist - ist ein kritischer im engern Sinn, genialischer Keim. Seine Entwicklung durch mehrere solche Keime. Der Naturmensch wird doppelt - ein Gelehrter und ein gemeiner Mann. (Theoretiker und Practiker im Gewöhnlichen Sinn.) Der Keim des gebildeten Menschen ist der genialische Keim - die genialische Konstitution. Die Bildung des Genies hat wieder drey Perioden - die thetische - Antithetische und Synthetische.

(A. der genialische Denker fängt mit Behauptungen an - rückt zur Polemik - gegen sich und andre - fort - und endigt mit einem System der Behauptungen.)

Der Naturmensch fängt mit unzusammenhängenden Thatsachen und Erfahrungen an - geht zu antithetischen Beziehungen und Erfahrungen fort - und endigt mit einer Theorie seiner Erfahrungen - gerade da, wo der genialische Denker anfängt - dessen Behauptungen nichts, als unzusammenhängende kritische Principien sind. Der genialische Denker behandelt die vorige Sfäre - daher 1. sammelt er Beobachtungen üb[er] den Naturmenschen - über den gemeinen Mann und Gelehrten - und über den systematisirenden Gelehrten - 2. bezieht er die Summe von Beobachtungen auf einander - antinomisirt sie  3. systematisirt sie.   - (bro)

Denken (14)   All mein stilles Denken geschah mit Hilfe des Penis. Zunächst gab es da den Binominalsatz, eine Bezeichnung, die mir immer rätselhaft geblieben war: ich legte ihn unter das Vergrößerungsglas und studierte ihn von X bis Z. Da war Logos, was ich immer mit Atem gleichgesetzt hatte: ich fand, daß es im Gegenteil eine Art hysterischer Zirkulationsstockung war, eine Maschine, die, lange nachdem die Speicher gefüllt und die Juden aus Ägypten vertrieben waren, fortfuhr, Korn zu mahlen. Da war Bukephalos, für mich vielleicht das faszinierendste Wort meines ganzen Wortschatzes: ich ließ ihn, wann immer ich in der Klemme war, vorbeitraben, und mit ihm natürlich Alexander und sein gesamtes purpurgekleidetes Gefolge. Was für ein Pferd! Im Indischen Ozean gezeugt, und das letzte seiner Rasse, kannte es während des mesopotamtschen Abenteuers keine andere Stute als die Königin der Amazonen. Da war das schottische Gambit! Ein wunderlicher Ausdruck, der nichts mit Schach zu tun hatte. Er vergegenwärtigte sich mir immer in Gestalt eines Mannes auf Stelzen, Seite 2498 von Funk und Wagnalls Unabridged Dictionary. Ein Gambit war eine Art Sprung ins Dunkle mit mechanischen Beinen. Ein Sprung ohne Zweck - daher Gambit! Klar wie dicke Tinte und ganz einfach, wenn man es erst einmal begriffen hatte. Dann war da Andromeda und die gorgonische Medusa und Kastor und Pollux himmlischen Ursprungs, auf ewig in den ephemeren Sternstaub gebannte mythologische Zwillinge. Dann war da lucubration, ein ausgesprochen sexuelles Wort, das jedoch so zerebrale Bezüge hatte, daß mir unbehaglich zumute wurde. Immer ‹midnight lucubrations›, wobei mitternächtlich eine unheilvolle Bedeutung hatte. Und dann Arras. Jemand war einmal zu dieser oder jener Zeit ‹hinter dem Arras›, das heißt dem gewirkten Wandteppich aus Arras, erdolcht worden. Ich sah ein Altartuch aus Asbest, und in ihm war ein schrecklicher Riß, der vielleicht von Caesar selbst stammte.

Es war, wie gesagt, ein sehr stilles Denken, in dem die Menschen der frühen Steinzeit geschwelgt haben müssen. Die Dinge waren weder absurd noch zu klären. Es war ein Zusammensetzspiel, das man, wenn man seiner müde wurde, mit dem Fuß wegstoßen konnte. Alles konnte leicht beiseite geschoben werden, sogar der Himalaja. Es war ein Denken, das dem Mohammeds genau entgegengesetzt war. Es führte nirgendwohin und war daher genußreich.   - (wendek)

Denken (15)  Glücklich derjenige, der nicht denkt, weil er instinktgemäß und dank seiner organischen Bestimmung das verwirklicht, was wir alle auf Umwegen und infolge einer anorganischen oder gesellschaftlichen Bestimmung verwirklichen müssen. Glücklich derjenige, der sich am meisten den Tieren annähert, denn er ist ohne Mühsal, was wir alle dank auferlegter Mühsal sind; denn er kennt den Weg nach Hause, den wir anderen nicht finden, es sei denn auf Feldwegen von Fiktion und Heimkehr; weil er verwurzelt wie ein Baum einen Teil der Landschaft und mithin der Schönheit bildet und nicht wie wir ist: Mythen der Landschaft, Statisten in der lebendigen Tracht der Nutzlosigkeit und des Vergessens. - Fernando Pessoa, nach: Tintenfaß 15, Zürich 1986

Denken (16)  

Denken (17)  Mein Denken, das bin ich: deshalb kann ich nicht aufhören. Ich existiere, weil ich denke... und ich kann mich nicht daran hindern zu denken. Sogar in diesem Moment - es ist gräßlich, wenn ich existiere, so, weil es mich graut zu existieren. Ich bin es, ich bin es, der mich aus dem Nichts zieht, nach dem ich trachte: der Haß, der Abscheu zu existieren, das sind wiederum nur Arten, mich existieren zu machen, in die Existenz einzutauchen. Die Gedanken entstehen hinter mir, wie ein Schwindelgefühl, ich fühle sie hinter meinem Kopf entstehen ... wenn ich nachgebe, kommen sie gleich hier nach vorne, zwischen meine Augen - und ich gebe immer nach, das Denken schwillt an, schwillt an, und da ist es, riesengroß, das mich vollständig ausfüllt und meine Existenz erneuert. - Jean-Paul Sartre, Der Ekel. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1938)

Denken (18)  

Denken (19)  327. »Kann man denken, ohne zu reden?« - Und was ist Denken! - Nun, denkst du nie? Kannst du dich nicht beobachten und sehen, was da vorgeht? Das sollte doch einfach sein. Du mußt ja darauf nicht, wie auf ein astronomisches Ereignis warten und dann etwa in Eile deine Beobachtung machen.

328. Nun, was nennt man noch »denken«? Wofür hat man gelernt, das Wort zu benützen? - Wenn ich sage, ich habe gedacht, - muß ich da immer recht haben? -Was für eine Art des Irrtums gibt es da? Gibt es Umstände, unter denen man fragen würde: »War, was ich da getan habe, wirklich ein Denken; irre ich mich nicht?« Wenn jemand, im Verlauf eines Gedankengangs, eine Messung ausführt: hat er das Denken unterbrochen, wenn er beim Messen nicht zu sich selbst spricht?

329. Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ›Bedeutungen‹ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens.   - (wit)

Denken (20)  Ursprünglich habe sich das Denken aus der Angst entwickelt, den Hals nicht voll genug zu kriegen, weshalb sich das Gehirn auch sinnvollerweise gleich in der Nähe der Kauwerkzeuge als eine Art Geschwulst aufgepfropft habe. Dann jedoch sei der Kopf immer schwerer geworden und habe durch eine Verfeinerung der Sinne genau das verhindert, was er ursprünglich habe befördern wollen. Nicht länger habe er alles wahllos in sich hineinstopfen können, sondern habe das Hineinzustopfende zuvor begutachtet und analysiert, berochen und belutscht. Der Mensch habe nicht länger über den Darm entschieden, ob etwas genießbar sei oder nicht, sondern habe diese Entscheidung immer mehr an den Kopf abgetreten, der von dieser Entscheidung schlicht und einfach überfordert gewesen sei, denn während für den Darm alles gleich aussehe, sehe für den Kopf alles anders aus, und da der Kopf nicht genügend abstrahieren könne, werde er durch die scheinbaren Unterschiede verwirrt und entwickle das Gefühl des Ekels und im Schlepptau des Ekels eine Art Gesundheitslehre.

Wenn man sich jedoch beständig fragen müsse, und darin bestehe nun einmal das Denken, sich beständig fragen zu müssen, warum man dies oder jenes tue, oder dies oder jenes unterlasse, dann werde man seines Lebens nicht mehr froh. Man könne dann nicht einfach einen Flug buchen und nach New York oder Los Angeles oder zu den Pyramiden fahren, weil man sich gleichzeitig fragen würde, warum man überhaupt auf den Gedanken gekommen sei, nach New York oder Los Angeles oder zu den Pyramiden zu fahren. Wenn man dann innehalte, etwa auf dem Weg zum Reisebüro innehalte und einen kleinen Umweg gehe durch einige Straßen, um die Idee einer Reise und die Ziele dieser Reise noch einmal grundsätzlich zu überdenken, dann komme man schon bald darauf, daß es sich um ein Abgleichen von Bildern handele, daß man ein Opfer der Bilder geworden sei, die einem andere präsentierten und daß man es einfach nicht mehr aushalte, sich nur innerhalb von Bildern zu bewegen, weshalb man wenigstens einen Teil dieser Bilder abgleichen und damit ad acta legen wolle, um sich dem wirklichen Leben zuzuwenden, denn darin bestehe die Hoffnung des Abgleichens von Bildern, daß man sich nach diesem Abgleichen dem richtigen Leben zuwenden könne, was natürlich ein grundlegender Irrtum sei.  - (rev)

Denken (21)  »Fragen können heißt: warten könnten, sogar ein Leben lang.« Die Fragen entstehen sozusagen von selbst. Legein = Sammeln, heißt deshalb Lesen und zugleich Denken. Unter dem Druck des Todes aber sammelt nicht jeder ein, liest nicht jeder. Die wenigen, die sich als Denker ausbilden (in kühlen Hörsälen als Gelehrte, Philosophen, Habilitierte), sind als Führer oder Hirten organisiert, als Anführer des Denkens, als VERFÜHRER DER JUGEND ZUR GEDANKENLIEBE. Diese Professionalisierung verzerrt das Bild des Denkens.

Jetzt tragen die Soldaten, zusätzlich zu ihren Gasmasken, dem Sturmgewehr, dem Notgepäck, verkleinerte Ausgaben philosophischer Schriften mit sich durch die Weiten Rußlands. Ihnen ist geraten worden, sich an diesem »schriftlich Gesammelten« wie an einem Feuerchen am Abend nach dem Gefechtstag zu wärmen. Abends sind sie zu müde dafür. So ist das Denken verkümmert zur STELLE, an der es möglich wäre, sich daran zu erinnern, daß es die Kunst des Unterscheidens und die Kunst des Fragens irgendwann einmal gab. Das Denken steht insofern auf einsamem Posten. Ist es die Weitergabe von Geheimnissen (»Urfragen«) durch Erleuchtete? Heraklit nimmt das nicht an.

Statt dessen gibt es stürmische Zeiten. In ihnen verdichten sich die Ereignisströme. Es scheint, daß der Weltgeist sich in Bewegung gesetzt hat. In solcher Zeit sprießen die Fragen in so querschüssiger Weise, daß-sie in jedermanns Kopf sich als FRAGEN KÖNNEN selber organisieren. Ein wahrer Philosoph hofft in seinem Leben auf einen dieser Momente; auf die Berührung mit allzuviel Praxis kann er verzichten, wenn ihn nur wenigstens einmal ein solcher »Schwerkraftstrudel der Geschichte« unmittelbar berührt. - (klu)

Denken (22)  Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproduktive Einbildungskraft) Hören. Dem Taubgebornen ist sein Sprechen ein Gefühl des Spiels seiner Lippen, Zunge und Kinnbackens, und es ist kaum möglich, sich vorzustellen, daß er bei seinem Sprechen etwas mehr tue, als ein Spiel mit körperlichen Gefühlen zu treiben, ohne eigentliche Begriffe zu haben und zu denken. - Aber auch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder andere, und an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird. - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (zuerst 1798/1800)

Denken (24)  Von Mesmers imponierender Kraft zeugt folgendes Beispiel, das er selbst erzählt: »Ich bereute die Zeit, die ich anwandte, Ausdrücke für meine Gedanken zu suchen. Ich fand, daß wir jeden Gedanken unmittelbar, ohne langes Nachsinnen in die Sprache einzukleiden pflegen, die uns die bekannteste ist. Und da faßte ich den seltsamen Entschluß, mich von dieser Sklaverei loszumachen. Drei Monate dachte ich ohne Worte. Als ich dies Nachdenken endete, sah ich mich voll Erstaunen um. Meine Sinne betrogen mich nicht mehr wie vorher. Alle Gegenstände hatten für mich eine neue Gestalt.« Er wollte also denken, wie man im Traume denkt, unmittelbar, oder man könnte sagen, er wollte das Denken in Schauen verwandeln und setzte das auch durch, wie sich von selbst versteht nur bis zu einem gewissen Grade. Es läßt sich denken, daß, wer solche Herrschaft über sich selbst ausübt, auch über andere, schwächere Menschen viel vermögen kann. - Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall. Tübingen 1951 (zuerst 1899)


Träume Werkzeug Gehirn Gehirn


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VB
Forschung


Synonyme

Verschwinden Wegdenken