acktheit  Manche Träume sind indiskret und kehren immer wieder, da ist Vorsicht geboten; man ist beispielsweise nackt oder in Unterhosen unterwegs oder im Schlafanzug auf einem großen Empfang zusammen mit Päpsten und Generälen. Im allgemeinen wäre es müßig, sich da eine Unterhose oder sonst ein Kleidungsstück zu beschaffen, indem man sie sich bei einem Würdenträger oder Kirchenfürsten ausleiht oder dem Butler zu entreißen versucht. Der weiseste Standpunkt ist, wie ich glaube, sich zu vergegenwärtigen, daß im Traum die Nacktheit keineswegs unschicklich, Unterwäsche nicht wesentlich ist, man wird nämlich feststellen, daß außer dem nackten oder spärlich bekleideten Träumer selbst niemand Notiz davon nimmt; also ist Ruhe geboten, Lässigkeit, Höflichkeit und ein bißchen, aber nur ein bißchen, Humor. Einem Freund von mir träumte einmal, er hänge nur mit seinen Hosenträgern bekleidet an einem Baum und führe ein Gespräch, das er selbst als »unangenehm« bezeichnete, mit einem weißen Kater, höchstwahrscheinlich einem Geistlichen, da dieser mit einem wohlerzogenen »Sie gestatten doch« allenthalben die Plauderei unterbrach, um eine Schlange umzubringen. - (man)

Nacktheit (2)  Bernarda Cabrera, die Mutter des Mädchens und Gattin ohne Titel des Marques von Casalduero, hatte am frühen Morgen ein dramatisches Abführmittel eingenommen: sieben Körner Antimon in einem Glas mit rosa Zucker. Sie war eine stolze Mestizin aus der sogenannten Ladentisch-Aristrokratie gewesen, verführerisch, raubgierig, lebenslustig, und ihr hungriger Schoß hätte eine Kaserne befriedigen können. Innerhalb von wenigen Jahren war sie jedoch durch den übermäßigen Genuß von gegorenem Honig und Kakaotabletten aus der Welt verschwunden. Ihre Zigeuneraugen waren erloschen, ihr Scharfsinn verließ sie, sie schiß Blut und brach Galle, und ihr ehemals sirenenhafter Leib war aufgebläht und kupferfarben wie der eines Dreitagetoten und gab explosionsartig übelriechende Winde von sich, die den Wachhunden Angst einjagten. Sie verließ kaum das Zimmer, und selbst dann lief sie splitternackt herum oder in einem längsgestreiften Oberrock ohne etwas darunter, der sie nackter erscheinen ließ als ohne etwas an. - Gabriel García Márquez, Von der Liebe und anderen Dämonen. München 2001 (zuerst 1994)

Nacktheit (3) Nach Tisch fuhr ich mit Maillol zum Stadion, wo wir auf der Terrasse über den Schwimmbassins saßen und dem Bade- und Sonnenbetrieb zusahen. Maillol war begeistert über die unbefangene Nacktheit. Er wies immer wieder auf die schönen Körper von Mädchen und jungen Männern und Knaben hin: »Si j'habitais à Francfort, je passerais mes journées ici à dessiner, il faut absolument que Lucien voie cela.« Ich erklärte ihm, daß dieses nur ein Teil eines neuen Lebensgefühls, einer neuen Lebensauffassung sei, die in Deutschland nach dem Kriege siegreich vorgedrungen sei, man wolle wirklich leben, Licht, Sonne, Glück, seinen eigenen Körper genießen. Es sei eine nicht auf einen kleinen, exklusiven Kreis beschränkte, sondern eine Massenbewegung, die die ganze deutsche Jugend ergriffen habe.  - Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 bis 1937. Hg. Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982 (it 659)

Nacktheit (4) Das Nackte war tabu, will sagen: etwas Unreines. Man duldete es an den Statuen, bisweilen mit einigen Vorbehalten. Gesetzte Personen, die es im lebendigen Zustand verabscheuten, bewunderten es in Marmor. Jedermann fühlte dunkel, daß weder der Staat, noch die Justiz, noch das Unterrichts- und Kirchenwesen, ja überhaupt nichts Seriöses sich zu halten vermöchte, wenn die Wahrheit nackt am Tage läge. Der Richter, der Priester, der Lehrer haben Kleider nötig, denn ihr Nacktsein zerstörte jenen Nimbus von Unfehlbarkeit, ohne den eine Person, welche die Rolle einer Abstraktion zu spielen hat, nicht auskommt.  - (deg)

Nacktheit (5)

TARTUFFE: sich wendend Was will die Jungfer ?

DORINE:                                                             Ich...

TARTUFFE: Sich ein Tuch aus der Tasche ziehend
Was seh ich da? O Gott! Erbarm dich gnädiglich!
Schnell! Dieses Tuch!

DORINE:             Wozu?

TARTUFFE:                 Den Busen zu verhüllen,
Den ich nicht sehen darf. Nur schnell, um Gottes willen!
Ein solcher Anblick muß die Seele schwer vergiften!
Und weckt Gedanken auf, die weitres Unheil stiften.

DORINE: Wie? Lassen Sie so leicht sich in Versuchung führen?
Dies bißchen nackte Haut kann Sie schon irritieren?
Was Sie so hitzig macht, Herr, ist mir unerfindlich,
Denn ich bin keineswegs so überaus empfindlich,
Und ständen Sie vor mir auch völlig splitternackt, -
Ich wette, daß mich da kein süßer Schauder packt. - Moliére, Tartuffe

Nacktheit (6)   Habe ich Dir schon von der Nacktheit der Gräben erzählt? Das ist ganz ungewöhnlich. Die Nacktheit ist immer wenig aufregend, und es ist einer Deiner köstlichsten Zauber, daß Du selbst nackt aufregend bleibst, aber die Nacktheit der Gräben hat etwas Chinesisches an sich, etwas von einer großen asiatischen Wüste, es ist sauber und öde und so ruhig. Gestern Furchtbares erlebt. Ich kam durch ein verödetes Dorf. Ein Husar, blond, jung, offenes und robustes Aussehen, dazu hübsch, spricht mich an: »Obergefreiter, wo ist der Stabsarzt?« - »Hier weiß ich nicht, ich kenne nur unseren in B.« - »Ich kann nur hier hingehen, mein rechter Fuß fault ab.« Drei Stunden später komme ich durch dasselbe Dorf, ich sehe meinen Husaren wieder. Er ruft mir entgegen: »Ich habe ihn gefunden.« - »Was hat er gesagt?« - »Er hat mir gesagt, daß mein Fuß abfaulen würde und daß er nichts dagegen machen könnte.« - »Na und, hat er nichts gemacht?« - »Er hat mir Jodtinktur draufgeschmiert und mir einen größeren Stiefel geben lassen.« -»Aber sie werden dich doch pflegen!« - »Können sie nicht, ich gehe heute abend mit meinem Tornister zur Marquise (das sind die Schützengräben), was soll's, mein Lieber, ist nun mal nicht anders, mach's gut.« Ich war wie erstarrt, diesen so lieben und so einfachen Kerl mit seinem abfaulenden Fuß da sitzen zu sehen. Ich weiß übrigens nicht, was das bedeutet, vielleicht die Syphilis! Armer Kerl. Meine sehr geliebte Lou, ich nehme Dich in meine Arme und küsse Dich lange, lange. Deine Zunge, hart wie ein Meeresfisch, gleitet durch meinen Mund und betört mich, Deine Augen kentern wie zwei von einem U-Boot getroffene große Dreadnoughts. Dann beuge ich Dich herunter, meine Liebe, und mit meinem Schwanz peitsche ich den bewundernswerten Po meines unartigen kleinen Jungen, Du hebst und senkst ihn, meine köstliche Lou, und spreizt ihn wie ein schöner Engel, der im Paradies Atem schöpft. - (apol)

Nacktheit (7)

Richard Ungewitter »bei geistiger Arbeit zu Hause«.
Aus seinem Buch: Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher,
gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung. Stuttgart 1920
.

- Aus: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 bis 1933. Wuppertal 1998

Nacktheit (8)  Da der Anführer der unteren Orden sah, wie alle dem Adam huldigten, wurde er von Neid erfüllt und verweigerte sich und wandte sich ab und sprach zu seinen Mächten: Verehrt ihn nicht und preist ihn nicht mit den Engeln! Wahrlich, mir sollte er huldigen! Denn ich bin Feuer und Geist, er aber ist bloß aus einem Staubkörnchen gebildet.

Also sprach der Empörer und wurde ungehorsam und trennte sich aus eigenem Willen von Gott.

Da ward er gestürzt, daß er fiel und seine Schar, und es geschah zu der zweiten Stunde des sechsten Tages, und taten ihren großen Fall aus dem Himmel, und die Kleider ihrer Herrlichkeit wurden ihnen genommen.

Und sein Name ward genannt Satana, weil er sich abgewandt hatte, und Scheda, weil er gestürzt worden war, und Daiwa, weil er das Kleid seiner Herrlichkeit verlor.

Und von Stund an ist Satan nackt mit all seinem Heer und sind bloß bis auf den heutigen Tag und häßlich anzuschauen. - Das Buch Ephraim, nach: Die andere Bibel. Hg. Alfred Pfabigan. Frankfurt am Main 1990

Nacktheit (9)  Der Bürger Dartigoeyte, ein hervorragendes Mitglied der Bergpartei, ist in Auch auf Dienstreise, meistens ist er betrunken, am liebsten fährt er im offenen Wagen, ein Frauenzimmer im Arm, durch die Stadt. Es kommt auch vor, daß er sich im Weinrausch öffentlich seiner Kleider entledigt und nackt in der Theaterloge erscheint. Eines Abends, während er im Jakobinerklub spricht, fällt ein Ziegelstein vor seine Füße, ohne ihn zu treffen. Der mutmaßliche Urheber »dieses schrecklichen Attentates auf unseren braven und würdigen Dartigoeyte« wird vor Gericht gestellt, mit ihm acht Personen, die seit Monaten im Gefängnis sitzen und die willkürlich ausgelesen werden. Alle neun werden »wegen Verschwörung« zum Tode verurteilt und geköpft.

Der Abgeordnete Javogue, der in Feurs die Aristokraten von piemontesischen Kriegsgefangenen auf öffentlichem Platz erschießen läßt, wobei er, zwischen zwei hochbusigen Göttinnen der Vernunft thronend, zusieht, ist ebenfalls mit »der Bekämpfung der Vorurteile« beschäftigt. Er zeigt sich von Zeit zu Zeit den Bürgern »im Zustande der Nacktheit, um die alte republikanische Schlichtheit wieder aufleben zu lassen«. - Friedrich Sieburg, Robespierre. München 1965 (zuerst 1935)

Nacktheit (10)  Die Mode, der Sport, verschiedene Theorien, die Vereinfachung der Sitten, die für die wachsende Komplizierung der materiellen Lebensbedingungen entschädigt, das Nachlassen allerherkömmlichen Hemmungen (und bestimmt auch der Teufel) haben die ehemalige Strenge des Nacktheitsstatuts in auffälliger Weise gemildert. Auf dem von zahllosen Nacktheiten wimmelnden Badestrand bereitet sich vielleicht ein völlig neues gesellschaftliches Leben vor. Man duzt sich zwar noch nicht; es gibt noch ein paar äußere Formen, wie es noch ein paar zur Not verhüllte Bezirke gibt; aber zu hören, wie ein nackter Herr und eine nackte Dame einander „mein Herr" und „gnädige Frau" titulieren, ist schon eher etwas anstößig. Kaum ein paar Jahre sind es her, da waren der Arzt, der Maler und wer in zweideutigen Häusern verkehrte, die einzigen Sterblichen, die etwas vom Nackten verstanden, jeder im Rahmen seiner Tätigkeit. Ein wenig gaben sich auch die Liebenden damit ab; aber ein Trinker braucht nicht unbedingt ein wirklicher Genießer und Kenner der Weine zu sein. Trunkenheit hat mit Kennerschaft nichts zu tun.

Das Nackte war tabu, will sagen: etwas Unreines. Man duldete es an den Statuen, bisweilen mit einigen Vorbehalten. Gesetzte Personen, die es im lebendigen Zustand verabscheuten, bewunderten es in Marmor. Jedermann fühlte dunkel, daß weder der Staat, noch die Justiz, noch das Unterrichts- und Kirchenwesen, ja überhaupt nichts Seriöses sich zu halten vermöchte, wenn die Wahrheit nackt am Tage läge. Der Richter, der Priester, der Lehrer haben Kleider nötig, denn ihr Nacktsein zerstörte jenen Nimbus von Unfehlbarkeit, ohne den eine Person, welche die Rolle einer Abstraktion zu spielen hat, nicht auskommt. Alles in allem ließ man das Nackte nur unter zwei Gesichtspunkten gelten: einerseits als Symbol des Schönen, anderseits als ein Symbol des Unanständigen.  - (deg)

Scham Kleidung Sichtbarkeit Schamlosigkeit Schamlosigkeit
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