tille Hat der Mensch die Stille hergestellt, so wird er sein eignes Leben betrachten als ein ganz Fremdes, Er soll in jedem Augenblick, in dem er die Stille gewonnen hat, sich als Toten sehen, der er auch ist, und über sich urteilen. Das Wertlose aus seinem Leben muß er fortwerfen. Das wenige, was ihm erhaltbar scheint, soll er hinausnehmen aus dem Ganzen. So verzehrt er zuerst seine letzte Erscheinung. Ein Mensch, der nicht Hunger hat auf den Tod und das nächste Leben, ist nichts. Der eigne Körper muß verzehrt werden. Auch das eigne gewesene psychische Leben muß man verzehren. Damit beginnt das Leben. Man muß gewiß sein, daß viel von dem, den man so vernichtet hat, am nächsten Tag nicht mehr vorhanden ist. Im Urteil, in den Plänen, im Tun ist ein solcher Mensch anders am andren Tage, als ihn irgend jemand erwartet hat.
Immer wieder gewinnt ein Mensch einen Augenblick Stille um sich, und er sieht einen seiner Gegner vor sich aufstehen. Er sieht ihn an als einen Toten. Wenn er selbst ein andrer wird, kann auch sein Gegner nicht derselbe bleiben. Als einen Fremden betrachtet er seinen toten Gegner, seinen bösen Widersacher, und versucht, dieses abgeschlossene Leben so zu führen, wie es ihm nur möglich ist. Die Sekunden sollen ihm zu Jahren werden. Da wird auch das Ich, das der Stille gestern von sich sterben ließ, ihm in der Gestalt des neuen Seins entgegenprallen, und sie kommen vor ihn beide, die gut Bekannten vor den unbekannten Richter. So hält der Stille zwei Leben vor sich und weiß nicht, in welchem von beiden er das Recht findet. Beide sind tot für ihn, und er versucht, aus ihrem Kampf das, was im wachsenden Leben stand, von dem zu scheiden, was aus alten Tierheiten aus dem alten Unveränderbaren kam. In einem dritten Augenblick der Stille wird ihm wieder ein andrer begegnen, und so hat er die kommenden Zeiten voller Begegnungen vor sich. Sie alle werden, wie er selbst, tot sein: Gewesene. Er wird nicht mehr verschweigen, wie er und jeder geflohen sind zum Trunk und sich an ihren engen Besitz gehalten haben, wie sie vorübergingen an einer ungeheuren weiten Welt, in der sie alles hätten mein nennen dürfen (wenn es auch keinen Sinn hatte), aber sie gingen an allen Vielheiten vorüber und suchen nun den Weg ins Freie.
Und wieder in der Stille wird sich so einer ein neues Leben
bauen, nur um Erloschenes verlassen zu können. Bescheiden baut
er. Nicht das Unmögliche suchend, sondern das Leichte, denn er
wünscht mehr Stille als bisher zu schaffen. - Ernst Fuhrmann,
Was die Erde will. Eine Biosophie. München 1986 (Matthes &
Seitz, debatte 9, zuerst 1930)
Stille (2) Es war noch nicht sehr spät, aber ich war aus Müdigkeit schon zu Bett gegangen; ich hielt es für wahrscheinlich, daß ich schlafen würde. Da fuhr ich auf, als hätte man mich berührt. Gleich darauf brach es los. Es sprang und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das Stampfen war fürchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock tiefer, deutlich und böse gegen die Decke. Auch der neue Mieter war natürlich gestört. Jetzt: das mußte seine Türe sein. Ich war so wach, daß ich seine Türe zu hören meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor, als nähere er sich. Sicher wollte er wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine wirklich übertriebene Rücksicht. Er hatte doch eben bemerken können, daß es auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt unterdrückte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an meiner Tür; und dann vernahm ich, darüber war kein Zweifel, daß er nebenan eintrat. Er trat ohne weiters nebenan ein.
Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es
still. Still, wie wenn ein Schmerz
aufhört. Eine eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob
eine Wunde heilte. Ich hätte sofort schlafen können; ich hätte
Atem holen können und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich
wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehörte mit in die
Stille. Das muß man erlebt haben, wie diese Stille war, wiedergeben
läßt es sich nicht. Auch draußen war alles wie ausgeglichen.
Ich saß auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande. Lieber Gott,
dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß neben dem Licht, sie
redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre
Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett bringen. Nun begriff
ich das leise Gehen draußen auf dem Gang. Ach, daß es das gab.
So ein Wesen, vor dem die Türen ganz
anders nachgeben als vor uns. Ja, nun konnten wir schlafen.
- Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge. Fankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)
Stille (3) Manchmal, wenn die Leute, auch
hierzulande, in den Gastgärten an den Tischen sitzen und es zwischendurch
still wird und nur noch ein Vor-sich-Hinschauen jedes einzelnen
stattfindet (es ist ganz und gar nicht jene »Totenstille beim
Heurigen« Horvàths), denke ich: die Menschen sind durch
und durch sanft, erschütternd sanft, und vor allem: ganz und
gar, endlich wieder, unverständlich, weder filmisch noch literarisch
belangbar. - Ja, taste mit dem, was du aufschreibst, niemanden
an, greife in niemanden ein, halte aber die Sätze für jedermann
offen, allen zugänglich. So wäre das Schreiben
das pure, unbefleckte Handeln, und doch ein Handeln: es soll
die Leute unantastbar machen, unantastbar erhalten - (
bleist
)
Stille (4) »Treibe das Leersein
bis zum Äußersten / und bewahre die Stille unerschütterlich:
die abertausend Geschöpfe ringsum
entfalten sich, / und ich schaue also ihre Wiederkehr«: Geradeso
war es heute früh mit den fallenden Blättern des Nußbaums, den
Schwunglinien der Vögel in der Luft,
ihrem Schaukeln in den Weinranken, dem Laub als Gehänge in der
Morgensonne, den dazugehörigen hockenden Katzen auf dem Erdboden
und mir, der den Kopf ins Morgengrün hob. »Stille, das ist die
Rückkehr der Bestimmung; die Rückkehr der Bestimmung nennt man
das Beständige, das Wissen vom Beständigen nennt man Erleuchtung«
- (
bleist
)
Stille (5) Leben
heißt Bewegung erleiden und Bewegung
machen. Die Bewegung tritt jedoch nur zum Teil als räumliche
Veränderung in Erscheinung. Ein viel größerer Teil der Bewegung,
die wir erleiden, geht ohne jede Standortveränderung vor sich.
Alles, was lebt, befindet sich in Schwingungen. Alles, was lebt,
tönt. Wir vernehmen jedoch nur einen Teil davon. Wir hören nicht
den Kreislauf des Blutes, das Sterben und Wachsen unseres Körpergewebes,
das Tönen der chemischen Prozesse. Doch die feinen Zellen unseres
Organismus, unserer Gehirn-, Nerven- und Fleischfasern werden
von den unhörbaren Tönen durchspült. Sie schwingen mit den Dingen,
die uns umgeben, mit. Darauf ist die Macht der Musik aufgebaut.
Wir können mit ihr tiefere Gefühlsschwingungen auslösen. Dazu
benutzen wir Musikinstrumente, bei denen hauptsächlich das ihnen
innewohnende Tonvermögen entscheidend ist. Das heißt: entscheidend
sind nicht die Lautstärke und die Tonfarbe, sondern der verborgene
Toncharakter, die Intensität, mit welcher der musikalische Reiz
die Nerven berührt. Das ist das Hauptproblem jedes Musikinstrumentes
und jedes Instrumentenbauers. Er muß sich bemühen, seine Musikinstrumente
mit einer möglichst hohen Tonintensität auszustatten. Das heißt:
er muß solche Instrumente bauen, die ansonsten ungehörte und
ungefühlte Schwingungen ins menschliche Bewußtsein heben. Das
Problem des Instrumentenbauers ist demnach die Belebung der Stille.
Er muß den verborgenen Ton aus der Stille herausschälen. -
Herr Cerný, nach: Gustav Janouch,
Gespräch
e
mit
Kafka
.
Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981 (Fischer
Tb. 5093, zuerst 1954)
Stille (6) Wir zogen von Chotyn nach Berestecko. Die Kämpfer dösten in ihren hohen Sätteln. Das Lied plätscherte, wie ein austrocknender Bach. Ungeheuerliche Leichen lagen an den tausend Jahre alten Kurganen. Bauern in weißen Hemden zogen vor uns die Mützen. Die Burka des Div-kom Pavlicenko wehte über dem Stab, wie ein düsteres Banner. Sein flauschiger Baslyk war über die Burka geworfen, und der krumme Säbel lag, wie angeklebt, an seiner Seite.
Wir ritten vorüber an Kosakenkurganen und dem Grabhügel Bogdan Chmelnickijs. Hinter dem Grabstein hervor kam ein Alter mit Bandura und sang uns mit Kinderstimme vom vergangenen Ruhm der Kosaken. Wir hörten sein Lied schweigend an, dann entrollten wir die Standarten und brachen zu den Klängen eines dröhnenden Marschs in Berestecko ein. Die Bewohner hatten die Fensterläden mit Eisenstangen verrammelt, und Stille, eine unumschränkt herrschende Stille hatte im Schtetl den Thron bestiegen.
Quartier bekam ich bei einer rothaarigen Witwe, die durch und durch nach Witwenschmerz roch. Ich wusch mich nach dem Ritt und ging auf die Straße. An den Telegraphenmasten hingen schon die Ankündigungen, daß Div.-Kriegskommissar Vinogradov am Abend einen Vortrag halten werde über den zweiten Kongreß der Komintern. Direkt vor meinen Fenstern waren einige Kosaken dabei, wegen Spionage einen alten Juden mit silbernem Bart zu erschießen. Der Alte winselte und riß sich immer wieder los. Da packte Kudrja aus der Maschinengewehreinheit den Kopf des Alten und klemmte ihn sich unter die Achselhöhle. Der Jude verstummte und spreizte die Beine. Kudrja zückte mit der rechten Hand den Dolch und erstach den Alten vorsichtig, ohne sich zu bespritzen. Dann klopfte er an das verrammelte Fenster.
— Wenn wer Interesse hat, — sagte er, — mag er ihn wegschaffen.
Das ist frei... - Isaak Babel, Die Reiterarmee. Berlin
1994 (Friedenauer Presse, neu übs. von Peter Urban, zuerst
1926)
Stille (7) Es ist ziemlich leer. Wind,
Wind und Wind. Morgens dringt in mein Erwachen das
Rauschen der Bäume, die die
Quinta umgeben, und diese wechselnden Winde aus dem Norden, dem Süden, dem Osten
wollen sich nicht beruhigen, der Ozean glänzt grün
und weiß, spritzt salzig auf an den felsigen Ufern mit Gekrach, Schaum explodiert;
auf die Sande unaufhörlicher Einsturm der sich drohend erhebenden und kochend
sich türmenden Wasser, kein Augenblick Rast, und ein
so weitschallendes Donnern und Rauschen, daß es sich in Stille verwandelt. Stille.
Dieses Toben ist Friede. Unbeweglich ist die Linie des Horizontes. Unbewegliches
Glänzen unermeßlicher Fläche. -
(
gom
)
Stille (8) - Silence (Komplementärbegriff).
Das Gegenteil von Lärm. Alles, was dem Gehör auffällt,
unterbricht die Stille. Es heißt, die Stille der Tempel
sei erhaben, die Stille der Nacht süß, die Stille der
Wälder macht uns angst, die Stille der Natur
ist tief, die Stille der Klöster trügerisch.
- Jaucourt, (
enc
)
Stille (9) Im Mondschein konnte man an der
Küste, wie ein Amphitheater zum Meer abfallend, eine riesige Stadt mit ungeheuren
Bauten erkennen. Es gab zwar Häuser, Plätze, Straßen und Türme wie anderswo
auch, doch jedes Ding war erschreckend groß und massig, hatte unvorstellbare
und furchterregende Proportionen. Zwischen den erhabenen, vom fahlen Licht erhellten
Fassaden waren die Tiefen pechschwarzer Straßen, öffneten sich die dunklen Schlünde
der Plätze, bodenlose Abgründe. Überall Stille, kein menschliches Wesen, kein
Licht, kein Lebenszeichen war zu sehen. Nur einige große Brunnen, durch überirdische
Zuflüsse verbunden und von Terrasse zu Terrasse abfallend, gaben ein kaltes
Plätschern von sich. Doch es war eine drohende Stille, man glaubte, jeden Augenblick
müsse ein Kommando, ein schauderhaftes Wort sie zerreißen. - Tommaso Landolfi, Das Meer der Schaben, nach (
land
)
Stille (10) Ich sitze und lausche der Stille. Das
Zimmer ist einfach mit Kalk getüncht. Manchmal schießt aus der weißen Zimmerdecke
eine berstende Hühnerkralle hervor, manchmal löst sich raschelnd ein Plättchen
Tünche. Soll ich verraten, daß mein Zimmer zugemauert ist? Wie das? Zugemauert?
Wie ich dann hinausgehen könnte? Das verhält sich eigentlich so: für den guten
Willen gibt es kein Hindernis, einem intensiven Verlangen stellt sich nichts
entgegen. Ich muß mir nur eine Tür vorstellen, eine gute alte Tür, wie in der
Küche meiner Kindheit eine war, mit eiserner Klinke und einem Riegel. Es gibt
kein so fest zugemauertes Zimmer, in dem sich nicht eine solche vertrauliche
Tür öffnen ließe, wenn nur die Kräfte langen, sie hinzudenken.
- (
bs
)
Stille (11) Als mir vor so viel Einsamkeit
schauderte, vernahm ich das erste Anzeichen von Leben in all dieser Ödnis
. Ich hörte es zuerst aus großer Ferne, weit aus dem Inneren des Landes kommen
- ein seltsamer, tiefer, stöhnender Ton war es, und
sein Anschwellen und Verebben war wie das Seufzen eines einsamen Windes in einem
großen Wald. Doch es ging kein Wind. Dann, im nächsten Moment, war er erstorben,
und die Stille des Landes war durch den Kontrast um so unheimlicher. Und ich
sah die Männer in dem Boot an, in welchem ich war, als auch diejenigen in dem
anderen Boot, das der Bootsmann befehligte; und es gab keinen unter ihnen, der
nicht eine horchende Haltung eingenommen hatte. Auf diese Weise verging eine
Minute in völliger Lautlosigkeit. -
W. A. Hodgson, Die
Boote der ›Glen Carrick‹, aus: W.A.H., Stimme in der Nacht. Frankfurt am Main 1982 (st 749)
Stille (12) In der Gegend von Rue de la Quincampoix,
Rue Saint-Martin und Rue Nicolas-Flamel treffen sich Prostituierte, eventuelle
Kunden, Neugierige, zwielichtige Gestalten. Sie alle schlendern umher vor dem
Hintergrund des massigen Schattens der Tour Saint-Jacques auf der anderen Seite
der Rue de Rivoli. Die Bürgersteige sind schmal, die Fahrbahnen auch nicht viel
breiter. Es herrscht beinahe völlige Stille, fast schon feierlich,
nur manchmal unterbrochen von dem jammernden Lallen
eines Betrunkenen oder dem Stimmengewirr junger Leute, die einfach laut sprechen
müssen, um nicht die Fassung zu verlieren. Erfolgloses Strohfeuer, das in flüsternden
Verhandlungen gelöscht wird. Aus den Bistros fallen Lichtkegel aufs Pflaster.
Dort drinnen an der Theke werden leise Worte gewechselt, die in Lärm ausarten
können. Aber draußen herrscht Stille. Die Stille von unentschlossnen, grübelnden
Männern. Die Stille von Mädchen, die sich nur anbieten, nicht aber Männer ansprechen
dürfen. Manchmal wagen sie, einladend zu murmeln, wenn jemand an ihnen vorbeigeht.
In der Rue Caumartin im 9. Arrondissement spannen sie frech die Wange mit der
Zunge, in der Rue Mogador grüßen sie sogar: Guten Tag, Monsieur. Hier wird nur
gemurmelt. Die Polizeiverordnung untersagt ihnen sogar, die Passanten
direkt anzusehen. - Léo Malet, Spur ins Ghetto. Bühl-Moos
1986 (zuerst 1957)
Stille (13) Heuschrecken
fressen nahezu alles, was sie finden. Und dieses Fressen geschieht auf unheimliche
Weise. »Sie kommen mit fürchterlichem Getöse«, berichtet einer der ungezählten,
seit biblischen Zeiten immer wieder von Heuschreckenschwärmen heimgesuchten
afrikanischen Bauern, Mamadou Kharra. »Sie lassen sich auf den Feldern nieder,
und auf einmal ist alles still. Man hört nichts, wenn sie die Ernte auffressen.
Es ist gespenstisch.« - Theo Löbsack, Das unheimliche
Heer. Insekten erobern die Erde. München 1991 (dtv 11389)
Stille (14) .... n, o, ;,
x, !, u ... In der Dyskrasie dieser
scheinbar unverständlichen Lautfolge folgt auf das X ein leerer Raum, der dort
auch nicht fehlen darf - zur Erleichterung der Transkription. Jetzt überkommt
mich eine unwiderstehliche Lust, mir vorzustellen, daß dieser Zwischenraum
eine unaussprechbare Stimme beherbergt, einen Gedankenstrich
oder ein Sternchen - kurzum, einen Augenblick der Stille, der völlig anders
ist als die freiwillige Stille des ;. Und wirklich: ob es nun ein Gedankenstrich
oder ein Sternchen ist oder auch nur der allgemeine Wunsch, einen neuen Absatz
zu beginnen - diese Stille ist nicht als vorsätzlich zu betrachten, sondern
eher als eine Stille, der man gerade in dem Augenblick begegnet ist, als sich
die Frage formulierte - eine Stille, die zwar in den Regeln der Befragung blieb,
die aber nicht gewählt worden war, außer wie man notgedrungen etwas wählt, wenn
man die Wahl trifft, zu fragen, denn es gibt auch Stillen, welche von Wahlen
abstammen, die wir als verbal ansehen und erdulden müssen, weil wir ihnen in
unvorhergesehener aber schicksalhafter Weise begegnet sind. Also: zwei Stillen
begegnen sich in dieser winzigen Äußerung, aber nun folgt ein Ausruf, den man
als Bewegung der Stimme verstehen muß, ohne Vokale und Konsonanten, ein rein
musikalisches Sich-Aufbäumen, gewiß ein vornehmes Zeichen des Wahnsinns.
Aber wofür ist er wohl ein Zeichen, jener Ausruf, der mit der Niedertracht,
der Aufforderung zur Mittäterschaft und zwei entgegengesetzten Stillen gemeinsam
existiert? Wenn ich die Stille neben den Ausruf setze und annehme, ich hätte
es mit einer schicksalhaften und exklamativen Stille zu tun, dann kann ich auch
annehmen, dieser Ausruf sei ein schweigender Schrei, ein Stilleschrei, eine
Erklärung der Ohnmacht; doch man vergesse nicht, daß alle Stimmen und Stillen
gleichzeitig sind, weshalb der Ausruf alle Zeichen unwiederbringlich verändert,
indem er ihnen eine Beschleunigung aufzwingt, die weder Frieden noch Waffenruhe
noch Sinn zuläßt - ein reiner Überfall der Geschwindigkeit der Verzweiflung
und der Wut im Inneren einer Handvoll unentwirrbarer Stimmen und Stillen; und
man beachte auch, daß das Bewußtsein des Ausrufs sich mit einem U
vermischt, welcher Buchstabe, wie ich vermute, die endgültige Verwandlung des
Wahnsinns in ein mörderisches H-u-u-u-u ausdrücken soll - das Wutschnauben eines
stimmlichen Universums in einem schweigsamen Universum. - Giorgio Manganelli, Geräusche oder
Stimmen. Berlin 1989
Stille (15) In dem Augenblick also, da man den Schrei hört, diskutiert ihr gerade über die Angst - eure Angst, die Angst des Ortes und die Angst, die jene anderen Geräusche vielleicht erzeugt, vielleicht interpretiert. Es ist aber deutlich, daß eure Präsenz, und zwar nur diese, die Interpretation des Ortes ist - des Dorfs, wie man ihn definiert hat - und daß es, wäret ihr nicht bis hierher gekommen, vermutlich gar keine Geräusche gäbe.
Doch an diesem Punkt stellt sich unweigerlich ein neues Problem: wenn ihr
in einem Moment der Stille hier angekommen seid oder es euch wenigstens so schien,
dann wird es ratsam sein, eure Haltung gegenüber dieser Stille zu interpretieren,
auch wenn sie illusorisch ist, denn die mutmaßlich illusorische Bedingung der
Geräusche hat das Problem der Interpretation eures Gesprächs mit diesen Geräuschen
nicht daran gehindert, sich zu stellen. Also: für einige Zeit, gleichgültig
ob kurz oder lang, jählings oder Jahrhunderte hindurch, habt ihr in einem Zustand
der Stille gelebt. Die Stille ist keine Verringerung des Geräuschs auf Null,
sondern etwas anderes, ein Jenseits im Bezug auf das Geräusch. Für jenen Augenblick
mußtet ihr eine Interpretation der Stille und eurer selbst in dieser Stille
geben. Ich weiß, daß man gesagt hat, ihr würdet euch vielleicht freuen, zum
Zeichen, daß der Ort für eine Rast, eine Ruhepause außerordentlich geeignet
war; aber da es euch nie gelungen ist zu erklären, wie die von jener Pause unterbrochene
Wegstrecke beschaffen war, ist vermutlich auch niemals klar geworden, in welchem
Sinne diese stille Pause Befriedigung bot. In Wirklichkeit habt ihr es vermieden,
euch das Problem der Stille zu stellen; und in der Tat, wenn es sich um eine
absolute Stille gehandelt hätte - die Stille, die man auch als Jenseits bezeichnet
- dann wäre diese Stille unangreifbar gewesen, in gewisser Weise selbstgenügsam,
autonom; eure Reaktion hat aber gerade darauf abgezielt, dem gebieterischen
Charakter und der dialektischen Unfähigkeit dieser Stille auszuweichen. Sagen
wir, daß gerade jener Moment, den ihr euch als besonders geruhsam ausgemalt
hattet, in Wirklichkeit der Ausgangspunkt der Angst gewesen ist -der Angst,
die die Geräusche erzeugt hat. Einen Moment lang habt ihr euch gefragt, ob ihr
gestorben wäret oder wenigstens an einen Ort gelangt, der in jedem Fall endgültig
war, so sehr, daß er weder Vervollkommnungen noch Verbesserungen noch Interpretationen
zuließ. - Giorgio Manganelli,
Geräusche oder Stimmen. Berlin 1989
Stille (16) Nach dem Abzug der Goten
und der Auflösung des verbündeten Heeres war Attila verwundert über die weite
Stille, die über den Gefilden von Chä-lons herrschte: Da er eine Kriegslist
des Gegners befürchtete, verblieb er eine Reihe von Tagen in seiner Wagenburg,
und sein abermaliges Zurückweichen über den Rhein bedeutete den letzten im Namen
des Westreichs errungenen Sieg. Mero-wech und seine Franken, die vorsichtig
Abstand hielten und durch die vielen Feuer, die sie allnächtlich entzündeten,
ihre Zahl größer erscheinen ließen, folgten der Nachhut der Hunnen bis an die
Grenze Thüringens. Die Thüringer kämpften in den Streitkräften Attilas: Sie
durchquerten - beim Vormarsch und beim Rückzug - die Gebiete der Franken; vielleicht
begingen sie damals die Greuel, die rund achtzig Jahre später von dem Sohn Chlodwigs
gerächt werden sollten. Sie metzelten ihre Viehherden nieder; zweihundert Jungfrauen
wurden mit unbarmherziger und ausgesuchter Wut gefoltert; ihre Leiber wurden
von ungezähmten Rossen gevierteilt, oder ihre Gebeine wurden unter rollenden
Karrenrädern zermalmt, und ihre Gliedmaßen wurden unbestattet auf den Wegen
Hunden und Geiern zum Fraß überlassen. - Edward Gibbon, Decline
and Fall of the Roman Empire. Nach Jorge Luis Borges, Die Realitätsforderung.
In: J.L.Borges, Kabbala und Tango. Frankfurt am Main 1991
|
|