ahrheit  Bei meiner eigenen beruflichen Arbeit bin ich mit einer Vielfalt verschiedener Gebiete in Berührung gekommen. Ich habe zum Beispiel ohne irgendwelche professionellen Ausweispapiere über mathematische Linguistik gearbeitet; auf diesem Gebiet bin ich ein reiner Autodidakt, und kein allzu gut unterrichteter. Aber ich wurde häufig von Universitäten aufgefordert, in mathematischen Seminaren und Kolloquien über mathematische Linguistik zu sprechen. Keiner hat mich je gefragt, ob ich die angemessenen Legitimationen hätte, um über diese Themen zu reden; den Mathematikern konnte es überhaupt nicht gleichgültiger sein. Was sie wissen möchten, ist lediglich, was ich zu sagen habe. Keiner hat je Einwände gegen mein Recht zu reden erhoben und gefragt, ob ich einen Doktorgrad in Mathematik habe oder ob ich Kurse für Fortgeschrittene auf diesem Gebiet belegt hätte. Es wäre ihnen niemals in den Sinn gekommen. Sie möchten wissen, ob ich recht oder unrecht habe, ob das Thema interessant ist oder nicht, ob bessere Ansätze möglich sind — die Diskussion drehte sich um den Gegenstand, nicht um mein Recht, ihn zu diskutieren.

Auf der anderen Seite wird in einer Diskussion oder Debatte über gesellschaftliche Fragen oder amerikanische Außenpolitik, zum Beispiel Vietnam oder der Nahe Osten, dieser Einwand ständig erhoben, häufig auf erheblich giftige Weise. Ich wurde wiederholt aufgefordert, meine Qualifikation nachzuweisen, oder gefragt, was für eine Fachausbildung haben Sie, die Sie berechtigt, über diese Angelegenheit zu reden. Es wird vorausgesetzt, daß Leute wie ich, die von einem beruflichen Gesichtspunkt her Außenseiter sind, nicht berechtigt sind, über derartige Dinge zu reden.

Vergleichen Sie Mathematik und politische Wissenschaften — es ist ziemlich auffallend. In der Mathematik, in der Physik beschäftigen sich die Leute mit dem, was man sagt, nicht mit den Beglaubigungen, die man hat. Aber um über gesellschaftliche Realität zu sprechen, muß man die richtigen Zertifikate haben, insbesondere wenn man vom herrschenden Denksystem abweicht. Ganz allgemein gesprochen, scheint es gerechtfertigt zu sein, wenn man sagt, je reicher die intellektuelle Substanz eines Gebietes ist, desto weniger besteht ein Interesse an Qualifikationsnachweisen und desto größer ist das Interesse am Inhalt. - Noam Chomsky, nach: Sokal/Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. 2001 (zuerst 1998)

Wahrheit (2) Man braucht nicht immer alles zu sagen, denn das wäre Torheit; aber was man sagt, soll sein, wie man es denkt, sonst ist es Arglist. Ich weiß nicht, welchen Nutzen die Leute davon erwarten, sich beständig zu verstellen und zu verkappen, wo nicht, daß man ihnen selbst dann nicht glaubt, wenn sie die Wahrheit sagen; man kann die Menschen einmal oder zweimal hintergehen; aber ein Gewerbe daraus zu machen, sich hinterm Berge zu halten, und sich dessen rühmen, wie es einige unserer Fürsten getan haben, daß sie ihr Hemd ins Feuer werfen würden, wenn es von ihren wahren Absichten wüßte ( was ein Wort des alten Metellus Macedonicus ist), und daß, wer sich nicht zu verstellen wisse, nicht zu herrschen verstehe, das heißt, die im voraus warnen, die mit ihnen umzugehen haben, daß alles eitel Lug und Trug ist, was sie sagen. Der müßte ein einfältiger Tropf sein, der sich von den schönen Augen und Worten dessen foppen ließe, der sich brüstet, sich nach außen immer anders zu zeigen, als er inwendig ist, wie es Tiberius tat: und ich weiß nicht, welchen Anteil solche Leute an der menschlichen Gesellschaft haben können, die nichts vorbringen, was für bare Münze genommen würde. Wer die Wahrheit verrät, verrät auch die Lüge. - (mon)

Wahrheit (3)  

THESEUS ... Mehr wundervoll als wahr.
Ich glaubte nie an diese Feenpossen
Und Fabelein. Verliebte und Verrückte
Sind beide von so brausendem Gehirn,
So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,
Was nie die kühlere Vernunft begreift.
Wahnwitzige Poeten und Verliebte
Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt,
Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht
Nicht minder irr: die Schönheit Helenas
Auf einer äthiopisch braunen Stirn.
Des Dichters Aug, in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd hinab,
Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luftge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
So gaukelt die gewaltge Einbildung;
Empfindet sie nur irgendeine Freude,
Sie ahnet einen Bringer dieser Freude.
Und in der Nacht, wenn uns ein Graun befällt,
Wie leicht, daß man den Busch für einen Bären hält!

- Shakespeare, Ein Sommernachtstraum

Wahrheit (4) Es gibt wenig Begriffe, über die so viele Gerüchte im Umlauf sind, wie über den der Wahrheit. Man sagt andern ›die Wahrheit‹, wenn man grob gegen sie wird. Viele verbinden mit dem Begriff der Wahrheit den des Edlen. Das Gegenteil der Wahrheit soll die Unwahrheit sein, die man sagt, wenn man lügt, auch wenn diese Lüge in den Himmel führt. Die Wahrheit beansprucht ewig und göttlich zu sein. Ich aber sage Euch die Wahrheit: »Die Wahrheit ist eine Flüssigkeit.«

Sie denken an Wein. Im Wein liegt Wahrheit. Da aber im Wein nur Flüssigkeit liegt, müßte sie ja wohl oder übel eine Flüssigkeit sein. Doch bin ich der Ansicht, daß die Wahrheit mehr eine dem Erdöl verwandte Flüssigkeit ist. Dafür kann ich Beweise erbringen.

Eine mir bekannte kompetente Persönlichkeit sagte neulich zu mir: »Ich habe mir immer schon gewünscht, die Leute anbohren zu können, um dann die Wahrheit herauszubekommen. « Er sagte es wörtlich so, und deshalb glaube ich ihm, daß dieses Experiment gelingen würde, wenn es seitens der Regierung erlaubt wäre, eine Vivisektion an Menschen vorzunehmen, zwecks Hebung der Wahrheit.

Diese Wahrheit würde dann aus der Bohrstelle spontan ausfließen, was wieder beweist, daß Wahrheit eine Flüssigkeit ist.

Nun habe ich mich gefragt, wenn Wahrheit im Menschen ist, weshalb kommt sie nicht aus den vielen schon vorhandenen Löchern geflossen, die man nicht erst zu bohren brauchte. Da sind zunächst einmal eine Legion von Poren, die braucht man nicht zu bohren. Das aber ist wieder wie mit dem Petroleum, welches auch aus vielen vorhandenen Löchern fließen könnte, z. B. aus der Wasserleitung oder aus dem Kanal, ohne daß es das täte. Nein, Petroleum und Wahrheit wollen sich bohren lassen.

Nun könnte aber doch einmal eine vorhandene Öffnung der Wahrheit den Lauf geben, etwa wie doch per Zufall Petroleum auch aus der Wasserleitung strömen könnte. Es könnte z. B. der Mund die Wahrheit verkünden. Was tut aber der Mund? Er frißt und frißt, und wenn er einmal etwas von sich gibt, so ist es meistens gerade, oder auch ungerade, um besagte Wahrheit zu verhüllen. Oder die Ohren. Ja, sie leiten wenigstens die hineingefüllte Wahrheit wieder hinaus, denn wenn Sie einem die Wahrheit sagen, pflegt sie ins eine Ohr hinein- und aus dem anderen wieder herauszugehen. Die Augen aber sehen geschickt um die Wahrheit herum, selbst wenn die Wahrheit noch so dick aufliegt. - Kurt Schwitters, 1925

Wahrheit (5) Fettklößchen ist eine wahre Geschichte. Ein Onkel hatte sie ihm erzählt, erst später traf der Autor sein Modell Adrienne Legay, da war er schon berühmt. Man zeigte sie ihm in einer Theaterloge in Rouen. Maupassant ging zu ihr, sprach mit ihr, lud sie zu einem Abendessen in ein Hotel, aber über ihr Gespräch hat er keine Geschichte geschrieben, und es hat keine Zeugen gegeben. - Manfred Flügge, Nachwort zu (nov)

Wahrheit (6) Darüber, daß die beiden Damen schließlich felsenfest das glaubten, was anfangs nur Vermutung und Kombination gewesen war, braucht man sich durchaus nicht zu wundern. Wir Männer, die wir uns für gescheite und gelehrte Leute halten, machen es ja fast ebenso; denn als schlüssige Beweise dienen uns unsre eigenen wissenschaftlichen Theorien. Der Gelehrte macht sich nicht viel anders als ein Gauner an eine Aufgabe heran; zunächst beginnt er ganz vorsichtig, ja ängstlich mit der allerbescheidensten Frage: Woher stammt eigentlich dieser Name? Hat das Land ihn nicht von jenem Erdenwinkel? Oder: Gehört diese Urkunde nicht am Ende einer ganz anderen und sehr viel späteren Epoche an? Oder: Sollte statt dieses Volkes in Wirklichkeit nicht jenes gemeint sein? Und sogleich führt er Zitate aus diesem oder jenem Schriftsteller der Antike an, findet dabei allerhand Hinweise oder zumindest Stellen, die er für Hinweise hält, wird immer kühner, kommt richtig in Schwung, fängt an, mit den alten Schriftstellern wie mit seinesgleichen zu verkehren und ihnen Fragen zu stellen, die er dann selbst an ihrer Stelle beantwortet. Dabei hat er längst vergessen, daß er mit einer schüchternen Hypothese begonnen hat, glaubt plötzlich alles sonnenklar vor sich zu sehen und schließt seine Überlegungen mit den Worten ab: So ist es! Um dieses Volk und kein anderes hat es sich gehandelt! Nur von diesem Gesichtspunkt aus muß die Frage behandelt werden! Und schon wird das Ergebnis vom Katheder herab verkündet, die frisch entdeckte Wahrheit nimmt ihren Weg in die Welt und gewinnt Verehrer und Anhänger.  - Nikolaj Gogol, Die toten Seelen. München 1965 (zuerst 1842)

Wahrheit (7) Carole, eine Studentin der Luftpaläontologie, stieg an der Haltestelle Vieille-des-Archives in den Autobus Q. Die Strecke, auf der die Linie Q fährt, verläuft, wie jedermann weiß, rechtwinklig zur Linie T, welche sie an der Kreuzung Citoyens/Vieille-des-Archives kreuzt.

Carole, ein junges, dunkelhaariges, warm angezogenes (es fror Stein und Bein) junges Mädchen legte ihre Sachen auf den Platz vor sich, der unbesetzt war. Als der Autobus wieder anfuhr, erblickte sie an der Wand des der Rue des Citoyens 53 gegenüberliegenden Hauses eine mit weißer Farbe gemalte Frauengestalt mit einem blauen Büstenhalter. Sie war stehend dargestellt und pinkelte. An der dritten Haltestelle (sie fuhr ins Museum für Naturgeschichte) kam ein junger Mann durch den Mittelgang und bekundete die Absicht, den Platz ihr gegenüber einzunehmen. Carole nahm sofort ihre Sachen weg, die sie auf die Knie legte, und der junge Mann setzte sich.

Als er sich setzte, sah er Carole an und sagte zu ihr: »Sie haben schöne Augen, Mademoiselle, vor allem das linke.« Das stimmte.  - Jacques Roubaud, Die schöne Hortense. München 1992 (dtv 11602, zuerst 1985)

Wahrheit (8)

- (bar)

Wahrheit (9)  Religionen sollen  — dies war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung — sensu allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr weg geführt habe: so daß zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse — falls man von einem solchen reden wolle — sich nicht auf das Wesen, sondern die Mitteilung desselben beziehe

Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrtümlich; und niemand würde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauers Beredsamkeit sie in Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem Menschenalter ihre Hörer erreichende Beredsamkeit. So gewiß man aus Schopenhauers religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel für das Verständnis des Christentums und anderer Religionen gewinnen kann, so gewiß ist es auch, daß er über den Wert der Religion für die Erkenntnis sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesamt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, würde er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten: noch nie hat eine Religion, weder mittelbar noch unmittelbar, weder als Dogma noch als Gleichnis, eine Wahrheit enthalten. - Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (zuerst 1878)

Wahrheit (10)  Wir haben in der Wahrheit und in der Lüge nichts verloren. Die Wahrheit aber hat in der Lüge, die Lüge hat in der Wahrheit etwas verlogen. Gesucht sind wir. Und die Wahrheit ist kein Versteck, und die Lüge darf es nicht bleiben. Und zu verlieren haben wir nichts, leider schon gar nichts Echtes; nur Falsches, sei Dank. Und zu gewinnen haben wir auch nichts, nichts Echtes, leider - und leider nichts Falsches, könnten wir klagen, hätten wir nicht schon genug davon. Wir müßten lügen, wären wir damit zufrieden. Um die Wahrheit zu sagen: Wir würden sie nur zu gerne sagen. Wir müßten aber lügen, würden wir sagen, wir müßten lügen. Gut ist - die Wahrheit, aber hinter den Bergen und so weiter, tausendmal besser ist in Wahrheit öffentlich spielende Lüge, keine Feierlichkeit, keine Würde, kein Stil, die Moral davon: keine, nur märchenhafte Wahrheiten von unglaublichen Lügen in unzähligen falschen Authentizitäten. Ein Falscher ist noch beim Zählen. - Paul Wühr, Wiener Vorlesungen zur Literatur 1. In: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder, Nr.74 (1989)

Wahrheiten (buddhistische)   Die erste Wahrheit, kurz gesagt, lehrt, daß alles Dasein elend, unbefriedigend und dem Leiden unterworfen ist.

        »Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden? Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, Kummer, Jammer, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung sind Leiden; das Nichterlangen dessen, was man begehrt, ist Leiden; kurz gesagt: die 5 mit Anhaften verbundenen Gruppen des Daseins sind Leiden.

    Die zweite Wahrheit lehrt, daß das Leiden durch das alles Leiden und alle Wiedergeburt erzeugende Begehren bedingt ist.

        »Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Leidensentstehung? Es ist jenes Wiederdasein erzeugende, von Lust und Gier begleitete, bald hier bald dort sich ergötzende Begehren, nämlich das Sinnliche Begehren, das Daseinsbegehren, das Selbstvernichtungsbegehren.

        Die dritte Wahrheit lehrt, daß durch Erlöschung des Begehrens es notwendigerweise zur Erlöschung der Wiedergeburt und des Leidens kommen muß.

        »Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Leidenserlöschung? Es ist eben dieses Begehrens restloses Erlöschen, Aufgeben, Loslassen, Befreiung und Loslösung davon.

         Die vierte Wahrheit vom Achtfachen Pfade gibt die Mittel an zur Erreichung dieser Leidenserlöschung.

        »Was aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von dem zur Leidenserlöschung führenden edlen Pfade? Es ist jener edle Achtfache Pfad, nämlich:

1.      Rechte Erkenntnis
2.      Rechte Gesinnung
3.      Rechte Rede
4.      Rechte Tat
5.      Rechter Lebenserwerb
6.      Rechte Anstrengung
7.      Rechte Achtsamkeit
8.      Rechte Sammlung

- Buddhismus

Wahrheit (12)

Wahrheit (13)   Don Ciccio kam. der kalte Schweiß. Diese ganze Geschichte, theoretisch genommen, stank ihm nach Lügenmärchen. Aber die Stimme des jungen Mannes, der Tonfall, die Gesten, das war die Stimme der Wahrheit. Die Welt der sogenannten Wahrheiten, so philosophierte er, war nichts anderes als ein Gewebe aus Lügenmärchen: aus häßlichen Träumen. So daß nur der Dunst der Träume und der Lügenmärchen eigentlich den Namen der Wahrheit tragen darf.  - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana. München 1988

Wahrheit (14)  

Wahrheit (15)  

Wahrheit (16)  Trösten wir uns damit, daß wir uns sagen, der Intellekt sei diejenige Fähigkeit, durch die wir schließlich verstehen, daß alles unverständlich ist; und betrachten wir die Dinge von der Tiefe , der menschlichen Illusion aus. Die Illusion ist vielleicht, alles in allem, auch eine Art Wahrheit. Auf jeden Fall die einzige uns erreichbare. Denn es gibt immer mindestens zwei Wahrheiten, die eine, zu hoch, zu wenig menschlich, zu hoffnungslos, lehrt nur Bewegungslosigkeit und Tod; die andere, von der wir wohl wissen, daß sie weniger wahr ist, die aber, indem sie uns Scheuklappen anlegt, es uns ermöglicht, gerade vorwärtszuschreiten, am Dasein teilzunehmen und so zu leben, als führte das Leben, dem wir bis zum Ende folgen müssen, woanders hin als ins Grab.  - (maet)

Wahrheit (17)  Die wesentlichsten Wahrheiten erscheinen immer erst als Blasphemien oder Obszönitäten. - Miss Portinari, nach (ill2)

Wahrheit (18)

Wahrheit (19)   Verschweigt die Natur dem Menschen nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzhterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinabzusehen vermöchte, und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller "Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!

Soweit das Individuum sich, gegenüber andern Individuen, erhalten will, benutzt es in einem natürlichen Zustand der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch zugleich aus Not und Langeweile gesellschaftlich und herdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluß und trachtet danach, daß wenigstens das allergrößte bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluß bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an „Wahrheit" sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und Lüge. - Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

Wahrheit (20)  Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.  - Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

Wahrheit (21)  Erst als das Eigentum meiner kommen die Geister, die Wahrheiten, zur Ruhe, und sie sind dann erst wirklich, wenn ihnen die leidige Existenz entzogen und sie zu einem Eigentum meiner gemacht werden, wenn es -nicht mehr heißt die Wahrheit entwickelt sich, herrscht, macht sich geltend die Geschichte (auch ein Begriff) siegt u. dergl. Niemals hat die Wahrheit gesiegt, sondern stets war sie mein Mittel zum Siege, ähnlich dem Schwerte („das Schwert der Wahrheit").  Die Wahrheit ist tot, ein Buchstabe, ein Wort, ein Material, das ich verbrauchen 'kann. Alle Wahrheil für sich ist tot, ein Leichnam; lebendig ist sie nut in derselben Weise, wie meine Lunge lebendig ist, nämlich in dem Maße meiner eigenen Lebendigkeit. Die Wahrheiten sind Material wie Kraut und Unkraut; ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entscheidung in mir.

Mir sind die Gegenstände nur Material, das ich verbrauche.' Wo ich hingreife, fasse ich eine Wahrheit, die ich mir zurichte.  Die Wahrheit ist mir gewiß, und ich brauche sie nicht zu ersehnen. Der Wahrheit einen Dienst zu leisten, ist nirgends meine Absicht; sie ist mir nur ein Nahrungsmittel für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen verdauenden Magen, der Freund für mein geselliges Herz. Solange ich Lust und Kraft zu denken habe, dient mir jede Wahrheit nur dazu, sie nach meinem Vermögen zu verarbeiten. Wie für den Christen die Wirklichkeit oder Weltlichkeit, so ist für mich die Wahrheit „eitel und nichtig". Sie existiert gerade so gnt, als die Dinge dieser Welt fortexistieren, obgleich der Christ ihre Nichtigkeit bewiesen hat; aber sie ist eitel, weil sie ihren Wert nicht in sich hat, sondern in mir. Für sich ist sie wertlos. Die Wahrheit ist eine - Kreatur.  - Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. Leipzig 1927 (zuerst 1845)

Wahrheit (22)  Die Wahrheit ist die Haut der Lüge, die Lüge ist das Skelett der Wahrheit. Ist man unwissend, kann die Lüge zur Wahrheit werden, ist man erleuchtet, kann auch die Wahrheit eine Lüge sein. Yoshiwara ist Lüge und Wahrheit, ob man auf der Hauptstraße umherirrt oder ob man Yoshiwara gut kennt, bleibt sich gleich. Die Liebesschwüre sind mal Lüge, mal Wahrheit und die Gäste zahlreich wie der Sand am Meer. - Ōta Nanpō

Wahrheit (23) Pascal hat das alles schon vor über dreihundert Jahren erklärt. »Wir machen aus der Wahrheit einen Götzen. Denn Wahrheit ohne Barmherzigkeit ist nicht Gott, sondern nur sein Abbild und Idol, das wir weder lieben noch anbeten dürfen.« Ihr habt für die Anbetung eines Götzen gelebt. Aber im Grunde genommen heißt der Name jedes Götzen Moloch. Da habt ihr es nun, meine Freunde!  - Aldous Huxley, Affe und Wesen. München 1988 (zuerst 1949)

Erfindung Phantom Chimäre Irrtum Logik Wirklichkeit

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Synonyme

Antonym

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