oral   Durch den Surrealismus habe ich verstanden, daß es die Freiheit und Gerechtigkeit nicht gibt, aber er hat mir auch zu einer Moral verholfen. Einer Moral der menschlichen Solidarität, deren große Bedeutung für mich Éluard und Breton sehr gut verstanden, als sie mich in ihrer Widmung zu »L‘Immacultée conception« [1930] humorvoll »den Regisseur des Gewissens« nannten. Ich habe diese Moral auf meine ganz besondere Art und Weise verbildlicht, denn ich glaube, daß ich von Natur aus ein destruktiver Geist bin. Und natürlich ein Feind jeder Art von Gesellschaft. Wiederholte Male habe ich das Thema von dem Menschen aufgegriffen, der gegen eine Gesellschaft kämpft, die ihn zu unterdrücken und niederzumachen sucht. Jeder Mensch erscheint mir des Interesses würdig, doch wenn mehrere zusammenkommen, wird ihre Aggressivität frei und verwandelt sich in Angriff oder Flucht, übt Gewalt aus oder erleidet sie. Die Geschichte der Häresien beweist das sehr gut, und das ist der Grund, warum ich mich sehr für Ketzerei interessiert habe, wie man es indirekt in vielen meiner Filme, und vor allem in »La voie lactée« sehen kann. Es fasziniert mich zu beobachten, daß Menschen, wenn sie sich um eine Überzeugung scharen, wenn sie eine auf dieser Überzeugung gegründete Gesellschaft errichten, einen Menschen, der eine andere Meinung hat, auch wenn sie nur ganz gering abweicht, wie ihren schlimmsten Feind behandeln. Eine protestantische Sekte aus dem 17. Jahrhundert wurde gleichzeitig von den Katholiken und von anderen Protestanten verfolgt, weil sie die Meinung vertrat, daß der Körper Christi sich in der Hostie befindet wie das Kaninchen in der Blätterteigpastete. Menschen deswegen zu töten, erscheint mir wie eine monströse Absurdität. Mir gefallen die Ketzer nicht, weder Luther noch Calvino. Mit ihnen verwandelt sich der Gottesdienst in einen langweiligen Vortrag, der von einem schwarzgekleideten Mann in einem tristen Raum abgehalten wird. Die katholische Kirche hat wenigstens den Vorzug besessen, eine Architektur, eine Liturgie, eine Musik zu schaffen, die meine Gefühle ansprechen. Doch ich bewundere den Menschen, der seinem Gewissen treu bleibt, was immer es ihm auch eingibt. Auch wenn ich die Mehrheit der Protagonisten meiner Filme ironisch dargestellt habe, so habe ich mich doch nie über Nazarin oder Robinson Crusoe lustig gemacht. Ich habe ihre Reinheit respektiert. Im Grunde habe ich immer den Menschen gegen die Menschen gewählt.

Heute bin ich sehr viel pessimistischer. Ich glaube, daß unsere Welt verloren ist. Sie wird durch die Bevölkerungsexplosion, die Technologie, die Wissenschaft und die Information zerstört werden. Ich nenne sie die vier Reiter der Apokalypse. Mich erschreckt die moderne Wissenschaft, die uns ins Grab bringen wird durch den Atomkrieg oder die genetische Manipulation, wenn nicht gar durch eine Psychiatrie, wie sie in der UdSSR ausgeübt wird. Europa muß eine neue Zivilisation schaffen, doch ich fürchte, daß die Wissenschaft und die verrückten Ideen, die sie hervorzubringen imstande ist, keine Zeit lassen, es zu tun.

Wenn ich einen letzten Film drehen sollte, so würde ich ihn über die Komplizenschaft zwischen Wissenschaft und Terrorismus machen. Auch wenn ich die Motivationen des Terrorismus verstehe, lehne ich ihn doch rundweg ab. Er bringt überhaupt keine Lösungen:

Er spielt das Spiel der Rechten und der Repression. Eines der Themen des Films wäre das folgende: Eine Bande von internationalen Terroristen bereitet sich darauf vor, ein großes Attentat in Frankreich zu begehen, aber in diesem Moment kommt die Nachricht, daß eine Atombombe über Jerusalem explodiert ist. Überall wird die allgemeine Mobilmachung ausgerufen. Der Weltkrieg kann jeden Augenblick ausbrechen. Da telephoniert der Chef der Bande mit dem Präsidenten der Republik. Er informiert die französischen Behörden, wo sie die Bombe — in einem Boot nahe dem Louvre — finden können, noch ehe sie explodiert. Die Terrororganisation hatte beschlossen, das Zentrum einer Zivilisation zu zerstören, will nun aber auf das Attentat verzichten, weil der Weltkrieg ausbrechen kann und die Mission des Terrorismus beendet ist.

Das Übermaß an Information richtet heute ebenfalls großen Schaden beim Menschen an. Wenn der Papst stirbt, wenn ein Staatschef ermordet wird, das Fernsehen ist immer dabei. Wozu nutzt es dem Menschen, überall dabei zu sein? Der Mensch unserer Tage findet nicht mehr zu sich selbst, wie er es im Mittelalter zu tun verstand.

Daraus resultiert, daß große Angst und Verwirrung herrschen.

Es gab eine Zeit, da die Rechte und die Linke genau definierte Positionen einnahmen. Der Kampf hatte damals einen Sinn. Jetzt erscheint mir die UdSSR genauso tragisch wie die westliche Welt. Bleibt vielleicht als einzige Wahl, sich nach Moskau, das ich verabscheue, oder nach New York, das mir nicht gefällt, zu flüchten? Ich würde New York wählen, aber nur mit großer Traurigkeit.

Manchmal suche ich einen Hoffnungsschimmer in dieser Welt des Pessimismus. Ich träume davon, daß die Wissenschaft weiser geworden ist und die Weisen ihrer Verantwortung bewußter.

In dem erwähnten Film hätte ich gern eine Sitzung von fünfzehn Wissenschaftlern, alles Nobelpreisträger, im Reichstag drehen wollen, wenn sie empfehlen, Atomkopfsprengsätze auf dem Grund der Ölquellen anzubringen. Die Wissenschaft würde uns dann von dem heilen, was unsere Verrücktheiten nährt. Doch ich glaube eher, daß uns das Schlimmste mit sich reißen wird, denn nach »Ein andalusischer Hund« hat sich die Welt weiter zum Absurden hin entwickelt.

Nur ich habe mich nicht verändert. Ich bin weiter Katholik und Atheist, Gott sei Dank.  - (bun)

Moral (2) Die sittliche Basis, durch welche die Ehe bei den höheren Culturvölkern in so hohem Maße veredelt worden ist, fehlt gänzlich den vielen niederen Naturvölkern, den amerikanischen Indianerstämmen, vielen Negerstämmen, den Australnegern usw. Bei diesen viehischen Menschen, bei denen das Weib kaum den Rang und die Behandlung eines nützlichen Hausthieres genießt, kann von einer moralischen Grundlage der Ehe keine Rede sein, viel eher bei den in strenger Monogamie lebenden Thieren, wie den Tauben, Papageyen und vielen anderen Vögeln. - Ernst Haeckel 1868, nach (para)

Moral (3) Erst beweist ihr Gott aus der Moral und dann die Moral aus Gott! - Was wollt ihr denn mit eurer Moral? Ich weiß nicht, ob es an und für sich was Böses oder was Gutes gibt, und habe deswegen doch nicht nötig, meine Handlungsweise zu ändern. Ich handle meiner Natur gemäß; was ihr angemessen, ist für mich gut und ich tue es, und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich tue es nicht und verteidige mich dagegen, wenn es mir in den Weg kommt. Sie können, wie man so sagt, tugendhaft bleiben und sich gegen das sogenannte Laster wehren, ohne deswegen ihre Gegner verachten zu müssen, was ein gar trauriges Gefühl ist. - Georg Büchner, Dantons Tod (Thomas Payne)

Moral (4) Jedenfalls ist die Moral die unzweckmäßigste Einrichtung zur Beseitigung irgendwelchen Betriebs. Dadurch, daß man ein gutes Geschäft (Moral) gegen ein beiweitem besseres (ohne Moral) zu halten in der Lage ist (welch holde Transparenz!), fällt es leicht, sich zuzugeben, daß man im Grunde gar keine Einstellung hat, sich ungefähr wie - losgelassen vorkommt und unnötigerweise mit einer hintersten Zurechtlegung sich herumgeschleppt hat... Die Beseitigung der Moral wäre deshalb vielleicht durch Einführung des Kettenhandels im Heiratsvermittlungsverkehr herbeizuführen. Oder durch Erschwerung des Kompottgenusses. Oder einfach durch Bäder. - (ser)

Moral (5) »Wenn ich einmal Herzogin bin«, sagte Alice sich (wenn auch nicht sehr zuversichtlich), »kommt mir keinerlei Pfeffer in die Küche. Suppe schmeckt auch ohne - und vielleicht ist es immer nur der Pfeffer, wenn die Menschen scharfzüngig werden«, fuhr sie fort, ganz stolz, daß sie da eine neue Regel entdeckt hatte; »- und vom Essig werden sie säuerlich - und vom Kamillentee werden sie bitter - und - und von Schlagrahm und so weiter werden die Kinder mild. Das sollten sich die Leute nur einmal merken, vielleicht wären sie dann nicht mehr so geizig damit, nicht wahr? -« Sie dachte inzwischen schon gar nicht mehr an die Herzogin und fuhr daher ein wenig zusammen, als sie dicht am Ohr ihre Stimme sagen hörte: »Du bist in Gedanken, meine Liebe, und deswegen vergißt du, etwas zu sagen. Ich bin im Moment nicht ganz sicher, was die Moral davon ist, aber es fällt mir schon wieder ein.« »Vielleicht hat es keine«, wandte Alice vorsichtig ein. »Schnickschnack, mein Kind!« sagte die Herzogin. »Alles hat seine Moral, man muß nur ein Auge dafür haben.« Und dabei schob sie sich noch dichter an Alice heran. Es war Alice nicht sehr lieb, daß sie ihr so nahe kam, denn erstens war die Herzogin wirklich sehr häßlich; und zweitens reichte sie gerade so weit in die Höhe, daß sie ihr Kinn Alice auf die Schulter legen konnte - und zwar ein unangenehm scharfkantiges Kinn. Alice wollte trotzdem nicht unhöflich erscheinen und nahm es möglichst gelassen hin. »Mit dem Croquetspiel geht es jetzt anscheinend etwas besser«, sagte sie.

»'s ist wahr«, sagte die Herzogin; »und die Moral davon ist: ›Liebe, ach nur Liebe machts, daß die Welt sich dreht‹.« »Es hat aber auch schon geheißen«, flüsterte Alice, »sie drehte sich bedeutend schneller, wenn jeder in seinen eigenen Suppentopf schaute!«

»Je nun! Das kommt so ziemlich aufs gleiche heraus«, sagte die Herzogin, und indem sie Alice ihr spitzes Kinn in die Schulterbohrte, fuhrsiefort: »Und die Moral davon ist ›Sorge dich nur um das Was, und das Wie kommt von selbst!‹« »Wie gern sie für alles eine Moral sucht!« dachte Alice im stillen.

»Du wunderst dich sicher, warum ich dich nicht fester umschlungen halte«, sagte die Herzogin nach kurzem Schweigen; »aber das ist nur, weil ich nicht weiß, ob dein Flamingo auch zahm aufgelegt ist. Soll ich es auf eine Probe ankommen lassen?«

»Es könnte sein, daß er beißt«, erwiderte Alice umsichtig, denn sie war auf eine derartige Probe gar nicht erpicht. »Wie wahr!« sagte die Herzogin; »Flamingo und Senf, das hat gar scharfe Zähne! Und die Moral davon ist: ›Trau keinem Vogel, bevor er nicht singt.«« »Nur daß Senf kein Vogel ist«, warf Alice ein. »Du hast recht wie immer«, sagte die Herzogin, »wie klar du dich ausdrücken kannst!«

»Sondern ein Bodenschatz - glaube ich«, sagte Alice. »Freilich ein Bodenschatz«, sagte die Herzogin, die Alice offenbar in allem recht geben wollte; »hier in der Gegend wird sogar sehr viel Senf gestochen. Und die Moral davon ist: ›Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.‹«

»Ach, jetzt weiß ich es wieder!« rief Alice, der diese Bemerkung entgangen war. »Senf ist eine Pflanze. Er sieht zwar nicht so aus, ist aber trotzdem eine.«

»Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte die Herzogin; »und die Moral davon ist: ›Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst‹ - oder einfacher ausgedrückt: ›Sei niemals ununterschieden von dem, als was du jenen in dem, was du wärst oder hättest sein können, dadurch erscheinen könntest, daß du unterschieden von dem wärst, was jenen so erscheinen könnte, als seiest du anders!‹«

»Ich glaube, das könnte ich leichter verstehen«, erwiderte Alice sehr höflich, »wenn ich es geschrieben vor mir hätte; beim bloßen Zuhören komme ich leider nicht ganz mit.«

»Das ist noch gar nichts gegen das, was ich alles sagen könnte, wenn ich nur wollte!« sagte die Herzogin geschmeichelt.

»Bitte, geben Sie sich keine Mühe, es noch länger auszudrücken«, sagte Alice.

»Aber wer wird denn da von Mühe sprechen!« sagte die Herzogin. »Ich schenke dir hiermit alles, was ich bis jetzt gesagt habe.«

»Das ist mir ein rechtes Geschenk!« dachte Alice; »gut, daß sie sich nicht so etwas zum Geburtstag ausdenken!« Aber das sagte sie doch lieber nicht laut. »Schon wieder in Gedanken?« fragte die Herzogin und stach mit spitzem Kinn nach ihr.

»Ich werde doch noch denken dürfen!« antwortete Alice scharf, denn es wurde ihr allmählich ein wenig unheimlich zumute.

»Nicht mehr«, sagte die Herzogin, »als ein Ferkel fliegen darf«. - Lewis Carroll, Alice im Wunderland. Frankfurt am Main 1970 ( IB 896, zuerst 1865)

Moral (6) Jupien Westenmacher, Nachbar der Familie des Erzählers und der Guermantes in Paris, Vertrauter von Françoise, Geliebter des Barons Charlus und später Inhaber des Bordells, in dem dieser sich auspeitschen läßt. Wie Aimé bewegt er sich mit großer Geschicklichkeit zwischen feinster Gesellschaft und Halbwelt und weiß als Informant und Kuppler aus deren Verbindungen Profit zu schlagen. Als der Erzähler ihm vorwirft, die brutalen Gelüste anderer zu Geld zu machen, antwortet Jupien, er habe keine Skrupel, aus dem Gewinn zu ziehen, was ihm selbst Vergnügen bereite, und das er daher nicht für verwerflich halte. Wie immer, wenn er mit solchen nach außen hin skrupellosen, aber einer eigenen inneren Moral folgenden Gestalten zusammentrifft, muß der Erzähler auch im Fall von Jupien feststellen, daß eine solche Gestalt nicht moralisch zu verurteilen ist und die eigentliche Korruptheit auf der Seite derer liegt, die ihre Dienste nutzen. Schuldig ist der, der betrügt, und nicht der, der seiner eigenen Lust nachgeht. - Ulrike Sprenger, Proust-ABC. Leipzig 1997

Moral (7)   Sie erzählte mir, wie die Männer sich dabei anstellten, wie groß oder klein sie waren, was sie sagten, wenn sie in Erregung gerieten, und so weiter und so weiter, sie berichtete mir jedes kleinste Detail, genauso als sollte ich ein Lehrbuch über dieses Thema schreiben. Sie schien nicht die geringste Ehrfurcht vor ihrem Körper oder ihren Gefühlen zu haben. «Francie, du verdammte Fickliese», sagte ich zu ihr, «du hast die Moral einer Muschel.» - «Aber du magst mich doch, oder nicht?» antwortete sie. «Männer ficken gern und Frauen genauso. Es tut niemandem weh, und man braucht ja auch nicht jeden zu lieben, den man fickt, oder? Ich möchte nicht verliebt sein; es muß schrecklich sein, immer denselben Mann zu ficken, was meinst du? Hör mal, wenn du die ganze Zeit niemand anderes als mich ficken würdest, würdest du mich schnell überhaben, stimmt's? Manchmal finde ich es nett, von jemand gefickt zu werden, den man überhaupt nicht kennt. Ja, das ist, glaub ich, am schönsten», fügte sie hinzu, «es gibt keine Komplikationen, keine Telefonnummern, keine Liebesbriefe, keine Geschichten. Hör mal, findest du das sehr schlimm?»   - (wendek)

Moral (8)  So wie wir alle, wissend oder nicht wissend, eine Metaphysik haben, haben wir auch alle, wollend oder nicht wollend, eine Moral. Meine Moral ist überaus einfach: niemandem weder Gutes tun noch Schlechtes zufügen. Niemandem Schlechtes zufügen, nicht nur, da ich anderen das gleiche Recht wie mir zuerkenne, nämlich das Recht auf ein unbehelligtes Leben, sondern auch, da ich denke, daß das naturgegebene Übel ausreicht an notwendig Schlechtem in der Welt. Wir alle leben in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das von einem Hafen, den wir nicht kennen, unterwegs ist zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen, und wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit von Menschen aufbringen, die sich auf einer gemeinsamen Reise befinden. Niemandem Gutes tun, da ich nicht weiß, was gut ist, noch weiß, ob ich es tue, wenn ich glaube, daß ich es tue. Weiß ich denn, was ich an Schlechtem bewirke, wenn ich ein Almosen gebe?  Und weiß ich, was ich an Schlechtem bewirke, wenn ich erziehe oder unterrichte? Im Zweifelsfall sehe ich davon ab. Zudem glaube ich, daß helfen oder aufklären in gewisser Weise zu einem üblen Eingreifen in fremde Leben wird. Die Güte ist eine Laune des Temperaments.  - Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003 (22. 8. 1931)

Moral  (9)   Die Erkenntnis des Guten und Bösen ist nichts anderes als der Affekt der Lust oder Unlust, sofern wir uns desselben bewußt sind.

Beweis. Wir nennen das gut oder böse, was zur Erhaltung unseres Seins nützt oder schadet, d. h. was unser Tätigkeitsvermögen vermehrt oder vermindert, erweitert oder einschränkt. Sofern wir daher wahrnehmen, daß ein Ding uns mit Lust oder Unlust affiziert, nennen wir es gut oder böse; und folglich ist die Erkenntnis des Guten und Bösen nichts anderes als die Idee der Lust oder Unlust, welche notwendig aus dem eigentlichen Affekt der Lust oder Unlust erfolgt. Diese Idee ist aber auf dieselbe Weise mit dem Affekt vereint, wie der Geist mit dem Körper vereint ist, d. h. diese Idee unterscheidet sich in Wirklichkeit durch nichts vom Affekt selbst oder (nach der allgemeinen Definition der Affekte) von der Idee der Erregung des Körpers, als durch den bloßen Begriff; also ist diese Erkenntnis des Guten und Bösen nichts anderes als der Affekt selbst, insofern wir uns desselben bewußt sind. W. z. b. w. - Spinoza, Ethik

Moral  (10)  Die Moral ist die Wissenschaft von den physischen Strebungen oder Neigungen. Sie handeln also von den Phänomenen der Anziehung und der Abstoßung. - (hds)

Moral  (11)  PAYNE. Erst beweist ihr Gott aus der Moral und dann die Moral aus Gott! - Was wollt ihr denn mit eurer Moral? Ich weiß nicht, ob es an und für sich was Böses oder was Gutes gibt, und habe deswegen doch nicht nötig, meine Handlungsweise zu ändern. Ich handle meiner Natur gemäß; was ihr angemessen, ist für mich gut und ich tue es, und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich tue es nicht und verteidige mich dagegen, wenn es mir in den Weg kommt. Sie können, wie man so sagt, tugendhaft bleiben und sich gegen das sogenannte Laster wehren, ohne deswegen ihre Gegner verachten zu müssen, was ein gar trauriges Gefühl ist. - Georg Büchner, Dantons Tod

Moral  (12)  Ich wuchs zwischen Mauern auf, die vom Dröhnen beider Vokale dieses Worts widerhallten, zwischen Mauern, wo man, wie in jedem gewöhnlichen Irrenhaus, meinen Schwanz für gefährlich hielt. Sie wissen doch, daß die Psychopathologie ihre Aufgabe darin sieht, triebtötend vorzugehen. Ich wuchs unter der Herrschaft von Psychopathologen auf, die den Geschlechtstrieb für abnorm erklärten ... und den Sex für kapitalistisch, schon das Wort, da es zu amerikanisch klang, war beinahe verboten. Ich übertreibe nicht, die einschlägigen Schriften stehen noch zur Verfügung, Sie wissen es übrigens selbst, Sie sind nur wenig jünger als ich, Sie sind etwa so alt wie meine Mutter, und sicher haben Sie an derartigen Verlautbarungen damals mitgewirkt ... kurz, die Wissenschaft hielt schon damals ihre Hand über mich. Dunkel ahnte man das Unheil, das von den Schwänzen meiner Generation ausging, man hatte damals nicht genügend Geld, die sexuellen Interessen der Jugend aufzukaufen, der Untergang des Staates stand bevor, wenn man die Schwänze nicht unten halten konnte. Mir hätte man dies womöglich wissenschaftlich auseinandersetzen können, aber der Zugang zu den Fakultäten, die die sexologischen Haushaltsbücher führten, wurde wohl damals schon in Grenzen gehalten. Zwar gehörte ich zu der Klasse, für die die Denkergebnisse der Aufklärung bestimmt waren, aber man offerierte sie uns nicht in Reinform, sondern setzte sie gleich in die Tat um. Man begann also, es war eine sehr aufgeklärte Methode, mich vom Bewußtsein meines Schwanzes zu trennen, dieses Bewußtsein nahm die Aufklärung selbst in die Hand, denn die Sauberkeit meiner Empfindungen mußte gewahrt bleiben. Oh, ich wurde mit einem Seestern verglichen, über seine Fortpflanzungsweise wurde ich belehrt. Überhaupt spielte das Wort sauber die größte Rolle, wenn über zwischenmenschliche Beziehungen gesprochen wurde, ich hatte den Eindruck, im Zusammenhang mit diesen Beziehungen dürfe jener Begriff niemals fehlen. Das gab mir zu denken, denn ich wußte, daß mein Schwanz pißte und in der Nähe meines Anus hing, Frau Magister. - (hilb2)

Moral  (13)  ist das Rückgrat der Schwachsinnigen. - Francis Picabia

Moral  (14)  Nicht nur von den philosophischen, auf bloße Theorie berechneten, sondern sogar auch von den ganz zum praktischen Behuf aufgestellten religiösen Moralprincipien läßt sich selten eine entschiedene Wirksamkeit nachweisen. Dies sehn wir zuvörderst daran, daß, trotz der großen Religionsverschiedenheit auf Erden, der Grad der Moralität, oder vielmehr Immoralität, durchaus keine jener entsprechende Verschiedenheit aufweist, sondern, im Wesentlichen, so ziemlich überall der selbe ist. Nur muß man nicht Rohheit und Verfeinerung mit Moralität und Immoralität verwechseln. Die Religion der Griechen hatte eine äußerst geringe, fast nur auf den Eid beschränkte moralische Tendenz; es wurde kein Dogma gelehrt und keine Moral öffentlich gepredigt: wir sehn aber nicht, daß deshalb die Griechen, Alles zusammengenommen, moralisch schlechter gewesen wären, als die Menschen der Christlichen Jahrhunderte. - Schopenhauer, Preisschrift Über die Grundlage der Moral

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