Etwa sieben Mal so weit von ihnen entfernt wie die Erde von der Sonne, gerät der Himmelskörper nicht in die zerstörerische Mühle ihrer konkurrierenden Anziehungskräfte. Lebte unsereins allerdings auf dem Planeten, wäre die Verwirrung groß: stets zwei Sonnenauf- und zwei Sonnenuntergänge, Sommer und Winter wechselten in einem komplizierten Rhythmus — wer wüsste da noch zu sagen, was ein Tag wäre oder ein Jahr.
Welten wie die unsere, mit nur einer Sonne im
Zentrum, sind leichter zu begreifen. -
Tagesspiegel (27.09.99)
Verwirrung
(2)
Bei den meisten
Personen verwirren sich, während sie intensiv erröten, ihre geistigen Fähigkeiten.
Dies ist in derartig gebräuchlichen Ausdrücken anerkannt wie: »Sie wurde
vor Verlegenheit ganz durcheinander.« Personen in dieser Gemütsverfassung
verlieren ihre Geistesgegenwart und bringen eigentümliche, unpassende Bemerkungen
hervor. Sie sind häufig sehr zerstreut, stottern und machen verkehrte Bewegungen
oder fremdartige Grimassen. In gewissen Fällen kann man unwillkürliches
Zucken einiger der Gesichtsmuskeln beobachten. Mir hat eine junge Dame,
welche ganz exzessiv errötet, mitgeteilt, daß sie zu solchen Zeiten nicht
einmal weiß, was sie sagt. Als ihr die Vermutung ausgesprochen wurde, daß
dies eine Folge ihrer Angst sein dürfte, weil sie sich dessen bewußt würde,
daß man ihr Erröten bemerke, antwortete sie, daß dies nicht der Fall sein
könne, »denn sie habe sich zuweilen genauso dumm gefühlt, wenn sie über
einen Gedanken in ihrem eignen Zimmer errötete«.
Ich will ein Beispiel von der außerordentlichen Störung des Geistes anführen, welcher manche empfindliche Menschen ausgesetzt sind: Ein Herr, auf den ich mich verlassen kann, versichert mir, daß er ein Augenzeuge der nun folgenden Szene gewesen ist:
Es wurde zu Ehren eines außerordentlich schüchternen Menschen ein kleines
Mittagessen gegeben. Als derselbe aufstand, seinen Dank zu sagen, sagte
er die Rede auf, welche er offenbar auswendig gelernt hatte, indes im absoluten
Stillschweigen, und ohne daß er ein einziges Wort laut gesprochen hätte,
mit großer Emphase. Als seine Freunde bemerkten, wie die Sache stand, applaudierten
sie laut dem vermeintlichen Ausbruch der Beredsamkeit, sobald seine Gebärde
eine Pause andeutete, und der Mann entdeckte nicht einmal, daß er die ganze
Zeit vollständig schweigend verharrt hatte. Im Gegenteil bemerkte er später
gegen meinen Freund mit vieler Genugtuung, wie er glaube, daß er seine
Sache ganz außerordentlich gut gemacht habe. - (dar
)
Verwirrung
(3)
Ein alltäglicher Vorfall:
sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges
Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin-
und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen
Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgültigen
Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern
wird, geht A sehr früh morgens fort. Obwohl aber alle Nebenumstände, wenigstens
nach A‘s Meinung, völlig die gleichen sind wie am Vortag, braucht er diesmal
zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermüdet abends ankommt, sagt man
ihm, daß B, ärgerlich wegen A‘s Ausbleiben, vor einer halben Stunden zu
A in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich unterwegs hätten treffen
müssen. Man rät A zu warten. A aber, in Angst wegen
des Geschäftes, macht sich sofort auf und eilt nach Hause. Diesmal legt
er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick
zurück. Zu Hause erfährt er, 8 sei doch schon gleich früh gekommen — gleich
nach dem Weggang A‘s; ja, er habe A im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft
erinnert, aber A habe gesagt, er hätte jetzt keine Zeit, er müsse jetzt
eilig fort.
Trotz diesem unverständlichen Verhalten A‘s sei aber B doch hier geblieben,
um auf A zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder
zurück sei, befinde sich aber noch oben in A‘s Zimmer. Glücklich darüber,
B jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die
Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung
und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd
im Dunkel hört er, wie B — undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben
ihm — wütend die Treppe hinunterstampft und endgültig verschwindet.
- Franz Kafka
Verwirrung
(4)
Die Geschichte des Gaunertums
wimmelt von Beispielen, daß Gauner, die zum
Tode verurteilt und auf den letzten geistlichen Trost und Zuspruch angewiesen
waren, gar und ganz keine Kenntnis vom christlichen Glauben, von den Geboten
und den verschiedenen Bekenntnissen hatten. So kam es nicht selten vor,
daß ein solcher armer Sünder einen katholischen, dann einen protestantischen
Geistlichen, zuweilen beide zugleich, ja sogar dazu noch einen Rabbiner
verlangte, und dann wieder alle drei verwarf, Auch der zum katholischen
Priester bestimmte und erzogene Damian Hessel verlangte, nachdem
er unter Fluchen und Toben sein Todesurteil angehört hatte, einen Rabbiner,
um als Jude zu sterben, drohte dem Untersuchungsrichter, ihm in der nächsten
Mitternacht nach seinem Tode zu erscheinen,
und sprach von dem Gesetze der Natur, nach dem er gelebt habe und auch
sterben wolle. - (
ave
)
Verwirrung
(5)
Die Caduveo-Indianer
leben in den Niederungen am linken Ufer des Rio Paraguay, von der Fazenda
francesa durch die Hügel der Serra Bodoquena getrennt. Unsere Gastgeber
hielten sie für faul und degeneriert, für Diebe und Trunkenbolde und pflegten
sie barsch von den Weiden zu verjagen, wenn sie dort einzudringen versuchten.
Unsere Expedition erschien ihnen von vornherein zum Scheitern verurteilt,
und trotz der großzügigen Hilfe, die sie uns angedeihen ließen und ohne
die wir unser Ziel wohl nie hätten erreichen können, mißbilligten sie unser
Vorhaben. Wie groß war nicht ihre Verblüffung, als sie uns einige Wochen
später mit Ochsen zurückkommen sahen, die ebenso schwer beladen waren wie
die einer Karawane: sie trugen große bemalte Keramikkrüge, mit Arabesken
verzierte Hirschhäute, Holzskulpturen, die ein verschwundenes Pantheon
darstellten ... Es war eine Offenbarung, die bei ihnen zu einer merkwürdigen
Veränderung führte: als mich Don Felix zwei oder drei Jahre später in São
Paulo besuchte, schienen er und sein Gefährte, die früher die einheimische
Bevölkerung so herablassend behandelt hatten, völlig gone native
zu sein, wie die Engländer sagen; der kleine
bürgerliche Salon der Fazenda war nun mit bemalten Häuten bespannt, und
überall standen Töpferwaren der Eingeborenen herum; unsere Freunde verhielten
sich wie sudanesische oder marokkanische Basarbesitzer, wie gute koloniale
Verwaltungsbeamte, was sie ohnehin besser geworden wären. Und die Indianer,
die zu ihren Stammlieferanten aufgestiegen waren, wurden in der Fazenda
samt ihren Familien zum Dank für die mitgebrachten Gegenstände herzlich
empfangen und bewirtet. Wie weit ist diese Vertraulichkeit gediehen? Es
ließ sich nur schwer vorstellen, daß Junggesellen den Reizen der indianischen
Mädchen widerstehen konnten, wenn diese an Festtagen halb nackt herumliefen
und mit größter Geduld ihre Körper mit blauen oder schwarzen Spiralen bemalten,
so daß ihre Haut wie mit einem engen Gewand aus kostbarer Spitze überzogen
schien.
Wie dem auch sei, im Jahre 1944 oder 1945 wurde Don Felix von einem
seiner neuen Freunde erschlagen, ein Opfer vielleicht weniger der Indianer
als der Verwirrung, in die ihn zehn Jahre zuvor der Besuch unerfahrener
Ethnographen gestürzt hatte. - (
str2
)
Verwirrung
(6)
Grettir war keineswegs
der Erste, der die Ansicht geäußert hat, daß die Sprachen der Erde ganz
eng miteinander verwandt wären, und daß nur durch zu viele Wortgebungen
und durch zu viele kleine Manöver, sich auch einmal schwerer verständlich
zu machen, eine große Verwirrung eingetreten war. Alles, was wir an Sprache
haben, so sagte er, ist gewollt benannt, man kann aus den Worten heraus
ableiten, was sie bedeuten und bezeichnen sollten; wo es verschiedene Worte
für die gleiche Sache gibt, sieht man, weshalb die Sache von verschiedenen
Seiten ihrer Natur her aufgefaßt worden ist. - Ernst
Fuhrmann, Der Geächtete. Berlin 1983 (zuerst 1930)
Verwirrung
(7)
Viele
sterben so tapfer, daß eine revolutionäre Zeitung ausruft: »Die Unerschrockenheit,
mit der die Gegenrevolutionäre, die durch Gesetz verurteilt sind, in den Tod
gehen, ist geradezu unglaublich und beweist, daß das Verbrechen ebensogut seine
Helden hat wie die Tugend.« Dem uralten Marschall de Mouchy ruft ein Leidensgefährte
zu: »Mut, Herr Marschall!« Der Alte antwortet ihm gelassen: »Mit fünfzehn Jahren
habe ich für meinen König die Schanzen erklettert, mit achtzig steige ich für
meinen Gott aufs Blutgerüst.«
Der Mainzer Adam Lux,
der einst mit Forster als begeisterter Revolutionär
nach Paris gekommen war und den nun seine fast religiöse Schwärmerei für Charlotte
Corday das Leben kostet, steigt in Verzückung auf das Schafott, das für ihn
seit Charlottes Hinrichtung »nur noch ein Altar ist, auf welchem Opfer geschlachtet
werden«. Ehe er stirbt, gibt er dem Scharfrichter
den Friedenskuß, was diesen in eine nicht geringe
Verwirrung bringt. - Friedrich Sieburg, Robespierre. München 1965 (zuerst 1935)
Verwirrung
(8)
Er tat das Wirkungsvollste, was ihm einfallen
konnte, um die Beamten zu verwirren und zu ärgern. Er versteinerte
alle Insassen des Emperor. Als der Polizist auf dem Trittbrett, wie in solchen
Situationen üblich, rief, niemand möge irgendwelche Dummheiten machen, blickte
er in ein versteinertes Gesicht. Und als er die anderen Wageninsassen fragend
ansah, um von ihnen eine Erklärung für dieses unglaubliche Geschehen zu erhalten,
mußte er zu seinem Entsetzen erkennen, daß sie ebenfalls aus Stein waren. Einen
Augenblick lang glaubte er, verrückt geworden oder seinen Tastsinn verloren
zu haben. Doch da er ein erfahrener Polizist war, rief er seine Kollegen herbei,
um sich mit ihnen zu beraten.
»Das ist nicht die Bande, hinter der wir her sind«, erklärte er ihnen. »Das ist ein Wagen voller Statuen, den jemand hier abgestellt hat.«
»Was redest du da«, rief ein anderer, »das können keine Statuen sein. Sie sitzen ja alle.« »Warum können Statuen nicht sitzen?« erkundigte sich ein dritter, der sich an seine Collegezeit erinnerte. »Es gibt eine liegende Venus, einen fliegenden Merkur, hüpfende Faune und eine Unmenge anderer komischer Statuen.«
»Vermutlich würdest du dies hier dann als sitzende Autofahrer bezeichnen«, warf der zweite Beamte sarkastisch ein. »Nicht unbedingt. Aber vielleicht stammen sie aus irgendeinem Park«, lautete eine höchst unwahrscheinliche Erklärung. »Also«, stellte ein anderer fest, »so wie die aussehen, könnte sie jemand von einem Friedhof entfernt haben, weil sie an Krämpfen leiden.«
Das war zuviel für den vierten Polizisten, der bis zu diesem Moment staunend geschwiegen hatte.
»Wer hat schon einmal von einer Leiche gehört, die einen Krampf hat?« fragte er.
»Wer hat schon einmal das Gegenteil gehört?« Auf diese im Grunde unfaire Frage war der vierte Polizist nicht vorbereitet.
»Natürlich«, räumte er ein, »soviel ich weiß, kann eine Leiche Krämpfe haben.
Ich habe sogar gehört, daß ihre Zähne weiter wachsen.« - (
goetter
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Verwirrung
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Verwirrung
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Die
Mongolen nahmen Peking ein, metzelten die Einwohner nieder, plünderten die Häuser
und steckten sie dann in Brand. Die Verwüstung währte einen Monat. Offensichtlich
wußten die Nomaden mit einer großen Stadt nichts anzufangen,
sie nicht zur Konsolidierung und Erweiterung ihrer Macht zu nutzen. Das ist
ein interessanter Fall für Spezialisten der Humangeographie: die Verwirrung
der Steppenvölker, wenn sie übergangslos durch Zufall in den Besitz alter Länder
mit städtischer Zivilisation gelangen. Sie brennen und morden, nicht aus Sadismus,
sondern weil sie verwirrt sind und nichts anderes damit anzufangen wissen. - René
Grousset, nach: Jorge Luis Borges,
Kabbala und Tango. Frankfurt am Main 1991