Vitiis nemo sine nascitur. Horat.
Der Satz: der Mensch ist böse, kann nichts anders sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt, und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. Er ist von Natur böse, heißt so viel, als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet; nicht als ob solche Qualität aus seinem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden (denn alsdann wäre sie notwendig), sondern er kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden, oder man kann es, als subjektiv notwendig, in jedem, auch dem besten, Menschen voraussetzen. Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkür bestehen muß; diese aber, der Freiheit wegen, für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst, es sei, wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und, da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radikales, angebornes (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können. Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen. Will man sie aus demjenigen Zustande haben, in welchem manche Philosophen die natürliche Gutartigkeit der menschlichen Natur vorzüglich anzutreffen hofften, nämlich aus dem sogenannten Naturstande: so darf man nur die Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordszenen auf Tofoa, Neuseeland, den Navigatorsinseln, und die nie aufhörende in den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika (die Kapt. Hearne anführt), wo sogar kein Mensch den mindesten Vorteil* davon hat, mit jener Hypothese vergleichen, und man hat Laster der Rohigkeit, mehr als nötig ist, um von dieser Meinung abzugehen. Ist man aber für die Meinung gestimmt, daß sich die menschliche Natur im gesitteten Zustand (worin sich ihre Anlagen vollständiger entwickeln können) besser erkennen lasse: so wird man eine lange melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit anhören müssen: von geheimer Falschheit, selbst bei der innigsten Freundschaft, so daß die Mäßigung des Vertrauens in wechselseitiger Eröffnung auch der besten Freunde zur allgemeinen Maxime der Klugheit im Umgange gezählt wird; von einem Hange, denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist, worauf ein Wohltäter jederzeit gefaßt sein müsse; von einem herzlichen Wohlwollen, welches doch die Bemerkung zuläßt, »es sei in dem Unglück unsrer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz mißfällt«; und von vielen andern unter dem Tugendscheine noch verborgenen, geschweige derjenigen Laster, die ihrer gar nicht hehl haben, weil uns der schon gut heißt, der ein böser Mensch von der allgemeinen Klasse ist: und er wird an den Lastern der Kultur und Zivilisierung (den kränkendsten unter allen) genug haben, um sein Auge lieber vom Betragen der Menschen abzuwenden, damit er sich nicht selbst ein anderes Laster, nämlich den Menschenhaß, zuziehe.
* Wie der immerwährende Krieg zwischen den Arathavescau- und den Hundsrippen-Indianern keine andere Absicht, als bloß das Totschlagen hat. Kriegstapferkeit ist die höchste Tugend der Wilden, in ihrer Meinung. Auch im gesitteten Zustande ist sie ein Gegenstand der Bewunderung und ein Grund der vorzüglichen Achtung, die derjenige Stand fordert, bei dem diese das einzige Verdienst ist; und dieses nicht ohne allen Grund in der Vernunft. Denn daß der Mensch etwas haben und sich zum Zweck machen könne, was er noch höher schätzt als sein Leben (die Ehre), wobei er allem Eigennutze entsagt, beweist doch eine gewisse Erhabenheit in seiner Anlage. Aber man sieht doch an der Behaglichkeit, womit die Sieger ihre Großtaten (des Zusammenkauens, Niederstoßens ohne Verschonen, u.dgl.) preisen, daß bloß ihre Überlegenheit und die Zerstörung, welche sie bewirken konnten, ohne einen ändern Zweck, das sei, worauf sie sich eigentlich etwas zu gute tun.
- Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft. (1793)
Böse (2) Wie der Mensch die Einigung
der in ihm wohnenden Geister empfindet als Ruhe,
Klarheit, Harmonie und Sicherheit seiner selbst, empfindet er ihren Kampf
in sich als Unruhe, Zweifel,
Schwanken, Verwirrung
und Entzweiung seines Inneren. Aber nicht als müheloser Preis oder träge
Beute fällt er den stärkeren Geistern in diesem Streite anheim, sondern
mit dem Quell selbsttätiger Kraft im Mittelpunkt seines Wesens steht er
zwischen den entgegenstrebenden Kräften inne, die ihn an sich ziehen wollen
und streitet mit für welchen Teil er will, und vermag so den Sieg auch
für den schwächeren Antrieb zu entscheiden; indem er ihm seine Kraft gegen
den stärkeren beigesellt. So bleibt das Selbst
des Menschen inmitten des Geisterstreites ungefährdet, so lange er sich
die angeborene Freiheit seiner Kraft bewahrt und nicht müde wird sie zu
gebrauchen. Fällt er dennoch so oft den bösen Geistern anheim, so ist es
darum, weil die Kraftentwicklung aus seinem Innern mit Mühseligkeit verbunden
ist; und so reicht, um böse zu werden, oft hin, nur faul
und lässig zu sein. - Gustav Theodor Fechner, Das Büchlein
vom Leben nach dem Tode, in: G.T.F., Das unendliche Leben. München 1984
(Matthes & Seitz debatte 2, zuerst 1836)
Böse (3) Die Bösen werden, bevor
sie in die Hölle geworfen werden, abgeödet hinsichtlich
des Wahren und Guten, und nach dessen Wegnahme zieht es sie von selbst
in die Hölle. Nicht der Herr ödet sie ab, sondern sie sich selbst. Alles
Böse hat Falsches in sich, weshalb die, welche im Bösen sind, auch im Falschen
sind, obgleich manche es nicht wissen. Die im Bösen sind, können, wenn
sie aus sich heraus denken, nur Falsches denken. Alle, die in der Hölle
sind, reden Falsches aus Bösem. - Himmel und Hölle.
Beschrieben nach Gehörtem und Gesehenem von
Emanuel
Swedenborg
Böse (4) Das,
was wir in dieser Welt das Böse nennen, das moralische
so gut wie das natürliche, ist das große Prinzip,
das uns zu sozialen Geschöpfen macht, die feste Basis, das Leben und die
Stütze aller Gewerbe und Beschäftigungen ohne Ausnahme; hier haben wir
den wahren Ursprung aller Künste und Wissenschaften
zu suchen; und in dem Moment, da das Böse aufhörte, müßte die Gesellschaft
verderben, wenn nicht gar gänzlich untergehen. - Bernard de Mandeville,
Bienenfabel (1714)
Böse (5)
Traum des Bösen
Verhallend eines Sterbeglöckchens Klänge - Ein Mönch, ein schwangres Weib dort im Gedränge. Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen. Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen |
Böse (6) "Nur der Einsame ist
böse!" rief Diderot: und sogleich fühlte sich Rousseau tödlich verletzt.
Folglich gestand er sich zu, daß Diderot recht habe. In der Tat hat jeder böse
Hang inmitten der Gesellschaft und Geselligkeit so viel Zwang sich anzutun,
so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes-Bett der Tugend
zu legen, daß man recht wohl von einem Märtyrertum des Bösen reden könnte.
In der Einsamkeit fällt dies alles dahin. Wer böse ist, ist es am meisten in
der Einsamkeit: auch am besten — und folglich für das Auge dessen, der überall
nur ein Schauspiel sieht, auch am schönsten. - (
mo
)
Böse (7) Das wahrhaft Böse hat nichts
zu tun mit dem Leben und den Gesetzen der Gesellschaft - und wenn, dann nur
auf höchst zufällige, äußerliche Weise. Es ist eine einsame Leidenschaft der
Seele, oder die Leidenschaft einer einsamen Seele - ganz wie sie wollen. Sollten
wir es zufällig einmal wahrnehmen und seine ganze Bedeutung erkennen, so wird
es uns mit Schrecken und Ehrfurcht
erfüllen. - Arthur Machen, Die weißen Gestalten, in: A.M., Die leuchtende
Pyramide. Frankfurt am Main 1982
Böse (8) Böse Menschen müssen
das Böse aus Haß gegen die Bösen thun. Sie halten alles für böse - und dann
ist ihr zerstörender Hang sehr natürlich - denn so wie das Gute das Erhaltende,
so ist das Böse das Zerstörende. Dies reibt sich am Ende selbst auf, und widerspricht
sich sogar im Begriff, dahingegen jenes sich selbst bestätigt und in sich selbst
besteht und fortdauert. Die Bösen müssen wider ihren, und mit ihrem Willen zugleich
böse handeln. Sie fühlen, daß jeder Schlag sie selbst trift, und doch können
sie das Schlagen nicht lassen. Bosheit ist nichts, als eine Gemüthskranckheit,
die in der Vernunft ihren Sitz hat - und daher so
hartnäckig und nur durch ein Wunder zu heilen ist. - Novalis,
Teplitzer Fragmente
Böse (9)
Böse, Das (10) Zwei Absichten erblicke ich in dieser gnostischen Kosmogonie: Die eine ist ein Gemeinplatz der Kritik; die andere — die ich nicht zur Entdeckung aufbauschen will - ist bislang noch nicht aufgespürt worden. Ich beginne mit der augenfälligsten. Sie besteht darin, das Problem des Bösen auf unanstößige Art aufzulösen, und zwar mittels der hypothetischen Einschaltung einer abgestuften Reihe von Gottheiten zwischen dem nicht weniger hypothetischen Gott und der Wirklichkeit. Im untersuchten System sind diese Ableitungen Gottes nach Maßgabe ihrer Entfernung abnehmend und abtrünnig, bis sie den tiefsten Grund in jenen abscheulichen Mächten erreichen, die aus sprödem Stoff die Menschen zusammengepfuscht haben. Im System von Valentinus - der nicht allem, was ist, das Meer und das Schweigen als Anfang setzte - hat eine gefallene Göttin (Achamoth) mit einem Schatten zwei Söhne: den Gründer der Welt und den Teufel. Einer übersteigerten Fassung dieser Geschichte bezichtigt man Simon Magus: und zwar soll er Helena von Troja, ursprünglich Gottes erste Tochter, später von den Engeln zu schmerzlichen Erdenwanderungen verurteilt, aus einem Seemannsbordell in Tyrus losgekauft haben.*
* Helena, die schmerzensreiche Tochter Gottes. Diese göttliche Filiation erschöpft keineswegs die Berühungspunkte ihrer Legende mit der Legende Jesu Christi. Diesem schrieben die Anhänger von Basilides einen substanzlosen Leib zu; von der tragischen Königin wurde behauptet, nur ihr eidolon oder Scheinbild sei nach Troja entführt worden.
-
Jorge Luis Borges, Eine Rechtfertigung des falschen Basilides. In: J.L.B., Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991