eist  Monestier vertritt die Ansicht, die Verknüpfung der Hörner mit Ehebruch und betrogenen Ehemännern stamme aus römischer Zeit, aber jedenfalls wurzelt ein Gefühl für den Zusammenhang zwischen Hörnern und Sexualität — gewissermaßen ein Sinn für das Horn, das Hörner aufsetzt — tief im linguistischen Erbe unserer Kultur. Der überragende Text in dieser Hinsicht ist das bahnbrechende und geradezu umwerfende Buch von R. B. Onians, The Origins of European Thought about the Body, the Mind, the Soul, the World, Time und Fate (Cambridge 1951). Norman 0. Brown stützt sich weidlich auf Onians Arbeit, wie etwa in der folgenden Passage aus Love‘s Body (New York 1966; dt. München 1977):

Dieser Lesart zufolge ist Freuds ganze Sublimierungstheorie einfach nur eine Offenlegung des Potentials, das bereits in der Sprache selbst verborgen liegt. Aber die Sache geht noch weiter, wie Brown in seinem jüngsten Buch, Apocalypse and/or Metamorphosis (Los Angeles 1991), herausgearbeitet hat; denn

Geist (2)

Welcherlei Körper der Geist nun besitzt und aus welchen Atomen
Dieser besteht, soll weiter mein Vers dir näher erläutern.
Erstlich behaupt' ich, er sei aus den allerfeinsten und kleinsten
Urelementen gebildet. Daß dieses sich also verhalte,
Magst du aus folgendem lernen; so daß es dir völlig gewiß wird.
Nichts in der Welt scheint wohl an Geschwindigkeit irgend zu gleichen
Unserem Geist, der im selben Moment, was er denkt, auch schon anfängt.
Also bewegt sich der Geist viel schneller als irgendwas andres
Aus dem Bereiche der Dinge, die unserem Auge sind sichtbar.
Aber nun kann doch ein Ding, das so leicht sich bewegt, nur bestehen
Aus ganz kugelig runden und allerkleinsten Atomen,
Die beim leichtesten Stoß sofort in Bewegung sich setzen.
Denn auch das Wasser bewegt sich und wogt beim leisesten Anstoß,
Da es sein Dasein dankt leicht rollenden kleinen Figuren.
Andererseits hat der Honig die ungleich festere Fügung:
Zäher fließen die Tropfen und zögernder ist die Bewegung.
Denn das Gefüge des Stoffs hängt hier viel fester zusammen
Untereinander. Natürlich; es hat ja weniger glatte,
Weniger feine und auch viel weniger runde Atome.
Nimm nun die Körner des Mohns: das leiseste, schwebende Lüftchen
Läßt auch den stattlichsten Haufen von oben herunter zerrinnen;
Aber bei einem Gehäufe von Steinen oder von Ähren
Ist das unmöglich. Mithin je kleiner und glatter die Körper
Sind von Natur, um so mehr wird ihre Beweglichkeit wirksam.
Alle jedoch, die im Gegenteil recht wuchtig erscheinen,
Und nicht minder die rauhen, sind um so besser gefestigt.
Nunmehr, wo wir erkannt die Beweglichkeit äußersten Grades
Als das Wesen des Geistes, ergibt sich unweigerlich, daß er
Aus ganz winzigen, glatten und runden Atomen bestehe.

- (luk)

Geist (3) Von Brankovic denkt man im Volk, daß er ›nicht allein‹ war, daß er sich als junger Mensch 40 Tage lang nicht wusch, daß er in die Abendmahlzeit des Teufels hineinplatzte und zum Geist wurde. Auf jeder Schulter wuchs ihm ein Haarbüschel, er war hellsichtig, verschlafen im März, von glücklicher Hand, vermochte weit mit dem Körper zu springen, noch weiter aber mit dem Geist, der, während sein Körper schlief, aufflog wie eine Täubchenschar, er führte Wind und Wolken an, brachte und vertrieb den Hagel und schlug sich um der Ernte und des Viehs, der Milch und des Korns willen mit den Geistern von jenseits des Meeres und ließ nicht zu, daß sie ihm die Ernte seiner Gegend abjagten. Daher glaubt das Volk, daß sich Brankovic mit den Engeln trifft, und sagt von ihm: ›Wo kein guter Geist, gar wenig man speist.‹ Wie man erzählt, gehörte er den Geistern des zweiten Lagers an, zusammen mit den Wesiren von Skadar und den Begs von Plav-Gusinje, und in einem Scharmützel mit den Geistern aus Trebinje wehrte er Mustaj-Beg Sabljak, den Pascha aus Trebinje, ab, der einem dritten Lager angehörte. Bei diesem Zusammenstoß, bei dem er Sand, Federn und Eimerchen als Waffen bei sich trug, verletzte sich Brankovic am Fuß, und seither nahm er sich ein schwarzes Pferd, den Sultan aller Pferde, das im Schlaf wieherte und selbst auch ein Geist war, so daß Brankovic, während er seinen himmlischen Zahlen nachging, auf solche Weise erlahmt, die in einen Strohhalm verwandelte Seele seines Pferdes ritt. Man sagt auch, daß er in Konstantinopel gebeichtet und preisgegeben habe, ein Geist gewesen zu sein, und daß er danach nicht mehr zum Geist getaugt und auch das Vieh in Transsilvanien sich nicht länger rücklings bewegt habe, wenn er an den Hürden vorübergegangen sei...   - (pav)

Geist (4) Einige moderne Philosophen vermuten, daß Anaxagoras, da er bei der Entstehung des Weltalls einen Geist wirken sah, die Spiritualität gekannt und keinen körperlichen Gott angenommen habe, wie fast alle anderen Philosophen. Aber sie unterliegen dabei einer seltsamen Täuschung; denn unter dem Wort »Geist« verstanden die Griechen wie die Römer eine sehr feine, überaus dünnflüssige glühende Materie, die zwar fähig war, die Wahrheit zu erkennen, aber eine reale Ausdehnung und verschiedene Teile hatte. Wie soll man denn glauben, daß die griechischen Philosophen eine Idee von einer rein spirituellen Substanz hatten, da es doch klar ist, daß die ersten Kirchenväter alle Gott zu etwas Körperlichem gemacht hatten, daß ihre Lehre in der griechisch-katholischen Kirche bis zu den letzten Jahrhunderten fortlebte und daß sie von den Römern erst im Zeitalter des heiligen Augustin aufgegeben wurde? - (enz)

Geist (5)  Es ist aber der Geist des Menschen nicht allein aus den Sternen und Elementen herkommen, sondern es ist auch ein Funke aus dem Licht und der Kraft Gottes darinnen verborgen. Es ist nicht ein leer Wort, das in Genesis (Kap. 1, 21) stehet, Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, ja zum Bilde Gottes schuf er ihn; denn es hat eben den Verstand, daß er aus dem ganzen Wesen der Gottheit ist gemacht worden. - (boe)

Geist (6)  FAUST beiseite: Er ist entschieden verrückt ... Im Grunde noch schlimmer als der Teufel. Dieser Verrückte hat es sehr viel weiter gebracht.

DER EINSAME : Wozu auch Geist? Zu was dient dir denn dein Geist? Zum Dummsein. Wer keinen Geist hat, ist nicht dumm. Das Vollkommene ist geistlos. Wenn das Herz Geist hätte, wären wir tot. Kaum daß es so etwas wie Geist spürt, leidet das Herz; es schmerzt, es krampft sich zusammen oder beschleunigt sein Pochen; es muß sich wehren. Gegen wen? Gegen den Geist. Wenn die Natur, diese Närrin, genötigt war, uns etwas Geist zu erfinden, so nur darum, weil sie nicht imstande war, den Körper derart auszurüsten, daß er sich in jeder Lage ganz allein aus der Klemme ziehen konnte, ohne inneres Geschwätz und Nachsinnen.  - Paul Valéry, Mein Faust. München 1963 (dtv sr 16, zuerst ca. 1940)

Geist (7)  Die in den Menschen eingewachsenen fremden Geister sind eben sowohl, obschon in anderer Weise, dem Einfluß des menschlichen Willens unterworfen, als der Mensch von fremden Geistern abhängig ist; er kann ebensowohl aus der Mitte seines geistigen Seins neues in die in ihm verknüpften Geister hineingebären, als diese auf sein Innerstes bestimmend einwirken können; aber in dem harmonisch entwickelten Geistesleben hat kein Wille die Obermacht über den andern. Da jeder fremde Geist nur einen Teil seines Selbst mit dem einzelnen Menschen in Gemeinschaft hat, so kann der Wille des einzelnen Menschen nur einen anregenden Einfluß auf ihn haben, der mit seinem ganzen übrigen Teil außer dem Menschen liegt; und da jeder menschliche Geist eine Gemeinschaft sehr verschiedener fremder Geister in sich schließt, so kann der Wille eines einzelnen darunter auch nur einen anregenden Einfluß auf den ganzen Menschen haben, und nur, wenn der Mensch mit freier Willkür sich ganz seines Selbst an einzelne Geister entäußert, wird er der Fähigkeit verlustig, sie zu bemeistern.  - Gustav Theodor Fechner, Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, in: G.T.F., Das unendliche Leben. München 1984 (Matthes & Seitz debatte 2, zuerst 1836)

Geist (8)  Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden; hier sind alle übrigen Eigenschaften vereinigt, ohne daß irgendeine, das eigentümliche Recht behauptend, hervorträte. Der Geist gehört vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche. Übersicht des Weltwesens, Ironie, freien Gebrauch der Talente finden wir in allen Dichtern des Orients. Resultat und Prämisse wird uns zugleich geboten, deshalb sehen wir auch, wie großer Wert auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter haben alle Gegenstände gegenwärtig und beziehen die entferntesten Dinge leicht aufeinander, daher nähern sie sich auch dem, was wir Witz nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist ganz frei bleibt, deshalb er auch überall genialisch genannt werden kann und muß. - Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (zuerst 1819)

Geist (9)   Der Geist, erklärte mir ein geistreicher Mann, ist nur die Dummheit in Bewegung; und das Genie, die Dummheit in höchster Erregung.

So rühren Sie sich doch, gab ich zurück. Regen Sie sich auf, mein Lieber . . .  - (pval)

Geist (10)   Die Christenheit krepiert an ihrer Niedertracht … Denn der Geist kommt nicht von außen, wie die Kirche glaubt, sondern von innen und allein kraft des Fleisches – und das Fleisch ist weder heilig noch Mutter noch Jungfrau noch sonst etwas, sondern Frau – absolut Frau. - Colette Thomas,  Le Testament de la fille morte, nach: Guy Ducornet, Die Parasiten des Surrealismus

Geist (11)   Und dann wieder die medicinischen, zoologischen, historischen, politischen und belletristischen Schriftsteller unserer Tage, wie äußerst gern ergreifen sie jede Gelegenheit, um die »Freiheit des Menschen«, die »sittliche Freiheit« zu erwähnen! Sie dünken sich etwas damit. Auf eine Erklärung derselben lassen sie sich freilich nicht ein: aber wenn man sie examiniren dürfte, würde man finden, daß sie dabei entweder gar nichts, oder aber unser altes, ehrliches, wohlbekanntes liberum arhitrium indifferentiae denken, in so vornehme Redensarten sie es auch kleiden möchten, also einen Begriff, von dessen Unstatthaftigkeit den großen Haufen zu überzeugen, wohl nimmer gelingen wird, von welchem jedoch Gelehrte sich hüten sollten, mit so viel Unschuld zu reden. Daher eben giebt es auch einige Verzagte unter ihnen, welche sehr belustigend sind, indem sie nicht mehr sich unter-stehn, von der Freiheit des Willens zu reden, sondern, um es fein zu machen, statt dessen sagen »Freiheit des Geistes« und damit durchzuschleichen hoifen. Was sie sich dabei denken, weiß ich glücklicherweise dem mich fragend ansehenden Leser anzugeben: Nichts, rein gar nichts, - als daß es eben, nach guter deutscher Art und Kunst, ein unentschiedener, ja eigentlich nichtssagender Ausdruck ist, welcher einen, ihrer Leerheit und Feigheit erwünschten Hinterhalt gewährt, zum Entwischen. Das Wort »Geist«, eigentlich ein tropischer [bildlicher] Ausdruck, bezeichnet überall die intellektuellen Fähigkeiten, im Gegensatz des Willens: diese aber sollen in ihrem Wirken durchaus nicht frei seyn, sondern sich zunächst den Regeln der Logik, sodann aber dem jedesmaligen Objekt ihres Erkennens anpassen, fügen und unterwerfen, damit sie rein, d.h. objektiv auffassen, und es nie heiße stat pro ratione voluntas [statt des Grundes gilt der Wille: Juvenal, Satiren].

Ueberhaupt ist dieser »Geist«, der in jetziger deutscher Litteratur sich überall herumtreibt, ein durchaus verdächtiger Geselle, den man daher, wo er sich betreffen läßt, nach seinem Paß fragen soll. Der mit Feigheit verbundenen Gedankenarmuth als Maske zu dienen, ist sein häufigstes Gewerbe. Uebrigens ist das Wort Geist bekanntlich mit dem Worte Gas verwandt, welches, aus dem Arabischen und der Alchimie stammend, Dunst oder Luft bedeutet.   - Schopenhauer, Preisschrift Über die Grundlage der Moral

Geist (12)

Geist (13)

Welcherlei Körper der Geist nun besitzt und aus welchen Atomen
Dieser besteht, soll weiter mein Vers dir näher erläutern.
Erstlich behaupt' ich, er sei aus den allerfeinsten und kleinsten
Urelementen gebildet. Daß dieses sich also verhalte,
Magst du aus folgendem lernen; so daß es dir völlig gewiß wird.
Nichts in der Welt scheint wohl an Geschwindigkeit irgend zu gleichen
Unserem Geist, der irn selben Moment, was er denkt, auch schon anfängt.
Also bewegt sich der Geist viel schneller als irgendwas andres
Aus dem Bereiche der Dinge, die unserem Auge sind sichtbar.
Aber nun kann doch ein Ding, das so leicht sich bewegt, nur bestehen
Aus ganz kugelig runden und allerkleinsten Atomen,
Die beim leichtesten Stoß sofort in Bewegung sich setzen.
Denn auch das Wasser bewegt sich und wogt beim leisesten Anstoß,
Da es sein Dasein dankt leicht rollenden kleinen Figuren.
Andererseits hat der Honig die ungleich festere Fügung:
Zäher fließen die Tropfen und zögernder ist die Bewegung.
Denn das Gefüge des Stoffs hängt hier viel fester zusammen
Untereinander. Natürlich; es hat ja weniger glatte,
Weniger feine und auch viel weniger runde Atome.
Nimm nun die Körner des Mohns: das leiseste, schwebende Lüftchen
Läßt auch den stattlichsten Haufen von oben herunter zerrinnen;
Aber bei einem Gehäufe von Steinen oder von Ähren
Ist das unmöglich. Mithin je kleiner und glatter die Körper
Sind von Natur, um so mehr wird ihre Beweglichkeit wirksam.
Alle jedoch, die im Gegenteil recht wuchtig erscheinen,
Und nicht minder die rauhen, sind um so besser gefestigt.
Nunmehr, wo wir erkannt die Beweglichkeit äußersten Grades
Als das Wesen des Geistes, ergibt sich unweigerlich, daß er
Aus ganz winzigen, glatten und runden Atomen bestehe.
Diese Erkenntnis, mein Bester, die nun du gewonnen, sie wird sich
Dir noch in mancher Beziehung als nützlich und förderlich zeigen. 

- (luk)

Geist (14)

Geist (15)    Manchmal steige ich auf die Spitze jenes Berges, von der man bei heitrem Wetter ganz deutlich die Türme von Alexandrien erblickt, und vor meinen Augen begeben sich die wunderbarsten Ereignisse und Taten. Viele haben das auch unglaublich gefunden und gemeint, ich bilde mir nur ein, das vor mir im äußern Leben wirklich sich ereignen zu sehen was sich nur als Geburt meines Geistes, meiner Fantasie gestalte. Ich halte dies nun für eine der spitzfündigsten Albernheiten die es geben kann. Ist es nicht der Geist allein, der das was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen vermag? - Ja was hört, was sieht, was fühlt in uns? - vielleicht die toten Maschinen die wir Auge - Ohr - Hand etc. nennen und nicht der Geist? - Gestaltet sich nun etwa der Geist seine in Raum und Zeit bedingte Welt im Innern auf eigne Hand und überläßt jene Funktionen einem andern uns inwohnenden Prinzip? - Wie ungereimt! Ist es nun also der Geist allein, der die Begebenheit vor uns erfaßt, so hat sich das auch wirklich begeben was er dafür anerkennt. - E. T. A. Hoffmann, Der Einsiedler Serapion (Serapionsbrüder)

Geist (16)   ABT  Einmal sagt Ihr Jakob zu mir, es wäre besser, mein Lieber, du hieltest den Körper, wenn überhaupt etwas, für das Bewußtsein, als etwas Geistiges. Denn der Körper hat wenigstens für eine kurze Zeitspanne Bestand. Aber alles Geistige entsteht und vergeht in einem Augenblick. Wie ein Affe sich im Wald von Baum zu Baum schwingt, einen Ast ergreift und wieder losläßt, um einen neuen zu packen, so entsteht und vergeht das Geistige und das Denken. Das ist mehr als Dementia präcox! meine Liebe.  - Herbert Achternbusch, L'Etat c'est moi. Frankfurt am Main 1972

Geist (17)  Wenn wir mit umgangssprachlichen Worten operieren, vergessen wir immer, daß es Teile vergangener und ewiger Geschichten sind und daß wir, wie die Barbaren, unsere Häuser aus den Trümmern von Skulpturen und Statuen der Götter errichten. Unsere nüchternsten Begriffe und Definitionen sind entfernte Derivate der Mythen und Geschichten von früher. Selbst das kleinste Körnchen unserer Ideen ist aus der Mythologie hervorgegangen — ist seinerseits verwandelte, verstümmelte, umgeformte Mythologie. Die ursprünglichste Funktion des Geistes ist das Fabulieren, das Erfinden von »Geschichten«. Der Motor menschlicher Wissenschaft ist die Überzeugung, daß der absolute Sinn der Welt am Ende aller Forschungen gefunden wird. Sie sucht ihn auf dem Gipfel ihrer künstlichen Stapel und Gerüste. Doch die Elemente, die sie zum Bau verwendet, sind schon einmal gebraucht worden, sie stammen aus vergessenen und zertrümmerten »Geschichten«. Die Poesie erkennt diesen verlorenen Sinn wieder, sie gibt den Worten ihren Ort zurück und fugt sie gemäß ihrer früheren Bedeutung wieder zusammen. Bei einem Dichter besinnt sich das Wort gleichsam auf seinen wesentlichen Sinn, es blüht auf und entwickelt sich spontan nach eigenen Gesetzen, es erlangt seine Integralität zurück. Deshalb ist jede Poesie Mythologisierung, sie trachtet danach, die Welt-Mythen wiederherzustellen. Die Vermythisierung der Welt ist nicht abgeschlossen. Dieser Prozeß wurde von der Entwicklung der Wissenschaft lediglich aufgehalten, auf eine Seitenbahn gedrängt, wo er weiterlebt, ohne seinen wesentlichen Sinn zu verstehen. Doch auch die Wissenschaft ist nichts anderes als das Errichten eines Welt-Mythos, denn der Mythos liegt schon in den bloßen Elementen, und wir können aus dem Mythos nicht heraus. Die Poesie gelangt zum Sinn der Welt anticipando, deduktiv, auf der Grundlage großer und kühner Abkürzungen und Annäherungen. Die Wissenschaft strebt ebendorthin, und zwar induktiv, methodisch, wobei sie das ganze Erfahrungsmaterial berücksichtigt. Im Grunde wollen Poesie und Wissenschaft auf ein und dasselbe hinaus.  - Bruno Schulz,  Die Mythisierung der Wirklichkeit. Nach (bs2)

Geist (18)  Die Lehren des weisen Charemon waren viel umfassender als der Extrakt, den ich geboten habe. Sie liefen im allgemeinen darauf hinaus, daß ein Prophet namens Bitys in seinen Werken die Existenz Gottes und der Engel demonstriert und daß ein anderer Prophet namens Thot diese Gedanken mit einer Metaphysik umhüllt hatte, deren Sinn sehr schwer zu fassen war, die aber darum nur noch erhabener schien.

In dieser Theologie wird Gott, den man den Vater nennt, nur durch das Schweigen gepriesen. Wollte man indessen ausdrücken, in welchem Maße er sich selbst genüge, so sagte man: Er ist sein eigener Vater, er ist sein eigener Sohn. Und darum nannte man ihn auch den Geist Gottes oder Thot, was auf ägyptisch „Beredung" bedeutet.

Und da man schließlich in der Natur Geist und Materie zu sehen vermeinte, betrachtete man den Geist als einen Ausfluß Gottes, und man stellte ihn auf dem Schlamm schwimmend dar.  - (sar)

Geist (19)   Das Höchste, was ich sonst erreicht hatte, war eine schmerzliche oder resignierte Gleichgültigkeit; wogegen die Unerschütterlichkeit, glaube ich, Kraft ist. Und was schließe ich daraus? Nichts; diese glücklichen Empfindungen werden nur vorübergehende sein, werden wohl von der Neuheit kommen. Allenfalls schließe ich daraus, daß die Welt ohne eigene Kinder und die Welt mit eigenen Kindern zwei verschiedene Dinge sind.

Wunderbare Ferien! Ach ja, sofort bin ich wieder soweit und sage «Ferien»; es gelingt mir nicht, mich von dem Gefühl zu befreien, daß all das eine Demütigung des Geistes voraussetzt und anzeigt. Zum Teufel daher mit dem Geist! Moment mal, und wenigstens: warum? Ich frage mich, warum meine Gefühle von heute, und was immer mag sie rechtfertigen? Muß ich etwa nicht, vernünftigerweise, für dieses kleine Wesen die düsterste und schmerzlichste Zukunft voraussehen, für mich nicht die grausamsten Enttäuschungen (für mich in mir und für mich in ihr), für uns beide nicht Ohnmacht, Mühsal, Hölle des Alltags, Unmöglichkeit der Rettung oder Schlimmeres? (Keiner wird sich retten, schrieb X auf den Marmor der Kaffeehaustischchen.) Zum Teufel also mit dem Geist, der Vernunft und der Rettung. Und warum auch nicht, denn der Wolf verliert nur den Pelz.1

Entweder besteht der Geist nicht nur in der Vernunft, oder man begibt sich hier außerhalb der Grenzen des Geistes. Bravo, es wäre leicht zu behaupten, daß der Geist nicht allein in der Vernunft besteht, wenn man damit nicht sagen wollte, daß er überhaupt nicht in der Vernunft besteht; denn diese kann sich nicht verbünden, es sei denn mit sich selbst. Und wenn man dem Geist eine «friedliche Koexistenz» mit etwas anderem zugestände, wo würde die Einheit des ersteren enden, die per definitionem vorausgesetzt ist? Man könnte nicht einmal von unterschiedlichen Begriffen sprechen, die in diesem Fall unversöhnlich wären. O Gott, muß man wirklich die Einheit des Geistes als Grenze setzen? Als Abstraktion? Man käme schließlich zu einer Formulierung wie: Die Moral ist der moralische Anspruch. Aber welche Rolle sollte dann der Anteil der heterogenen Elemente in der Zusammensetzung des Geistes spielen? Oder sollte und könnte der Geist eine zufallige und fließende Verbindung sein? Wirklich zu leicht: Nein, das Reich des Geistes sollte von dieser Erde sein, bei Strafe des Versagens.

(Unnütz hinzuzufügen, daß mir an dieser verquasten Spekulation nichts liegt, zumindest heute.)   - (land3)

1 Anspielung auf das Sprichwort "Der Wolf verliert nur den Pelz und nicht das Laster"

Geist (20)    Wenn man schon sagt, die Natur trage dschungelhafte Züge, wieviel dunkler ist es noch, den Geist zu beobachten und seine Bewegungen zu verfolgen. Was die Öffentlichkeit darunter versteht, das ist er nicht, wo er wirklich in Erscheinung tritt, erzählt er nichts, macht kein Palaver, da reißt er beispielsweise dem Menschen direkt die Gehirnwindungen heraus, Stücke, graue Substanz und ergänzt das keineswegs, sondern vollendet die Zerstörung. Undurchsichtiges Verfahren: Er spielt mit Richtigem und es fällt falsch zurück, er füllt eine Richtung auf und dabei wird sie kahler, bis sie sich nach vorn legt und dann sackt sie ab. Sie fühlen die Einwände gegen ihn, gegen sich, aber er jagt Sie weiter, er brennt sein Feuer, aber auch seine Asche verstreut er ganz allein, Heutzutage realisiert er sich üblicherweise als Gedanke. Ein Gedanke beißt an, ein Zittern durchläuft seinen Körper, die Zähne knirschen, er schüttelt den Stoff, zerreißt ihn - Fetzen und Staub! Die Gedanken laufen durcheinander wie Eidechsen in der Sonne - nun soll es große Gedanken geben, Krokodile, festliegende, aber ich vermisse die Schrift über den häuslichen Charakter der Axiome und die Geographie der Apriori, die klimatische Entschuldigung für so viel Staub. Heutzutage wird er aufgefaßt als Unterhaltung, Wissenschaft, Propädeutik - ach du lieber Gott - heutzutage! Heutzutage können Sie in die Lage kommen, gefragt zu werden, wovon Sie leben, von Radardenken können Sie nicht leben. Früher gab es schöne Stellungen - Syndikus: Listige Verträge, Neuemissionen, - oder Facharzt für Hals, Nasen, Ohren: Bißchen Rachenpinseln und nachts werden Sie nicht gerufen, - Vertreter für Suchardschokolade, sehr gefragt, Sie brauchen nur den Hörer abnehmen und die Aufträge notieren - überhaupt wenn Sie den Begriff Arbeit analysieren, kommen Sie zu sonderbaren Resultaten, aber es waren schöne Zeiten und ich halte sie hoch. Heutzutage geht eine Stimmung durch die Welt, es soll alles warmgehalten werden: Fußsohlen, Wahrheiten, Kunsttöne - Pulswärmer an die Beine, - Pulswärmer das ist der Hintergrund - ein Pulswärmer als Wimpel an die Kamikaze, den Götterwind, die Todesflieger - Pulswärmer an die Lanzen der apokalyptischen Reiter -  - Gottfried Benn, Der Radardenker. In: G. B., Prosa und Szenen. Ges. Werke Bd. 2. Wiesbaden 1962

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