Im Unbewußten ist zerebral gleich genital. Das Wort zerebral entstammt der gleichen Sprachwurzel wie Ceres, die Göttin des Getreides, des Wachstums und der Fruchtbarkeit, der gleichen Wurzel wie crescere, wachsen, und creare, erschaffen. Onians, der Spracharchäologe, der die untergegangenen Welten der Bedeutung ans Licht hebt, verschütteten Sinn aufdeckt, hat ein prahistorisches Bild vom Körper ausgegraben, dem zufolge Kopf und Genital über das Rückgrat miteinander in Verbindung stehen: die grauen Zellen des Hirns, das Rückenmark und die Samenflüssigkeit sind alles die gleiche Substanz, im Genital abzapfbar und im Hirn gespeichert. Der Seelenstoff ist der Samenstoff: Geist ist das Genital im Kopf (S. 136 f.).
Dieser Lesart zufolge ist Freuds ganze Sublimierungstheorie einfach nur eine Offenlegung des Potentials, das bereits in der Sprache selbst verborgen liegt. Aber die Sache geht noch weiter, wie Brown in seinem jüngsten Buch, Apocalypse and/or Metamorphosis (Los Angeles 1991), herausgearbeitet hat; denn
Unser horn heißt auf lateinisch cornu, dem entspricht unser corn. Das griechische keras (»Horn«) ist unser kern und kernel; dazu gehört ... Cornu copiae, Füllhorn.
Aber cornu (»Horn«) ist auch gleich corona (»Krone«) ... Und das griechische keras ist das griechische kras, unser cranium, Schädel, Haupt. Griechisch kratos, Oberhaupt, Machthaber (Aristokratie, Demokratie); krainein, »bevollmächtigen«.
Herne, the horny hunter, auf deutsch »der geile
Jäger« [Falstaffs Name in Die lustigen Weiber von Windsor, wenn
er mit einem Hirschgeweih auf der Stirn im Park herumspringt]; dem
horny entspricht das deutsche Wort Hirn.
Herne war hirnig; wie der gehörnte Moses sprossend, gekrönt ... ein
geschwollenes oder zum geilen Bock gewordenes
Haupt; kopfkrank. Cerebrosus (cerritus) müßte »hirnig« bedeuten, bedeutet
aber »verrückt«. Griechisch keras
und keraunos, »Horn« und »Donner«, hörnerverrückt
und vom Donner gerührt. - (wesch)
Geist (2)
Welcherlei Körper der Geist nun
besitzt und aus welchen Atomen |
- (
luk
)
Geist (3) Von Brankovic denkt man im
Volk, daß er ›nicht allein‹ war, daß er sich als junger Mensch 40 Tage
lang nicht wusch, daß er in die Abendmahlzeit des Teufels hineinplatzte
und zum Geist wurde. Auf jeder Schulter wuchs ihm ein Haarbüschel, er war
hellsichtig, verschlafen im März, von glücklicher Hand, vermochte weit
mit dem Körper zu springen, noch weiter aber mit dem Geist, der, während
sein Körper schlief, aufflog wie eine Täubchenschar, er führte Wind und
Wolken an, brachte und vertrieb den Hagel und schlug sich um der Ernte
und des Viehs, der Milch und des Korns willen mit den Geistern von jenseits
des Meeres und ließ nicht zu, daß sie ihm die Ernte seiner Gegend abjagten.
Daher glaubt das Volk, daß sich Brankovic mit den Engeln trifft, und sagt
von ihm: ›Wo kein guter Geist, gar wenig man speist.‹ Wie man erzählt,
gehörte er den Geistern des zweiten Lagers an, zusammen mit den Wesiren
von Skadar und den Begs von Plav-Gusinje, und in einem Scharmützel mit
den Geistern aus Trebinje wehrte er Mustaj-Beg Sabljak, den Pascha aus
Trebinje, ab, der einem dritten Lager angehörte. Bei diesem Zusammenstoß,
bei dem er Sand, Federn und Eimerchen als Waffen bei sich trug, verletzte
sich Brankovic am Fuß, und seither nahm er sich ein schwarzes Pferd, den
Sultan aller Pferde, das im Schlaf wieherte und selbst auch ein Geist war,
so daß Brankovic, während er seinen himmlischen Zahlen nachging, auf solche
Weise erlahmt, die in einen Strohhalm verwandelte Seele seines Pferdes
ritt. Man sagt auch, daß er in Konstantinopel gebeichtet und preisgegeben
habe, ein Geist gewesen zu sein, und daß er danach nicht mehr zum Geist
getaugt und auch das Vieh in Transsilvanien sich nicht länger rücklings
bewegt habe, wenn er an den Hürden vorübergegangen sei... -
(
pav
)
Geist (4) Einige moderne Philosophen
vermuten, daß Anaxagoras, da er bei der Entstehung des Weltalls
einen Geist wirken sah, die Spiritualität gekannt und keinen körperlichen
Gott angenommen habe, wie fast alle anderen Philosophen.
Aber sie unterliegen dabei einer seltsamen Täuschung; denn unter dem Wort
»Geist« verstanden die Griechen wie die Römer eine sehr feine, überaus
dünnflüssige glühende Materie, die zwar fähig war, die Wahrheit
zu erkennen, aber eine reale Ausdehnung und verschiedene Teile hatte. Wie
soll man denn glauben, daß die griechischen Philosophen eine Idee von einer
rein spirituellen Substanz hatten, da es doch klar ist, daß die ersten
Kirchenväter alle Gott zu etwas Körperlichem gemacht hatten, daß ihre Lehre
in der griechisch-katholischen Kirche bis zu den letzten Jahrhunderten
fortlebte und daß sie von den Römern erst im Zeitalter des heiligen Augustin
aufgegeben wurde? - (
enz
)
Geist (5) Es ist aber der Geist
des Menschen nicht allein aus den Sternen und Elementen herkommen, sondern
es ist auch ein Funke aus dem Licht und der Kraft
Gottes darinnen verborgen. Es ist nicht ein leer Wort, das in Genesis (Kap.
1, 21) stehet, Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde,
ja zum Bilde Gottes schuf er ihn; denn es hat eben den Verstand, daß er
aus dem ganzen Wesen der Gottheit ist gemacht worden. - (
boe
)
Geist (6) FAUST beiseite: Er ist entschieden verrückt ... Im Grunde noch schlimmer als der Teufel. Dieser Verrückte hat es sehr viel weiter gebracht.
DER EINSAME : Wozu auch Geist? Zu was dient dir denn dein Geist? Zum
Dummsein. Wer keinen Geist hat, ist nicht dumm. Das Vollkommene ist geistlos.
Wenn das Herz Geist hätte, wären wir tot. Kaum daß es so etwas wie Geist
spürt, leidet das Herz; es schmerzt, es krampft sich zusammen oder beschleunigt
sein Pochen; es muß sich wehren. Gegen wen? Gegen den Geist. Wenn die Natur,
diese Närrin, genötigt war, uns etwas Geist zu erfinden, so nur darum,
weil sie nicht imstande war, den Körper derart auszurüsten, daß er sich
in jeder Lage ganz allein aus der Klemme ziehen konnte, ohne inneres Geschwätz
und Nachsinnen. - Paul Valéry, Mein Faust. München 1963 (dtv
sr 16, zuerst ca. 1940)
Geist (7) Die in den Menschen
eingewachsenen fremden Geister sind eben sowohl, obschon in anderer Weise,
dem Einfluß des menschlichen Willens unterworfen, als der Mensch von fremden
Geistern abhängig ist; er kann ebensowohl aus der Mitte seines geistigen
Seins neues in die in ihm verknüpften Geister hineingebären, als diese
auf sein Innerstes bestimmend einwirken können; aber in dem harmonisch
entwickelten Geistesleben hat kein Wille die Obermacht über den andern.
Da jeder fremde Geist nur einen Teil seines Selbst mit dem einzelnen Menschen
in Gemeinschaft hat, so kann der Wille des einzelnen Menschen nur einen
anregenden Einfluß auf ihn haben, der mit seinem ganzen übrigen Teil außer
dem Menschen liegt; und da jeder menschliche Geist eine Gemeinschaft sehr
verschiedener fremder Geister in sich schließt, so kann der Wille eines
einzelnen darunter auch nur einen anregenden Einfluß auf den ganzen Menschen
haben, und nur, wenn der Mensch mit freier Willkür sich ganz seines Selbst
an einzelne Geister entäußert, wird er der Fähigkeit verlustig, sie zu
bemeistern. - Gustav Theodor Fechner, Das Büchlein vom Leben
nach dem Tode, in: G.T.F., Das unendliche Leben. München 1984 (Matthes
& Seitz debatte 2, zuerst 1836)
Geist (8) Der höchste Charakter orientalischer
Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist
nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden; hier sind alle übrigen Eigenschaften
vereinigt, ohne daß irgendeine, das eigentümliche Recht behauptend, hervorträte.
Der Geist gehört vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche.
Übersicht des Weltwesens, Ironie, freien Gebrauch der Talente finden wir
in allen Dichtern des Orients.
Resultat und Prämisse wird uns zugleich geboten, deshalb sehen wir auch,
wie großer Wert auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter
haben alle Gegenstände gegenwärtig und beziehen die entferntesten Dinge
leicht aufeinander, daher nähern sie sich auch dem, was wir Witz
nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist selbstsüchtig,
selbstgefällig, wovon der Geist ganz frei bleibt, deshalb er auch überall
genialisch genannt werden kann und muß. - Goethe, Noten und Abhandlungen
zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (zuerst 1819)
Geist (9) Der Geist, erklärte mir ein geistreicher Mann, ist nur die Dummheit in Bewegung; und das Genie, die Dummheit in höchster Erregung.
So rühren Sie sich doch, gab ich zurück. Regen Sie sich auf,
mein Lieber . . . - (
pval
)
Geist (10) Die Christenheit krepiert
an ihrer Niedertracht … Denn der Geist kommt nicht von außen, wie die Kirche
glaubt, sondern von innen und allein kraft des Fleisches
– und das Fleisch ist weder heilig noch Mutter noch Jungfrau noch sonst etwas,
sondern Frau – absolut Frau. - Colette Thomas, Le Testament de la
fille morte, nach: Guy Ducornet, Die Parasiten des Surrealismus
Geist (11) Und dann wieder die medicinischen, zoologischen, historischen, politischen und belletristischen Schriftsteller unserer Tage, wie äußerst gern ergreifen sie jede Gelegenheit, um die »Freiheit des Menschen«, die »sittliche Freiheit« zu erwähnen! Sie dünken sich etwas damit. Auf eine Erklärung derselben lassen sie sich freilich nicht ein: aber wenn man sie examiniren dürfte, würde man finden, daß sie dabei entweder gar nichts, oder aber unser altes, ehrliches, wohlbekanntes liberum arhitrium indifferentiae denken, in so vornehme Redensarten sie es auch kleiden möchten, also einen Begriff, von dessen Unstatthaftigkeit den großen Haufen zu überzeugen, wohl nimmer gelingen wird, von welchem jedoch Gelehrte sich hüten sollten, mit so viel Unschuld zu reden. Daher eben giebt es auch einige Verzagte unter ihnen, welche sehr belustigend sind, indem sie nicht mehr sich unter-stehn, von der Freiheit des Willens zu reden, sondern, um es fein zu machen, statt dessen sagen »Freiheit des Geistes« und damit durchzuschleichen hoifen. Was sie sich dabei denken, weiß ich glücklicherweise dem mich fragend ansehenden Leser anzugeben: Nichts, rein gar nichts, - als daß es eben, nach guter deutscher Art und Kunst, ein unentschiedener, ja eigentlich nichtssagender Ausdruck ist, welcher einen, ihrer Leerheit und Feigheit erwünschten Hinterhalt gewährt, zum Entwischen. Das Wort »Geist«, eigentlich ein tropischer [bildlicher] Ausdruck, bezeichnet überall die intellektuellen Fähigkeiten, im Gegensatz des Willens: diese aber sollen in ihrem Wirken durchaus nicht frei seyn, sondern sich zunächst den Regeln der Logik, sodann aber dem jedesmaligen Objekt ihres Erkennens anpassen, fügen und unterwerfen, damit sie rein, d.h. objektiv auffassen, und es nie heiße stat pro ratione voluntas [statt des Grundes gilt der Wille: Juvenal, Satiren].
Ueberhaupt ist dieser »Geist«, der in jetziger deutscher Litteratur sich
überall herumtreibt, ein durchaus verdächtiger Geselle, den man daher, wo er
sich betreffen läßt, nach seinem Paß fragen soll. Der mit Feigheit verbundenen
Gedankenarmuth als Maske zu dienen, ist sein häufigstes Gewerbe. Uebrigens ist
das Wort Geist bekanntlich mit dem Worte Gas
verwandt, welches, aus dem Arabischen und der Alchimie
stammend, Dunst oder Luft bedeutet.
- Schopenhauer, Preisschrift Über die Grundlage der Moral
Geist (12)
Geist (13)
Welcherlei Körper der Geist nun besitzt und aus welchen Atomen |
Geist (14)
Geist (15) Manchmal steige ich auf die Spitze
jenes Berges, von der man bei heitrem Wetter ganz deutlich die Türme von Alexandrien
erblickt, und vor meinen Augen begeben sich die wunderbarsten Ereignisse und
Taten. Viele haben das auch unglaublich gefunden und gemeint, ich bilde mir
nur ein, das vor mir im äußern Leben wirklich sich ereignen zu sehen was sich
nur als Geburt meines Geistes, meiner Fantasie gestalte. Ich halte dies nun
für eine der spitzfündigsten Albernheiten die es geben kann. Ist es nicht der
Geist allein, der das was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen
vermag? - Ja was hört, was sieht, was fühlt in uns? - vielleicht die toten Maschinen
die wir Auge - Ohr - Hand etc. nennen und nicht der Geist? - Gestaltet sich
nun etwa der Geist seine in Raum und Zeit bedingte Welt im Innern auf eigne
Hand und überläßt jene Funktionen einem andern uns inwohnenden Prinzip? - Wie
ungereimt! Ist es nun also der Geist allein, der die Begebenheit vor uns erfaßt,
so hat sich das auch wirklich begeben was er dafür anerkennt. - E. T. A. Hoffmann, Der
Einsiedler Serapion (Serapionsbrüder)
Geist (16) ABT Einmal sagt Ihr Jakob
zu mir, es wäre besser, mein Lieber, du hieltest den Körper, wenn überhaupt
etwas, für das Bewußtsein, als etwas Geistiges. Denn der Körper hat wenigstens
für eine kurze Zeitspanne Bestand. Aber alles Geistige entsteht und vergeht
in einem Augenblick. Wie ein Affe sich im Wald
von Baum zu Baum schwingt, einen Ast ergreift und wieder losläßt, um einen neuen
zu packen, so entsteht und vergeht das Geistige und das Denken. Das ist mehr
als Dementia präcox! meine Liebe. - Herbert Achternbusch, L'Etat c'est moi. Frankfurt am
Main 1972
Geist (17) Wenn wir mit umgangssprachlichen Worten
operieren, vergessen wir immer, daß es Teile vergangener und ewiger Geschichten
sind und daß wir, wie die Barbaren, unsere Häuser aus den Trümmern von Skulpturen
und Statuen der Götter errichten. Unsere nüchternsten Begriffe und Definitionen
sind entfernte Derivate der Mythen und Geschichten von früher. Selbst das kleinste
Körnchen unserer Ideen ist aus der Mythologie hervorgegangen — ist seinerseits
verwandelte, verstümmelte, umgeformte Mythologie. Die ursprünglichste Funktion
des Geistes ist das Fabulieren, das Erfinden
von »Geschichten«. Der Motor menschlicher Wissenschaft
ist die Überzeugung, daß der absolute Sinn der Welt am Ende aller Forschungen
gefunden wird. Sie sucht ihn auf dem Gipfel ihrer künstlichen Stapel und Gerüste.
Doch die Elemente, die sie zum Bau verwendet, sind schon einmal gebraucht worden,
sie stammen aus vergessenen und zertrümmerten »Geschichten«. Die Poesie erkennt
diesen verlorenen Sinn wieder, sie gibt den Worten ihren Ort zurück und fugt
sie gemäß ihrer früheren Bedeutung wieder zusammen. Bei einem Dichter besinnt
sich das Wort gleichsam auf seinen wesentlichen Sinn, es blüht auf und entwickelt
sich spontan nach eigenen Gesetzen, es erlangt seine Integralität zurück. Deshalb
ist jede Poesie Mythologisierung, sie trachtet danach, die Welt-Mythen wiederherzustellen.
Die Vermythisierung der Welt ist nicht abgeschlossen. Dieser Prozeß wurde von
der Entwicklung der Wissenschaft lediglich aufgehalten, auf eine Seitenbahn
gedrängt, wo er weiterlebt, ohne seinen wesentlichen Sinn zu verstehen. Doch
auch die Wissenschaft ist nichts anderes als das Errichten eines Welt-Mythos,
denn der Mythos liegt schon in den bloßen Elementen,
und wir können aus dem Mythos nicht heraus. Die Poesie gelangt zum Sinn der
Welt anticipando, deduktiv, auf der Grundlage großer und kühner Abkürzungen
und Annäherungen. Die Wissenschaft strebt ebendorthin, und zwar induktiv, methodisch,
wobei sie das ganze Erfahrungsmaterial berücksichtigt. Im Grunde wollen Poesie
und Wissenschaft auf ein und dasselbe hinaus. - Bruno Schulz, Die
Mythisierung der Wirklichkeit. Nach
(
bs2
)
Geist (18) Die Lehren des weisen Charemon waren viel umfassender als der Extrakt, den ich geboten habe. Sie liefen im allgemeinen darauf hinaus, daß ein Prophet namens Bitys in seinen Werken die Existenz Gottes und der Engel demonstriert und daß ein anderer Prophet namens Thot diese Gedanken mit einer Metaphysik umhüllt hatte, deren Sinn sehr schwer zu fassen war, die aber darum nur noch erhabener schien.
In dieser Theologie wird Gott, den man den Vater nennt, nur durch das Schweigen gepriesen. Wollte man indessen ausdrücken, in welchem Maße er sich selbst genüge, so sagte man: Er ist sein eigener Vater, er ist sein eigener Sohn. Und darum nannte man ihn auch den Geist Gottes oder Thot, was auf ägyptisch „Beredung" bedeutet.
Und da man schließlich in der Natur Geist und Materie zu sehen vermeinte,
betrachtete man den Geist als einen Ausfluß
Gottes, und man stellte ihn auf dem Schlamm schwimmend dar. -
(sar)
Geist (19) Das Höchste, was ich sonst erreicht hatte, war eine schmerzliche oder resignierte Gleichgültigkeit; wogegen die Unerschütterlichkeit, glaube ich, Kraft ist. Und was schließe ich daraus? Nichts; diese glücklichen Empfindungen werden nur vorübergehende sein, werden wohl von der Neuheit kommen. Allenfalls schließe ich daraus, daß die Welt ohne eigene Kinder und die Welt mit eigenen Kindern zwei verschiedene Dinge sind.
Wunderbare Ferien! Ach ja, sofort bin ich wieder soweit und sage «Ferien»; es gelingt mir nicht, mich von dem Gefühl zu befreien, daß all das eine Demütigung des Geistes voraussetzt und anzeigt. Zum Teufel daher mit dem Geist! Moment mal, und wenigstens: warum? Ich frage mich, warum meine Gefühle von heute, und was immer mag sie rechtfertigen? Muß ich etwa nicht, vernünftigerweise, für dieses kleine Wesen die düsterste und schmerzlichste Zukunft voraussehen, für mich nicht die grausamsten Enttäuschungen (für mich in mir und für mich in ihr), für uns beide nicht Ohnmacht, Mühsal, Hölle des Alltags, Unmöglichkeit der Rettung oder Schlimmeres? (Keiner wird sich retten, schrieb X auf den Marmor der Kaffeehaustischchen.) Zum Teufel also mit dem Geist, der Vernunft und der Rettung. Und warum auch nicht, denn der Wolf verliert nur den Pelz.1
Entweder besteht der Geist nicht nur in der Vernunft, oder man begibt sich hier außerhalb der Grenzen des Geistes. Bravo, es wäre leicht zu behaupten, daß der Geist nicht allein in der Vernunft besteht, wenn man damit nicht sagen wollte, daß er überhaupt nicht in der Vernunft besteht; denn diese kann sich nicht verbünden, es sei denn mit sich selbst. Und wenn man dem Geist eine «friedliche Koexistenz» mit etwas anderem zugestände, wo würde die Einheit des ersteren enden, die per definitionem vorausgesetzt ist? Man könnte nicht einmal von unterschiedlichen Begriffen sprechen, die in diesem Fall unversöhnlich wären. O Gott, muß man wirklich die Einheit des Geistes als Grenze setzen? Als Abstraktion? Man käme schließlich zu einer Formulierung wie: Die Moral ist der moralische Anspruch. Aber welche Rolle sollte dann der Anteil der heterogenen Elemente in der Zusammensetzung des Geistes spielen? Oder sollte und könnte der Geist eine zufallige und fließende Verbindung sein? Wirklich zu leicht: Nein, das Reich des Geistes sollte von dieser Erde sein, bei Strafe des Versagens.
(Unnütz hinzuzufügen, daß mir an dieser verquasten Spekulation nichts liegt,
zumindest heute.) - (land3)
1
Anspielung auf das Sprichwort "Der Wolf
verliert nur den Pelz und nicht das Laster"
Geist (20) Wenn man schon sagt, die Natur
trage dschungelhafte Züge, wieviel dunkler ist es noch, den Geist zu beobachten
und seine Bewegungen zu verfolgen. Was die Öffentlichkeit darunter versteht,
das ist er nicht, wo er wirklich in Erscheinung tritt, erzählt er nichts, macht
kein Palaver, da reißt er beispielsweise dem Menschen direkt die Gehirnwindungen
heraus, Stücke, graue Substanz und ergänzt das keineswegs, sondern vollendet
die Zerstörung. Undurchsichtiges Verfahren: Er spielt mit Richtigem und es fällt
falsch zurück, er füllt eine Richtung auf und dabei wird sie kahler, bis sie
sich nach vorn legt und dann sackt sie ab. Sie fühlen die Einwände gegen ihn,
gegen sich, aber er jagt Sie weiter, er brennt sein Feuer, aber auch seine Asche
verstreut er ganz allein, Heutzutage realisiert er sich üblicherweise
als Gedanke. Ein Gedanke beißt an, ein Zittern
durchläuft seinen Körper, die Zähne knirschen, er schüttelt den Stoff, zerreißt
ihn - Fetzen und Staub! Die Gedanken laufen durcheinander wie Eidechsen in der
Sonne - nun soll es große Gedanken geben, Krokodile, festliegende, aber ich
vermisse die Schrift über den häuslichen Charakter der Axiome und die Geographie
der Apriori, die klimatische Entschuldigung für so viel Staub. Heutzutage
wird er aufgefaßt als Unterhaltung, Wissenschaft, Propädeutik - ach du lieber
Gott - heutzutage! Heutzutage können Sie in die Lage kommen, gefragt
zu werden, wovon Sie leben, von Radardenken können Sie nicht leben. Früher gab
es schöne Stellungen - Syndikus: Listige Verträge, Neuemissionen, - oder Facharzt
für Hals, Nasen, Ohren: Bißchen Rachenpinseln und nachts werden Sie nicht gerufen,
- Vertreter für Suchardschokolade, sehr gefragt, Sie brauchen nur den Hörer
abnehmen und die Aufträge notieren - überhaupt wenn Sie den Begriff Arbeit analysieren,
kommen Sie zu sonderbaren Resultaten, aber es waren schöne Zeiten und ich halte
sie hoch. Heutzutage geht eine Stimmung durch die Welt, es soll alles warmgehalten
werden: Fußsohlen, Wahrheiten, Kunsttöne - Pulswärmer an die Beine, - Pulswärmer
das ist der Hintergrund - ein Pulswärmer als Wimpel an die Kamikaze, den Götterwind,
die Todesflieger - Pulswärmer an die Lanzen der apokalyptischen Reiter - - Gottfried Benn, Der Radardenker. In: G. B.,
Prosa und Szenen. Ges. Werke Bd. 2. Wiesbaden 1962