ngewißheit Der Erfahrung nach ist es nicht ausgeschlossen, daß eine schuldbewußte Ehefrau und ihr Liebhaber gemeinsam die Ermordung ihres unbequemen Ehegatten planen und ausführen, wenn auch die meisten, die ihr Ehegelübde brechen, vor verbrecherischen Gewalttaten zurückscheuen.
In dieser Hinsicht ist der Fall von Edith Thompson und Frederick Bywaters
nicht besonders bemerkenswert. Ihr Verbrechen war einfach ein Bespiel mehr für
die Abgründe, in die eine ehebrecherische Leidenschaft diejenigen ziehen kann,
die diesem Trieb nachgeben. Wenn das Beweismaterial nicht trog, hatte die Frau
sich seit Monaten unter Anleitung ihres Partners auf die verschiedenste Weise,
wenn auch erfolglos, bemüht, ihren Ehemann umzubringen, und diese fehlgeschlagenen
Versuche treulich ihrem Partner berichtet. Amateurverbrecher variieren gewöhnlich
ihre Methoden nicht, und wenigstens hier ist bemerkenswert, daß die Angeklagte
in diesem Punkt eine ungewöhnliche Wendigkeit an den Tag legte. Es ist auch
keineswegs üblich, daß die Frau ihren arglosen Ehemann an einen Ort lockt, wo
ihr Liebhaber bereits auf ihn lauert. Was diesen Fall aber wirklich interessant
macht, ist die schwierige Frage, ob es eine derartige Übereinkunft überhaupt
gegeben hat; ob Bywaters seine Absicht, ihren Ehemann zu töten, überhaupt einmal
mit Mrs. Thompson diskutiert hat; ja, ob er bis zu jenem letzten, entscheidenden
Moment, als er das Ehepaar ruhig auf sein Heim zuschreiten sah, das mit ihr
zu teilen er dem Ehemann in widernatürlicher Logik jedes Recht - außer in rein
juristischem Sinne - absprach, überhaupt eine solche Absicht hegte; ob sie nicht
in Wirklichkeit eines Verbrechens schuldig befunden und dafür zu einem schmachvollen
Tode verurteilt wurde, das sie zwar in Gedanken erwogen haben mochte, an dem
sie aber keinen Anteil hatte. - William Roughead, Der Sündenbock:
Oscar Slater. In: Mary Hottinger (Hg.), Wahre Morde. Zürich 1978
»Hör, Fec, als wir das erste Mal im Aero zusammen schliefen, fragte ich dich, ob ich schön sei. Du sagtest ganz trocken ja. Und im Hotel Puget, als ich dich zum zweiten Mal fragte, sagtest du es fast unwillig. Während der Fahrt in die Jetee aber sagtest du, ich sei wunderschön. Das sagtest du auch an dem Tag, an dem Flinsparker mich entführte. Beide Male hast du es bloß gesagt, um mich in Stimmung zu bringen. Zuvor gabst du es nicht zu. Entweder, um mich nicht üppig zu machen, oder vielleicht sogar, weil du mich tatsächlich nicht schön findest. Jedenfalls hast du mich damals damit gefügig gemacht. Ich zweifelte wirklich, ob du mich schön fändest, und war im Taxi deshalb so sehr geschmeichelt, daß ich gar nicht merkte, was für eine unglaubliche Beleidigung es war, mir nicht zu sagen, was du eigentlich vorhattest. Ich habe mich überhaupt fürchterlich geärgert, daß ich dir so ohne weiteres folgte. Du hast mich am ersten Abend in Nizza einfach übertölpelt. Du mußt dich damals Job über mich lustig gemacht haben. Damals schon begann ich dich zu hassen. Und weißt du, wann es mir einfiel, daß du dich über mich mit all dem nur lustig gemacht hast? Als du mir nachts in dem kleinen Hotel beim Bahnhof deine Abenteuer erzähltest. Da merkte ich, wie man dich verwöhnt hatte, und fürchtete, nicht schön genug zu sein. Deshalb war ich am andern Tag auf dem Balkon im Hotel Ruhl so unausstehlich. V'lan, jetzt weißt du es.«
»Wenn es so gewesen sein soll,« meinte Fec nachlässig, »hättest du dich eigentlich darüber am allermeisten ärgern müssen. Nicht bloß über den kompletten Bann. Warum fällt dir das alles so spät ein? Du suchst eben nach Erklärungen. Das ist alles.«
Bichette wollte schon auffahren, bezwang sich jedoch noch rechtzeitig. »Man
kann seinem Gedächtnis nicht kommandieren. Aber ich vermute, daß es trotzdem
nicht weniger verständlich ist. Ich wollte die Größe meiner Macht feststellen...
denn eine Frau hat doch keine andere im Grunde... und war wütend, daß du nur
gerade ein Ja hinsagtest.«
- Walter Serner, Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte.
München 1982 (dtv 10054, zuerst 1925)
- (
grav
)
Ungewißheit
(4) Es ist keinesfalls so, dass jede Zahl
ein Einsiedlerdasein führt, einsam und mutterseelenallein sich umkehrt und addiert,
dabei von einem Palindrom zum nächsten wandert und
irgendwann in der palindromischen Ungewissheit aufgeht. Die Zahlen schließen
sich vielmehr zu Gruppen zusammen, die ein gleiches Palindromisierungsverhalten
offenbaren und gemeinsam ein und demselben Tor in die
palindromische Ungewissheit zustreben. Für die zweistelligen natürlichen Zahlen
gibt es nur fünf solche Tore, nämlich neben dem schon genannten Palindrom 678
736 545 637 876 die 47 33 78 77 87 33 74, die 88 132 000 231 88, die 36 545
63 und die 4998 525 8994. Den dreistelligen natürlichen Zahlen stehen bereits
46 Tore zur Verfügung, durch die sie in die palindromische Ungewissheit eingehen
können. Wovon es abhängt, auf wie viel Torpalindrome die n-stelligen natürlichen
Zahlen führen, ist bislang nicht bekannt. -
(kroeb)
Ungewißheit
(5) In Roccapalumba steigt ein Bauer in den Zug nach
Agrigent und fragt drei verschiedene Leute hintereinander, ob dieser Zug nach
Agrigent fährt. Jedesmal bekommt er dieselbe Antwort: »Schon möglich...« Beim
drittenmal erhält er diese Antwort sogar aus dem Mund eines Eisenbahners, und
daraufhin findet er sich mit der Ungewißheit ab. Niemand ist sicher, ob der
Zug nach Agrigent fährt; es scheint so; es steht so geschrieben; die Reisenden
und das Zugpersonal nehmen es an; er kann aber auch in Trapani enden, in Messina,
oder in der Hölle. - Leonardo Sciascia, Schwarz auf
schwarz. München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)
Ungewißheit
(6) Ich hörte Albertine, als sie sich
von mir trennte, zu ihrer Tante oder ihren Freundinnen sagen: ›Also morgen,
halb neun. Wir dürfen uns nicht verspäten, sie sind Viertel nach acht schon
bereit.‹ Die Unterhaltung einer Frau, die man liebt, gleicht einem Boden, der
über einem unterirdischen, gefahrvollen Wasserlauf liegt; man spürt in jedem
Augenblick unter den Worten die Gegenwart, die durchdringende Kälte einer unsichtbaren
Flut; hier und da bemerkt man, wie sie heimtückisch durch den Boden sickert,
aber sie selbst bleibt immer im verborgenen. Kaum hatte ich diesen Satz aus
Albertines Mund gehört, als meine Ruhe dahin war. - Marcel Proust,
Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit (Sodom und Gomorra) Frankfurt am Main 1965, zuerst 1913 ff.)
Ungewißheit (7) In jener Nacht träumte ich, daß es mir sehr schlecht ging. Daß ich langsam, mit jeder Faser starb. Ein fürchterlicher Schmerz in der Brust; und wenn ich atmete, verwandelte sich das Bett in Klingen und Glassplitter. Ich -war bedeckt mit kaltem Schweiß, ich spürte dieses schreckliche Zittern der Beine, wie schon einmal, vor vielen Jahren ... Ich wollte schreien, damit man mich höre. Ich hatte Durst, Angst, Fieber; ein Fieber, das wie eine Schlange war, glitschig und eiskalt. In der Ferne hörte man einen Hahnenschrei, und auf dem Weg pfiff jemand ganz jämmerlich.
Ich mußte lange geträumt haben, doch ich weiß, daß meine Gedanken auf einmal klar wurden und ich mich in der Dunkelheit aufsetzte, unter dem Alpdruck immer noch zitternd. Es ist unerklärlich, wie sehr das Wachsein und das Träumen in den ersten Augenblicken des Erwachens vermischt bleiben und sich weigern, ihre Wasser zu scheiden. Ich fühlte mich sehr schlecht; ich war mir nicht sicher, ob ich all das durchgemacht hatte, aber ich konnte auch nicht erleichtert aufatmen und in einen Schlaf frei von Schrecken zurücksinken. Ich tastete nach der Nachttischlampe, und ich glaube, ich machte sie an, denn jäh tauchten die Vorhänge und der große Schrank vor meinen Augen auf. Ich mußte ganz bleich sein. Ohne zu wissen wie, war ich auf den Beinen und ging zum Schrank mit dem Spiegel, ich wollte mir mein Gesicht ansehen und den unmittelbaren Schrecken des Alptraums verscheuchen.
Als ich vor dem Schrank stand, brauchte ich einige Sekunden, bis ich
begriff, daß mein Körper sich nicht widerspiegelte. -
Julio Cortázar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt
am Main 1998
Ungewißheit
(8) Vielleicht handelt
es sich tatsächlich um dasselbe Bild, und das Licht des Kronleuchters,
das merkwürdige Reflexe auf das Glas wirft, läßt die Lippen dick und grünlich
erscheinen. Vom Kanapee aus ist das Porträt
von Onkel Horacio klar und deutlich zu sehen, und Raimundo kann sich nicht
erinnern, je solche Lippen und solch eine Hand
gesehen zu haben, die wie ein schlaffes Taschentuch
herabhängt, denn in Wirklichkeit hat Onkel Horacio
auf dem Bild die Hände in den Taschen; nur ein anderer Widerschein als
der des Kronleuchters im Salon kann diese weiße Hand und diese fast grünlichen
Lippen vorspiegeln, und außerdem scheint dieses Porträt eher das einer
Frau zu sein als das von Onkel Horacio. -
Julio Cortázar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt
am Main 1998
Ungewißheit (9) Watt hatte es beinahe satt, seinen Blick die Straße hinauf-und hinabschweifen zu lassen, als eine Gestalt, eine anscheinend menschliche Gestalt, die mitten über die Straße kam, seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nahm und wiederbelebte. Zuerst dachte Watt, daß dieses Geschöpf aus dem Boden aufgetaudit oder vom Himmel gefallen sei. Und dann etwa fünfzehn oder zwanzig Minuten später dachte er, daß es seine derzeitige Position auf einem Wege erreicht hatte, der zuerst Über eine Hecke und dann über einen Graben geführt hatte. Watt war außerstande zu sagen, ob diese Ge-stait die eines Mannes oder die einer Frau oder die eines Priesters oder die einer Nonne war. Daß sie nicht die eines Jungen oder die eines Mädchens war, zeigte sich, Watts Erachten nach, in ihren Ausmaßen, Aber zu entscheiden, ob sie die eines Mannes oder die einer Frau oder die eines Priesters oder die einer Nonne war, ging über Watts Kraft, sosehr er seine Augen auch anstrengen mochte. Wenn sie die einer Frau war oder die einer Nonne, so war sie die einer Frau oder die einer Nonne von ungewöhnlicher Größe, sogar für diesen Teil des Landes, der für die ungewöhnliche Größe seiner Frauen und seiner Nonnen bekannt war. Aber Watt wußte zu gut, allzu gut, welche Ausmaße gewisse Frauen und gewisse Nonnen zu erreichen imstande waren, um von denen dieser nachtwandelnden Gestalt darauf zu schließen, daß diese nachtwandelnde Gestalt weder eine Frau noch eine Nonne, noch ein Mann, noch ein Priester war. Was die Kleidung betraf, so gab ihr Anblick aus dieser Entfernung und in diesem Lichte ebensowenig Aufschluß, als wenn sie aus einem Laken oder einem Sack oder einer Steppdecke oder einem Plaid bestanden hätte. Denn von Kopf bis Fuß hingen, soweit Watt erkennen konnte, und seine Augen waren so gut wie andere, sogar in diesem Stadium, wenn er sich nur bemühte, sie richtig einzustellen, die ununterbrochenen Flächen eines einzigen Gewands, während geschlechtslos auf dem Kopf so etwas wie ein flachgedrückter, umgekehrter Nachttopf hockte, vom Alter vergilbt, um es taktvoll auszudrücken. Wenn die Gestalt wirklich die einer Frau oder die einer Nonne ungewöhnlicher Größe war, so war sie die einer Frau oder die einer Nonne ungewöhnlicher Große und außergewöhnlicher Uneleganz. Aber Riesenfrauen waren oft salopp, Watts Erfahrung nach, und Riesennonnen ebenfalls. Die Arme schienen nicht an den Händen zu enden, sondern auf eine Weise, die Watt nicht erkennen konnte, beinahe bis an den Boden zu reichen. Die Füße, die einander in geschwinder, ungestümer Hetzjagd folgten,flogen, der rechte Fuß nach rechts und der linke Fuß nach links, so weit seitwärts wie vorwärts mit dem Ergebnis, daß bei jedem Schritt von etwa drei Fuß Lange der Geländegewinn nicht mehr als einen Fuß betrug. Das verlieh dem Gang eine Art gehemmter Lebhaftigkeit, deren Anblick sehr peinlich war. Watt bemerkte plötzlich in seinem tiefsten Dunkel das Aufleuchten und Erlöschen der Worte Da hilft nur Diät.
Watt wartete ungeduldig darauf, daß dieser Mann, wenn es ein Mann war, oder diese Frau, wenn es eine Frau war, oder dieser Priester, wenn es ein Priester war, oder diese Nonne, wenn es eine Nonne war, näherkäme und seinen Geist beruhigte. Er wünschte keine Unterhaltung, er wünschte keine Gesellschaft, er wünschte keinen Zuspruch, es gelüstete ihn nicht nach einer Erektion, nein, er wünschte nur eine Befreiung von der Ungewißheit m diesem Zusammenhang. Er wußte nicht, warum es ihm darum ging, zu wissen, was da auf der Straße nahte. Er wußte nicht, ob dieses Anliegen etwas Gutes oder etwas Schlechtes war. Er fand es, ganz abgesehen von jedem Problem persönlichen Unbehagens oder egoistischer Genugtuung, sehr bedauerlich, daß es ihm darum ging, zu wissen, was da auf der Straße nahte, sogar höchst bedauerlich.
Er sah ein, daß er sich mit dem bloßen Näherkommen der Gestalt nicht begnügen konnte, nein, sondern daß die Gestalt sehr nahe herankommen müßte, ganz nahe. Denn wenn die Gestalt nur näherkäme und nicht ganz nahe herankäme, wie sollte er dann, wenn es ein Mann war, erkennen, daß es nicht eine als Mann verkleidete Frau oder ein als Mann verkleideter Priester oder eine als Mann verkleidete Nonne war? Oder wenn es eine Frau war, daß es nicht ein als Frau verkleideter Mann oder ein als Frau verkleideter Priester oder eine als Frau verkleidete Nonne war? Oder wenn es ein Priester war, daß es nicht ein als Priester verkleideter Mann oder eine als Priester verkleidete Frau oder eine als Priester verkleidete Nonne war? Oder wenn es eine Nonne war, daß es nicht ein als Nonne verkleideter Mann oder eine als Nonne verkleidete Frau oder ein als Nonne verkleideter Priester war? Also wartete Watt ungeduldig darauf, daß die Gestalt ganz nahe herankäme.
Als Watt dann immer noch darauf wartete, daß die Gestalt ganz nahe herankäme,
sah er ein, daß es nicht nötig, überhaupt nicht nötig war, daß die Gestalt ganz
nahe herankäme, sondern daß eine mäßige Annäherung mehr als genug wäre. Denn
Watts Sorge galt, so unergründlich es scheinen mag, eigentlich nicht dem, was
die Gestalt in Wirklichkeit war, sondern dem, was die Gestalt in Wirklichkeit
zu sein sdiien. Denn seit wann galt Watts Sorge dem, was die Dinge in Wirklichkeit
waren? Aber er verfiel immer wieder in jenen alten Fehler, jenen Fehler von
einst, als er, von Wißbegierde getrieben, schattenhaft inmitten der Körper herumtappte.
Dies war sehr ärgerlich für Watt. Also wartete Watt ungeduldig darauf, daß die
Gestalt näherkäme. Er wartete und wartete, während
die Hände die Gitterstäbe der Sperre umspannten, daß die Fingernägel in die
Handballen drangen, und seine Taschen zu seinen Füßen standen, unverwandt zwischen
den Gitterstäben auf diese unbegreifliche Staffage starrend und schwer unter
der Ungeduld leidend. Er war schließlich so erschüttert,
daß er mit aller Kraft an der Sperre rüttelte.
- (wat)
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