chreien  Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.

Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.

Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken, zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es durch die weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er brüllte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber war. Und die Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschläge; aber sie hörten es, sie hörten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und sie flehten, auch aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und setzten sich zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die Kühe, welche kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und verschlossen, und einer riß man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und vergaßen das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage ängstigten vor der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen so ermattet waren, daß sie sich auf nichts besinnen konnten. Und wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche Kirche gingen, so beteten sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es, die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht dröhnte und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu läuten begann, nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den jungen Leuten, der geträumt hatte, er wäre ins Schloß gegangen und hätte den gnädigen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt, daß alle zuhörten, als er seinen Traum erzählte, und ihn, ganz ohne es zu wissen, daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei. So fühlte und sprach man in der ganzen Gegend, in der man den Kammerherrn noch vor einigen Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man so sprach, veränderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen gekommen, und die blieb er. Und während dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein König, den man den Schrecklichen nennt, später und immer.

Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich genährt hatte. Alles Übermaß an Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte verbrauchen können, war in seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun auf Ulsgaard saß und vergeudete.

Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.  - Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Fankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)

Schreien (2) Esel schreien, sobald es ein Problem gibt. Für fast alle anderen Tiere ist schon der Schrei so unerträglich, daß sie fliehen. Menschen sollten sich auf diesen »Anzeiger« von Ärger allerdings nicht verlassen. Ihr Gedächtnis für Personen und mit ihnen veirbundene peinigende Situationen ist vorzüglich. Ihre Revanche erfolgt dann ohne vorherige sicht- oder hörbare Spur von Erregung. - Cord Riechelmann, Bestiarium. Der Zoo als Welt - die Welt als Zoo. Frankfurt am Main 2003

Schreien (3) Sie verstand nicht, weinte, du siehst alles so falsch, was soll ich denn noch machen? Konnte er das wissen? Er wollte das nicht mehr von ihr hören, nicht mehr, nichts, ihre Stimme nicht mehr, die vom weinerlichen Gefühl zugeschwemmt war. Er ahmte sie nach, aaah, ja, ja, was soll ich denn machen, ja, was soll ich denn machen! Das eigene Schreien regte ihn noch mehr auf. Was wollte er denn von ihr überhaupt, sah sie das denn nicht ein, was wollte er denn, nichts, nichts wollte er von ihr. Nur das. Und dann wieder etwas ganz anderes. Dieses. Warum gab sie ihm das nicht, dieses, nichts Bestimmtes, das. Er begann noch einmal gegen ihr Weinen anzuschreien und konnte wieder sich selbst laut schreien hören, weg, weg, das wollte er dieses Mal endgültig. Oder meinetwegen hau du doch ab, hau endlich ab, je eher desto besser, hier, er stand hastig auf, kopflos geworden, wobei sie vor ihm zurückwich, sah er noch, sie hatte Angst, geschlagen zu werden.

Hier, und er ließ sie stehen, um im Flur aus seiner Jackentasche das Geld zu holen, nimm das. Er warf das Geld auf den Tisch. Hier, hier, nimm das und hau ab, hau schnell ab, schnell, verschwinde, atemlos und genauso überstürzt gesagt, wie er aufgestanden war. Also los, los, mach doch schon, hau ab, hau ab. Sie starrte ihn an. Ihr stummes hartnäckiges Starren und das zurückgehaltene Weinen ließen ihn bereits wieder erschlaffen. Erschöpft setzte er sich zurück an den Tisch, lächerlich erschöpft von nichts, von nichts, mein Gott, nichts, lachte er verständnislos mit dem Kopf schüttelnd auf. Nichts. Er hatte sich aufgeregt wegen nichts und war wegen nichts deshalb jetzt völlig wirr im Kopf, hysterisch aufgeregt, mochte sie denken, er ist hysterisch, regt sich wegen nichts auf. Trotzdem war da was. Was? Was war das denn? Nichts.  - (brink)

Schreien (4)  Das Schalentier, dem man beim Essen am besten mit der Kombizange zu Leibe rückt, ist nicht nur in Feinschmeckerkreisen, sondern auch in Forscherrunden sehr beliebt.

Ähnlich wie die nicht ganz so leckeren Fruchtfliegen tun Hummer nämlich - außer herumspuken - die merkwürdigsten Dinge: Die Zehnfüßer "reden" mit der Blase, das heißt sie signalisieren mit ihrem Urin, welche Stellung in der Dominanzhierarchie sie innehaben, ihre Geruchsantennen sind Vorbilder beim Bau von Robotern und wenn sie mit den fleischigen Enden ihrer Tentakel an der harten Schale kratzen, entsteht derselbe Reibungsmechanismus, der auch in einer Geige Vibrationen hervorruft - mit dem Unterschied, dass ein Hummerorchester kratzende, krächzende und ächzende Geräusche hervorbringt. Unerschrockene Wissenschaftler haben es mit dem Unterwassermikrofon mitgeschnitten. Ihren Zweck erfüllt die Hummervioline: natürliche Feinde wie Haie trollen sich. Nur die menschlichen Hummerfresser wollen nicht hören, auch dann nicht, wenn sie den Krebs kopfüber ins kochende Wasser tauchen und seinem drei- bis fünfminütigen (so tierschutzonline.de) Todeskampf beiwohnen, bei dem er angeblich in den höchsten Tönen (zu hoch für uns) schreit. - Telepolis

Schreien (5)  Das Kind schreit jetzt jenes äußerste Erleiden heraus, welches beim Erwachsenen innerste Verstummung wird; wenn jeder Leidende derart schriee, müßte die Welt dann nicht längst aus der Bahn getrudelt sein?   - Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1983)

Schreien (6)

- Francis Bacon

Schreien (7) Der vom Rauschgift benebelte Revolvermann war fest entschlossen, seine Absicht auszuführen. Plötzlich ertönte ein Schrei - ein Schrei von unglaublicher Lautstärke und ungeheuerlichem Entsetzen. Nur eine farbige Frau konnte soviel Herz in einen Schrei legen. Es war der lauteste Schrei, den der berauschte Revolvermann je gehört hatte, er fuhr ihm bis ins Mark, und seine Selbstbeherrschung zersplitterte wie Glas.

Blindlings, ohne auf die Richtung zu achten, rannte er los. Er prallte gegen den anderen Revolvermann, der ihn packte, schüttelte und zur Vernunft zu bringen versuchte.

Das farbige Hausmädchen stand noch vor dem Aufzug, mit dem sie heruntergekommen war. Ein  Korb mit schmutziger Wäsche lag umgefallen vor ihren Füßen, wie er ihren Händen entglitten war. Ihr Körper war erstarrt. Ihr Mund formte eine Ellipse, die groß genug war, ein Straußenei zu verschlingen; die Kauflächen ihrer Backenzähne, eine weißbelegte Zunge, die flach zwischen den Zähnen des Unterkiefers lag, und dahinter das Zäpfchen, das wie ein blutroter Stalaktit am Ende des Gaumens herunterhing, waren zu sehen. Ihre Halsmuskeln waren krampfhaft gespannt, und ihre weit aufgerissenen Augen blickten starr ins Leere. Die Schreie drangen aus ihrem Mund mit unverminderter, nervenzerfetzender Lautstärke. - Chester Himes, Heroin für Harlem. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1966)

Schreien (8)

Hl. Michael (Detail)

- Luca Giordano

Geräusch
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