(man)
Lesen (2) Aus
der Schülerbibliothek bekommt man ein Buch. In den unteren Klassen wird
ausgeteilt. Nur hin und wieder wagt man einen Wunsch. Oft sieht man neidisch
ersehnte Bücher in andere Hände gelangen. Endlich bekam man das seine.
Für eine Woche war man gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben, das
mild und heimlich, dicht und unablässig, wie Schneeflocken einen umfing.
Dahinein trat man mit grenzenlosem Vertrauen. Stille des Buches, die weiter
und weiter lockte!
Dessen Inhalt war gar nicht so wichtig.
Denn die Lektüre fiel noch in die Zeit, da man selber Geschichten im Bett sich ausdachte.
Ihren halbverwehten Wegen spürt das Kind nach. Beim Lesen hält es sich die Ohren zu; sein Buch liegt auf dem viel zu hohen Tisch, und eine Hand liegt immer auf dem Blatt.
Ihm sind die Abenteuer des Helden noch im Wirbel der Lettern zu lesen wie Figur und Botschaft im Treiben der Flocken. Sein Atem steht in der Luft der Geschehnisse, und alle Figuren hauchen es an. Es ist viel näher unter die Gestalten gemischt als der Erwachsene.
Es ist unsäglich betroffen von dem Geschehen und den gewechselten
Worten, und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit vom Gelesenen.
-
(ben)
Lesen (3) Nach
disem fürbild solt ihr euch weißlich wissen anzustellen, so werden ihr
die süsse diser holdseligen Büchlein von innerlicher dicker fette, und
mercklichem marckhafftem Schmär viler lehren gespicket, fülen und hoch
zilen: Dieweil sie im anfüren und trib wol leichtschäfftig, aber im antrefen,
nachtruck und vollführen, sich werden erweisen als hefftig unnd kräfftig.
Derwegen erprecht das beyn fleissig durch genau sorgfeltiges lesen, unnd
stätem unauffhörlichem nachsinnen, und sauget darauß dz substantzialisch
wesenlich Marck, nit wie der erstbenant Hundsklemmer, die Gerberzullen
für minckelend Schmär. Schlappert nit auff Chorherrisch die Wort in euch,
wie der Hund die Sup, sonder kauet und widerkauet
sie wie die Küh, distilliert sie durch neun balcken, so findet ihr die
Bon, das ist, findet was ich durch diese Pitagorische unsimpele simbolen,
unnd geheime losungen gesuchet hab: inn gewisser hoffnung dadurch euch
gantz trucken auß dem bad außgezwagen und abgeriben heimzufertigen.
- (
fisch
)
Lesen (3)
SCHÜLERBIBLIOTHEK In einer Pause wurde das erledigt: man sammelte die Bücher
ein und dann verteilte man sie neu an die Bewerber. Nicht immer war ich
flink genug dabei. Oft sah ich dann ersehnte Bände dem zufallen, der sie
nicht zu schätzen wußte. Wie anders war ihre Welt als die der Lesebücher,
wo ich in einzelnen Geschichten Tage, ja Wochen im Quartiere liegen mußte
wie in Kasernen, welche überm Tor, noch vor der Aufschrift, eine Nummer
trugen. Noch schlimmer war es in den Kasematten der vaterländischen Gedichte
wo jedwede Zeile eine Zelle war. Wie südlich, linde wehte aus den Büchern,
die in der Pause ausgegeben wurden, die laue Schmökerluft mich an. Die
Luft, in der der Stefansdom den Türken, die Wien
belagerten, herüberwinkte, blauer Rauch sich aus den Pfeifen des Tabakskollegiums
wölkte, die Flocken an der Beresina tanzten und fahler Schein Pompejis
letzte Tage verkündete. Nur war sie meistens etwas abgestanden, wenn sie
aus Oskar Höcker und W. O. von Horn, aus Julius Wolff
und Georg Ebers uns entgegenschlug. Am muffigsten jedoch in jenen
Bänden »Aus vaterländischer Vergangenheit«, die sich so massenhaft in Sexta
angesammelt hatten, daß die Wahrscheinlichkeit, um sie herumzukommen und
auf einen Band von Wörishöffer oder Dahn zu fallen, klein
war. In ihren roten Leinendeckel war ein Hellebardenträger eingepreßt.
Schmucke Fähnlein von Reisigen begegneten im Text, dazu ehrsame Handwerksburschen,
blonde Töchter von Kastellanen oder Waffenschmieden, Vasallen, die ihrem
Herrn den Treueid hielten; aber auch der falsche Truchseß, welcher Ränke
spann und fahrende Gesellen, die im Sold des welschen Königs standen, fehlten
nicht. Je weniger wir Kaufmannssöhne und Geheimratskinder uns unter all
dem Knechts- und Herrenvolke etwas denken konnten, desto besser ging diese
festgeschiente, hochgesinnte Welt in unsere Wohnung ein. Das Wappen überm
Tor der Ritterburg fand ich im Ledersessel meines Vaters, der vor dem Schreibtisch
thronte, Humpen wie sie die Runde an der Tafel Tillys machten, standen
auf der Konsole unserer Kachelöfen oder dem Vertiko im Vestibül und Schemel,
wie sie in den Mannschaftsstuben, frech über Eck gestellt, den Weg versperrten,
standen auf unsern Aubüssons ganz ebenso, nur daß kein Prittwitzscher Dragoner
rittlings draufsaß. In einem Falle aber glückte die Verschmelzung beider
Welten nur allzugut. Das war im Zeichen eines Schmökers, dessen Titel gar
nicht zum Inhalt paßte. Haften blieb mir nur der Teil, auf den ein Öldruck
sich bezog, den ich mit nie vermindertem Entsetzen aufschlug. Ich floh
und suchte dieses Bild zugleich; es ging mir damit wie später mit dem Bild
im Robinson, das Freitag an der Stelle zeigt, an der er zum erstenmal die
Spur von fremden Tritten und unweit Schädel und Gerippe findet. Doch wieviel
dumpfer war das Grauen, das von der Frau im weißen Nachtgewande ausging,
die mit offnen Augen doch wie schlafend und sich mit einem Kandelaber leuchtend
durch eine Galerie hinwandelte. Die Frau war Kleptomanin. Und dies Wort,
in dem ein bleckender und böser Vorklang die beiden schon so geisterhaften
Silben »Ahnin« verzerrte wie Hokusai ein Totenantlitz durch ein paar Pinselstriche
zum Gespenst macht — dies Wort versteinerte mich vor Entsetzen. Längst
stand das Buch — es hieß »Aus eigener Kraft« — wieder im Klassenschrank
der Sexta als der Flur, der vom berliner Zimmer in die hinteren führte,
noch immer jene lange Galerie war, durch die die Schloßfrau
nächtlich wandelte. Aber diese Bücher mochten gemütlich oder grauenhaft,
langweilig oder spannend sein — nichts konnte ihren Zauber steigern oder
mindern. Denn er war nicht auf ihren Inhalt angewiesen, lag vielmehr darin,
immer wieder mich der einen Viertelstunde zu versichern, um derentwillen
mir das ganze Elend des öden Schulbetriebs erträglich vorkam. Ich stimmte
mich auf sie schon wenn ich abends das Buch in meine fertige Mappe steckte,
welche von dieser Last nur leichter wurde. Das Dunkel, das es dort mit
meinen Heften, Lehrbüchern, Federkästen teilte, paßte zu dem geheimnisvollen
Vorgang, dem es am nächsten Vormittag entgegenharrte. Denn endlich war
der Augenblick gekommen, der mich im gleichen Raume, der noch eben Schauplatz
meiner Erniedrigung gewesen war, mit jener Fülle von Macht bekleidete,
wie sie dem Faust zufällt, wenn Mephistopheles bei ihm erscheint. Was war
der Lehrer, der das Podium nun verlassen hatte, um Bücher einzusammeln
und am Klassenschrank dann wieder auszugeben, wenn nicht ein niedrer Teufel,
der der Macht zu schaden sich entäußern mußte, um im Dienst meiner Gelüste
seine Kunst zu zeigen. Und wie schlug jeder seiner schüchternen Versuche
fehl, mit einem Hinweis meine Wahl zu lenken. Wie blieb er ganz und gar
geprellt als armer Teufel bei seiner Fron zurück, wenn ich schon längst
auf einem Zauberteppich unterwegs ins Zelt des letzten Mohikaners oder
ins Lager Konradins von Staufen war. - (
ben2
)
Lesen (4)
Wer
hat nicht schon im Lexikon, GOLDSCHMINKE nachschlagen wollend, erst einmal
den Artikel über GOLDONI, dann den über GOLDREGEN gelesen, dort auf LABURNUM
verwiesen, die Einrichtung von LABORATORIEN gestreift, Interesse an der
Herstellung eines Chlorkalziumröhrchens gefaßt, das Glasblasen erlernt,
dabei einen Wangenriß erlitten, pflasterbeklebt einem Clown geähnelt, nachgedacht,
was zum Clown noch fehlte, dabei Blanc und Rouge aufgefunden und so den
Gedanken zurückgewonnen, daß er ja GOLDSCHMINKE nachschlagen wollte — was
er nun endgültig tat. - (
oko
)
Lesen (5)
Kein
Mensch kann zweitausend Bücher lesen. In den vier Jahrhunderten, die ich
jetzt lebe, habe ich nicht mehr als ein halbes Dutzend bewältigt. Außerdem
kommt es nicht auf das Lesen an, sondern auf das Wiederlesen. Der Buchdruck,
der heute abgeschafft ist, war eins der schlimmsten Übel der Menschheit,
denn er lief darauf hinaus, überflüssige Texte zu vervielfältigen, bis
einem schwindlig wurde. - Jorge Luis Borges, Utopie eines müden Mannes.
In: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970 bis 1983. Frankfurt am Main 2000
(Fischer Tb. 10589)
Lesen (6)
Aber lesen — möchten wir sagen — ist doch ein ganz bestimmter Vorgang!
Lies eine Druckseite, dann kannst du's sehen; es geht da etwas Besonderes
vor und etwas höchst Charakteristisches. — Nun, was geht denn vor, wenn
ich den Druck lese? Ich sehe gedruckte Wörter und spreche Wörter aus. Aber
das ist natürlich nicht alles; denn ich könnte gedruckte Wörter sehen und
Wörter aussprechen, und es wäre doch nicht Lesen. Auch dann nicht, wenn
die Wörter, die ich spreche, die sind, die man, zufolge einem bestehenden
Alphabet, von jenen gedruckten ablesen soll. — Und wenn du sagst, das Lesen
sei ein bestimmtes Erlebnis, so spielt es ja gar keine Rolle, ob du nach
einer von Menschen allgemein anerkannten Regel des Alphabets liest, oder
nicht. - Worin besteht also das Charakteristische am Erlebnis des Lesens?
- Da möchte ich sagen: »Die Worte, die ich ausspreche, kommen in besonderer
Weise.« Nämlich sie kommen nicht so, wie sie kämen, wenn ich sie z.B. ersänne.
— Sie kommen von selbst. — Aber auch das ist nicht genug; denn es können
mir ja Wortklänge einfallen, während ich auf die gedruckten Worte schaue,
und ich habe damit diese doch nicht gelesen. — Da könnte ich noch sagen,
daß mir die gesprochenen Wörter auch nicht so einfallen, als erinnerte
mich, z. B., etwas an sie. Ich möchte z. B. nicht sagen: das Druckwort
»nichts« erinnert mich immer an den Laut »nichts«. — Sondern die gesprochenen
Wörter schlüpfen beim Lesen gleichsam herein. Ja, ich kann ein deutsches
gedrucktes Wort gar nicht ansehen, ohne einen eigentümlichen Vorgang des
Innern Hörens des Wortklangs. - (
wit
)
Lesen (7)
Marc
Bernard: Erlauben Sie, Boris Vian, Ihnen in der Hitze des Gefechts
einige Fragen zu stellen, mit allem Respekt, der Ihrem Ehrenamt gebührt,
selbstverständlich. Es gibt einige pataphysische Werke, darunter Der
Monolog des Angestellten, der auf dem Rücken liegend gelesen werden
soll. Warum?
Boris Vian: Ja natürlich, weil nie jemand an die
Menschen gedacht hat, die liegend lesen, und das
ist äußerst peinlich. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass er friert.
Sie sind gezwungen, beim Lesen beide Hände außerhalb des Bettes zu halten;
der Monolog von Ferry kann liegend gelesen werden, eine Hand außerhalb,
die andere unter der warmen Bettdecke und man kann mit der einen Hand abwechselnd
umblättern, d.h. abwechselnd nimmt man die rechte
und die linke Hand, was
bedeutet, dass der Leser von Monolog selbst bei eisiger Kälte an
den Händen nicht zu frieren braucht.
Ich erlaube mir, ein letztes Wort
hinzuzufügen. Es ist nicht nötig, auf komplizierte Dinge zu warten, um
die 'Pataphysik zu finden. Um Ihnen ein persönliches
Beispiel zu geben: ich bin mit acht oder neun Jahren auf die 'Pataphysik
gestoßen, als ich ein Stück von Robert de Flers und Caillavet
las, das Das schöne Abenteuer hieß, das ist wirklich die letzte Stelle,
wo sie man erwarten kann, wenn man nicht Pataphysiker ist; aber sie enthielt
insbesondere die Replik aus dem Munde von Viktor Boucher, die ich Ihnen
geben will, um diese Unterhaltung vorläufig zu beschließen. Ich glaube,
dass sie jedermann sehr leicht und sehr schnell zur 'Pataphysik anregen
kann. Das ist sie: Mit Fleiß denke ich gerne an Dinge, von denen ich
denke, dass andere nicht an sie denken. -
Boris
Vian
Lesen (8)
Lesen (9) Findet
die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen
könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt
keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art zu lesen.
In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel,
dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber
viel, womit man experimentieren kann. - G. Deleuze und F. Guattari, nach: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen
Ästhetik. Hg. Karlheinz Barck u.a. Leipzig 1991
Lesen (10) Ich
mag elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich in einem Vorort von Buenos
Aires II tragico quotidiano (Das alltägliche Tragische) und II pilota
cieco (Der blinde Flieger) in einer schlechten spanischen Übersetzung las.
In diesem Alter genießt man die Lektüre, man genießt und urteilt nicht. Stevenson
und Salgari, Eduardo Gutierrez und Tausendundeine Nacht sind Formen des Glücks,
nicht Gegenstand der Beurteilung. - Jorge Luis Borges, Vorwort zu Giovanni
Papini, Der Spiegel auf der Flucht. Stuttgart 1984 (Die Bibliothek von Babel
Bd. 19)
Lesen (11) Da
die unsinnliche Ähnlichkeit in alles Lesen hineinwirkt,
so eröffnet sich in dieser tiefen Schicht der Zugang zu dem merkwürdigen Doppelsinn
des Wortes Lesen als seiner profanen und auch magischen Bedeutung. Der Schüler
liest das Abcbuch und der Astrolog die Zukunft in den Sternen. Im ersten Satze
tritt das Lesen nicht in seine beiden Komponenten auseinander. Dagegen wohl
im zweiten, der den Vorgang nach seinen beiden Schichten deutlich macht: der
Astrolog liest den Gestirnstand von den Sternen arn Himmel ab; er liest zugleich
aus ihm die Zukunft oder das Geschick heraus. - Walter Benjamin, Lehre
vom Ähnlichen. In: Zur Aktualität W.B.s. Hg. Siegfried Unseld. Frankfurt am
Main 1972
Lesen (12) Etwas Schwieriges lesen um sich dem persönlichsten, geheimsten Innern zu öffnen.
Anders gesagt, die Maschine mit einem Brennstoff in Gang setzen, der von
anderswo kommt. - Robert Pinget, Tintenkleckse. Monsieur Traums letztes Notizheft,
Berlin 1997
Lesen (13) Es
ist uns nicht gegeben, beim Lesen alles aufzunehmen, was geschrieben steht.
Unser Gedanke ist eifersüchtig auf jeden fremden Gedanken und verdunkelt sich
in jedem Augenblick; es gibt in uns keinen Platz für zwei Gerüche
zu gleicher Zeit. Jene im Zeichen der Heiligen
Dreifaltigkeit, einem männlichen Zeichen, nehmen
während der Lektüre die ungeraden Sätze auf, wir aber, im Zeichen der Zahl vier,
einer weiblichen Zahl, nehmen beim Lesen nur die geraden Sätze unserer Bücher
auf. Du und dein Bruder, ihr werdet aus demselben Buch nicht dieselben Sätze
lesen, denn unsere Bücher bestehen nur in der Verknüpfung des männlichen mit
dem weiblichen Zeichen. - (
pav
)
Lesen (14) Das Kind ist ganz allein in der guten Stube, in welcher der Weihnachtsbaum steht. Es streut an der Seite des Tisches, wo seine Geschenke liegen, die für die Nacht übergeschlagene Decke zurück, nimmt das Buch heraus, setzt sich auf den Schaukelstuhl. Aber das ist noch nicht der richtige Leseplatz. Es wechselt hinüber zum Sessel, vor dem die Fußbank ist. Es kniet auf die Fußbank, legt das Buch auf das blaue Eiderdaunenkissen, das sich in den Sessel schmiegt, schlägt auf, liest.
Erst kommen die Verse vom Fischerknaben, vom Hirten und vom Alpenj äger. Die liest es noch nicht so genau. Die schaukeln schnell von Zeile zu Zeile und gehen sanft ein. Aber dann kommt Ruodi, der Fischer, aus der Hütte und beginnt:
»Mach hurtig, Jenni. Zieh die Naue ein.« Naue! Wie geheimnisvoll.
»Der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firn.« Das sind Sturmgeister. Sie brausen daher. Un was der Fischer ankündigt, bestätigt der Hirt:
»'s kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde.«
Was tut da die Erde? Sie scharrt Wächter? Scharrt, weil sie sich fürchtet vor dem Sturm, vor all den bösen Wesen, dem Talvogt, dem Firn, dem Mythenstein mit seiner kriegerischen Haube, Wachtposten empor. Wächter scharrt die Erde!
Später, wenn man dann den »Teil« in der Schule »hat«, kommt heraus: die Naue ist ein Boot, der Mythenstein ist ein Berg. Und nicht die Erde scharrt Wächter, sondern der Hund, der Wächter heißt, scharrt die Erde. Ist auch ganz schön, aber eigentlich war es noch schöner, als man noch nicht verstand. . . als sie selbst, die Göttin, die Erde, scharrte — mitten im Weihnachtszimmer, durch dessen Tannen- und Marzipanduft ferner Sturm brauste, als noch die Zeit war, da man Mythen schuf rings um das schmal behütete Kinderreich, die Zeit, da in dem schönen Lied von der »Brigg dort auf den Wellen« zuletzt das verlorene Boot des Retters von einem Dämon ans Land getrieben wird. Kieloben heißt der Dämon! »Kieloben treibt das Boot zu Lande, und sicher fährt die Brigg vorbei.« Ja, da hockte man, von Geistern umgeben. Sie waren unheimlich, aber anhaben konnten sie einem doch nichts. Ein Ästhet war man, ein reiner Genießer, hatte eine angenehme Art mit Tod und Teufel zu verkehren . . .
Wie schön war die Zeit, als man noch las, ohne zu verstehen! -
Franz Hessel, Ermunterung zum Genuß. Berlin 1981
Lesen (15) Sagt
mir, meint ihr nicht, daß der Leser nur Teile
assimiliert, und auch das nur teilweise? Er liest einen Teil oder ein Stückchen,
und dann hört er auf, um nach einer Weile das nächste Stückchen zu lesen; und
manchmal kommt es vor, daß er in der Mitte anfängt oder gar am Ende und so,
vom Ende aus rückwärts, zum Anfang gelangt. Oft liest er ein paar Stücke und
gibt auf - nicht einmal darum, weil es ihn etwa langweilt, sondern weil ihm
etwas anderes einfiel. Und selbst, wenn er schließlich das Ganze
gelesen hat, meint ihr, daß er es dann in seiner Ganzheit überblickt und die
harmonischen Verhältnisse der einzelnen Teile zueinander erkennt, wenn ihn nicht
ein Spezialist darauf hinweist? Dazu also müht sich jahrelang der Autor, schneidet
zu, biegt hin, reißt ab, flickt, schwitzt und quält sich, damit ein Spezialist
dem Leser sage, daß die Konstruktion gut ist? Doch gehen wir weiter, weiter
auf das Terrain alltäglicher privater Erfahrung! Wird den Leser nicht vielleicht
das Telephon oder eine Fliege gerade an der Stelle unterbrechen, wo alle einzelnen
Teile in die Einheit einer dramatischen Lösung zusammenlaufen? Und was erst,
wenn gerade in diesem Augenblick, sagen wir mal, sein Bruder ins Zimmer tritt
und etwas sagt? Angesichts des Bruders, der Fliege oder des Telephons geht alles
edle Mühen des Schriftstellers zum Teufel - pfui, ihr schlechten Fliegen, warum
setzt ihr den Menschen zu, die schon die Schwänze verloren und nichts mehr haben,
womit sie sich wehren können? Und nehmen wir dazu noch in Betracht, ob dieses
euer Werk, euer einziges, einzigartiges und ausgearbeitetes Werk nicht nur ein
Teil ist von dreißigtausend anderen, ebenso einzigartigen Werken, die grundsätzlicherweise
Jahr für Jahr erscheinen? Ach, ihr entsetzlichen Teile! Darum also konstruieren
wir das Ganze, damit ein Teilchen eines Teiles des Lesers ein Teilchen eines
Teiles des Werkes in sich aufnehme — und auch das nur zum Teil? - (
fer
)
Lesen (16) Gut liest man nur aus einer ganz persönlichen Absicht heraus. Etwa um ein bestimmtes Können zu erlangen.
Oder weil man den Verfasser haßt. - (
pval
)
Lesen (17) Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser- indem sie schreiben - und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers - so viele kritische Rücksichten - so manches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche - großgedruckte Worte - herausgehobne Stellen - alles dies gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser sezt den Accent willkührlich - er macht eigentlich aus einem Buche, was er will. (Schlegfels Behandlung Meisters.)
/Ist nicht jeder Leser ein Philolog?/
Es giebt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben.
/Soll nicht der Schriftsteller Philolog bis
in die unendliche Potenz zugleich - oder gar nicht Philolog seyn? Der Letztere
hat litterairische Unschuld/. - Novalis, Teplitzer Fragmente
Lesen (18) Man
wirft mir vor, daß ich nicht lese, aber es gibt auch ohne Lesen so viel zu sehen
rings um mich und in mir. Was kümmert es mich, was ein anderer denkt, wenn ich
selber denken kann, mag mein Denken auch so langsam wie ein Ochsenkarren sein.
Wer liest, der läßt sich meist an seinem Lesen genügen; das enthebt ihn des
Denkens und täuscht ihn über seine Trägheit hinweg. Er käme sich untätig vor,
wenn er sich mit sich selbst begnügte, wenn er sich zu denken begnügte, und
statt zu leben, liest er. Wenn ich nichts zu tun habe, setze ich mich vor meine
Tür und betrachte alles, was ich sehe; ich horche auf alles, was ich höre; ich
betaste die Dinge, wo andere sich mit der bloßen Berührung begnügen, und alles,
was mich berührt, mag auch mich betasten, als wäre es eine Hand, die mich liebkost,
und ich ein Hund, der sich auf den Rücken wirft und alle Viere von sich streckt;
was ich atme, das schnaufe ich ein, und ich koste meinen eigenen Geschmack.
- Marcel Jouhandeau, Das
Tagebuch des Friseurs. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
Lesen (19) »Lesen«, sagt er, »ist immer dies: Man hat ein Ding vor sich liegen, eine Sache, die aus Geschriebenem besteht, einen materiellen, greifbaren Gegenstand, der sich nicht ändern läßt, und durch diesen Gegenstand wird man unversehens auf etwas anderes gestoßen, etwas, das nicht gegenwärtig ist, das zur immateriellen Welt gehört, unsichtbar, weil nur denkbar, nur vorstellbar, oder weil einst vorhanden gewesen, aber längst nicht mehr da, vergangen, verloren, fort, unerreichbar im Lande der Toten ...«
»... oder nicht gegenwärtig, weil noch nicht da, etwas, das nur herbeigewünscht
oder gefürchtet wird, etwas Mögliches oder Unmögliches«, sagt Ludmilla. »Lesen
ist auf etwas zugehen, das gerade entsteht und von dem noch keiner weiß, was
es sein wird ...« (Schau, wie die Leserin sich jetzt vorbeugt, um über den Rand
der gedruckten Seite hinauszuspähen, weit hinaus nach den rettenden oder feindlichen
Schiffen am Horizont, nach den Stürmen, die sich zusammenbrauen ...) »Das Buch,
das ich jetzt gern lesen möchte, ist ein Roman, in dem man die Geschichte herannahen
hört wie ein fernes Grollen, die Weltgeschichte zusammen mit dem Geschick der
Personen, ein Roman, der mir das Gefühl gibt, eine noch namenlose, noch formlose
Umwälzung zu erleben ...« - Italo Calvino, Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
Lesen (20)
Lesen (21) Wie auch immer das Denken
in dem Lebensalter, das man erreicht hat, beschaffen sein mag, alle Sorten von
Büchern sind auf zwei Arten zu lesen. Zunächst rasch, um Absicht und Aufbau
mühelos zu erfassen oder um die stilistischen Schönheiten zu genießen. (Denn
an gelungenen Abhandlungen findet man kein größeres Vergnügen, wenn man jedes
Wort einzeln herausklaubt, wie man ja auch die Schönheit einer Frau nicht genießt,
indem man unter die Lupe nimmt.) Anschließend liest man langsam, um die Nuancen
zu erfassen, die Mängel zu bemerken und den Autor zu übertreffen. - (hds)
Lesen (22)
Lesen (23) Eine Regel beim
Lesen ist die Absicht des Verfassers, und den Hauptgedanken sich auf
wenig Worte zu bringen und sich unter dieser Gestalt eigen zu machen.
Wer so liest ist beschäftigt, und gewinntj es gibt eine Art von Lektüre
wobei der Geist gar nichts gewinnt, und viel mehr verliert, es ist das
Lesen ohne Vergleichung mit seinem eigenen Vorrat und ohne Vereinigung
mit seinem Meinungs-System.- (licht)
Lesen (24) Das beste Verständnis der
Alexanderschlacht hat der, der sich am nächsten beim Autor befindet.
Selbst wenn Sie einen Hang zur Seekrankheit haben - Sie werden es
überleben und weniger Fehlurteile einstecken. Lassen Sie sich diesen
Platz auch nicht von Ihrer Schlauheit abhandeln. Lesen Sie nicht mit eng
anliegenden Stiefeln, Schuhen oder Handschuhen. Wenn Sie der Autor
auffordert auszusteigen, tun Sie es ohne Murren, denn er wird es nicht
verlangen, wenn es nicht unerläßlich ist. Wenn die Gedanken
durchbrennen, dann bleiben Sie am besten still sitzen und vertrauen Sie
auf Ihr Glück (Geh ich an meinem Glück vorbei wie an einer Haarnadel auf
der Straße, die aufzulesen ich nicht der Mühe wert finde?). Wenn Sie
das Buch zerreißen, werden Sie sich in neun von 10 Fallen verletzen.
Brummen Sie nicht wegen des Stoffes. Der Autor setzt Ihnen gewöhnlich
das Beste vor, was er eben auftreiben kann. Lassen Sie das Buch nicht
warten, rauchen Sie überm Buch keine starke Pfeife, spucken Sie leewärts
aus. Haben Sie eine Flasche mit einem Getränk bei sich, so reichen Sie
sie herum. Besorgen Sie sich Ihre Genußmittel vor Beginn der Reise.
Fluchen und schimpfen Sie nicht auf Ihre schlafenden Nachbarn. Nehmen
Sie kein Kleingeld mit. Sie haben keine Ausgaben 7.u bestreiten.
Diskutieren Sie nicht über Politik oder Religion. Schildern Sie nicht
ausführlich, wo kürzlich Morde verübt wurden. Tun Sie es besonders dann
nicht, wenn Leserinnen dabei sind. Fetten Sie Ihr Haar nicht, denn der
Weg ist staubig. Glauben Sie keinen Augenblick, Sie seien auf einer
Vergnügungsreise. Erwarten Sie vielmehr Plagen, Mühen und Not.
Vielleicht führt Sie die Lektüre zum Wahnsinn, und ein damit Behafteter
muß aufspringen, weglaufen, um irgendwo umzukommen. - (
acht
)
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