ektüre
Die Gewohnheit pflegt Qualität und Quantität als Gegensätze
zu begreifen. Die Länge eines Buches kreiden wir ihm als Makel an, obwohl
bei einigen von ihnen der bloße Umfang Qualität, wesensbestimmende Qualität,
bedeutet. Solch ein Buch — und nicht das unberühmteste — ist der
Rasende Roland, ein anderes der Quijote
und wiederum ein anderes «Tausendundeine Nacht»
oder, wie Kapitän Burton fordert, Thousand
Nights and a Night ( Das Buch von den tausend Nächten und einer Nacht).
Gewiß kommt es nicht darauf an, es ganz und gar durchzulesen; die Araber
versichern, ein solches Unterfangen führe zum Tode. Ich meine, daß der
Genuß, den uns bereits die Lektüre irgendeiner Geschichte daraus bereitet,
aus der Empfindung kommt, daß wir vor einem unversiegbaren Strom stehen.
Der ursprüngliche Titel zählte tausend Nächte, aber die abergläubische
Furcht vor den geraden Zahlen veranlaßte die Kompilatoren,
noch eine hinzuzufügen, und diese eine reicht aus, um das Zahllose anzudeuten.
- Jorge Luis Borges, Vorwort zu Tausendundeine Nacht nach Galland
(Die Bibliothek von Babel 25, Stuttgart 1984)
Lektüre (2) Meinern Freund Erwin verdrehte die Lektüre
von Kolportage-Romanen vollkommen den Kopf. Sich als Banditenführer fühlend,
mit einem uralten Terzerol bewaffnet, bedrohte er an einer verschwiegenen Stadtmauerecke
eine harmlose alte Frau auf dem Wege zum Markt. Aus dummer Angst gab sie ihm
ihr Portemonnaie und zeigte ihn an. Erwin hatte schon 50 Pfennig in Mohrenköpfen
und Schlagsahne angelegt, als er gefaßt wurde. Er flog, als schändlicher Jugendverderber
gebrandmarkt, aus der Oberrealschule und mußte, von allen verachtet, schließlich
Kommis im Kaufhaus Müllerheim werden. Erwin hatte mir nahezu meine gesamte Bibliothek
beim Sechsundsechzig abgenommen, so rächte sich sein Glück im Spiel. - George Grosz, Ein kleines Ja und ein
großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst
1955
Lektüre (3) Am meisten zog ihn ein alter Markgrafen-Hof- und Staatskalender an, und er las ihn vierzigmal, wie andere den Kant viermal und Bardili fünfmal. Das regierende Haus war zwar abgerissen; aber es waren nodi immer hohe Chargen, Inspektionen und Deputationen genug darin, um ihn außer sich zu setzen; am meisten erstaunte und genoß er, daß sein Dorf und der Pfarrer mit hineingedruckt waren, samt den gemeinsten umliegenden Nestern mit Namen. Und Himmel, wie bewunderte er dabei das herrlich ineinandergefügte Uhrwerk des Staats, wo für das Kleinste und Größte zusammengreifende Dienerschaft bestellt dastand, die Bonnetische tierische Stufenleiter im geistigen Sinn. Er fühlte dunkel, daß es nichts Gerechteres, Weiseres, besser Verwaltetes gebe als einen Staat. Auch Verfasser dieses erinnert sich noch mit Sehnsucht aus seinen Knabenjahren dieses süßen Gefühls.
Es ist dies eine der unerkannten Kindheitsfreuden, daß man in dem Adreßkalender
— diesem geistigen Hypothekenbuch der Staatsverwaltung - die festlich und ehrwürdig
einherziehende Jubelkette des Staats, die Sattel- und Geschirr-Kammer von Bärten,
Perücken, Uniformen und Degen für das ansieht, was
sie so schön scheint. Was geht denn dieser Jugendfreude ab, an Gehalt, außer
Dauer? - Und erquickt ihre Erinnerung nicht so oft den
kalten Staatsbeamten, der später den Staat für eine Schützen-Gild zum Abschuß
eines Gewinst-Adlers oder eines Rebhühner-Volks ansieht, oder für ein
Nest von Prozessions-Raupen auf der Staats-Eiche? - Ja wer unbefangen
genug bleibt, entdeckt sogar reifer in Staatsgliedern noch manche Bewegungen,
welche gleichsam seine alte Ansicht vorspiegeln; und er vergleicht es mit jenem
Tabaks-Liebhaber, welcher, vom Schlagflusse getroffen, sich jede Viertelstunde
regelmäßig bewegte, als nehm' er Tabak, und sich darauf ordentlich die Nase
abrieb wie jeder. - (
fibel
)
Lektüre (4) Nicht, daß es mich im Grunde nicht
interessiert hätte oder (das versteht sich von selbst) weil ich ziemlich wenig
und penibel läse, um nicht imstande zu sein, nach zehn Jahren ans Ende eines
Buches zu gelangen, denn so unfähig bin ich nun wiederum auch nicht; aber es
geschieht oft, daß ich derart in Lektüren steckenbleibe (wie ich vielleicht
auch in der vorliegenden Schrift steckenbleibe). Nicht unbedingt, weil das Gelesene
mich schlechthin anödet, sondern eher weil die Bücher, die meine Aufmerksamkeit
lange zu fesseln vermögen, selten sind: ich greife mir eins, das meinen augenblicklichen
Beschäftigungen entspricht, und ich lese eine gewisse Anzahl von Seiten; dann
taucht etwas Neues auf, das mich beschäftigt und zu einem anderen Buch führt;
meist lasse ich dann das erste liegen, zu sehr drängt es mich, zum zweiten zu
kommen, und tatsächlich lese ich viel zu langsam, damit das Interesse, das Buch,
das ich gerade las, ein für allemal zu beenden, stark genug wäre, erfolgreich
die Ungeduld zu zügeln, die mich dazu treibt, jenes in Angriff zu nehmen, das
mit meinen gegenwärtigen Beschäftigungen übereinstimmt. Teils Faulheit, teils
Wankelmut, das ist so mein Verfahren, nichtabgeschlossene Lektüren anzuhäufen,
wobei ich allerdings zu periodischen Auflösungen schreite, dergestalt, daß ich
mir die im Stich gelassenen Bücher systematisch und notfalls in Blöcken wieder
vornehme, wenn ich sicher bin — nach dem, was ich über sie las oder was ich
über sie sagen oder lesen hörte -, daß sie es verdienten, zu Ende gelesen zu
werden. - Michel Leiris, Die Spielregel I. Streichungen. München 1982
(zuerst 1948)