ewegung   Daß also . . . immer Bewegung war und sein wird alle Zeit, und welches der Ursprung der immerwährenden Bewegung ist, außerdem welches die erste Bewegung ist und welche Bewegung allein immerwährend sein kann, und schließlich, daß das erste Bewegende [der erste Beweger] unbewegt ist ... darüber ist nun gesprochen. - Aristoteles, Physik, nach (mac)

Bewegung (2) Parmenides argumentierte folgendermaßen: Wenn etwas existiert, ist es, und es ist nicht, was es nicht ist. Damit sich dieses Etwas bewegt, muß es von dort, wo es ist, dorthin gelangen, wo es nicht ist. Aber wenn es das täte, wäre es nicht mehr das, was es ist. Folglich ist Bewegung, ebenso wie jede andere Form des Wandels, unmöglich, und damit ist das, was wir als Bewegung und Wandel ansehen, eine Illusion. - (mac)

Bewegung (3)  Die Himmel selbst drehen sich ständig, die Sonne geht auf und unter, der Mond nimmt zu, Sterne und Planeten sind in ständiger Bewegung, die Luft wird noch immer von den Winden geschüttelt, das Wasser steigt und fällt, zweifellos zu seiner Erhaltung, um uns zu lehren, daß wir immer in Bewegung sein sollten. - (bur)

Bewegung (4) Welcher Anblick bietet sich einem heimatlosen Bewußtsein dar, das sich in den Mittelpunkt einer unserer großen Städte verschlagen sieht und wie im Traume die Gesetzmäßigkeit der Vorgänge zu erraten sucht? Es ist der Anblick einer gesteigerten Bewegung, die sich mit unpersönlicher Strenge vollzieht. Diese Bewegung ist drohend und uniform; sie treibt Bänder von mechanischen Massen aneinander vorbei, deren gleichmäßiges Fluten sich durch lärmende und glühende Signale reguliert. Eine peinliche Ordnung drückt diesem gleitenden und rotierenden Getriebe, das an den Gang einer Uhr oder einer Mühle erinnert, den Stempel des Bewußtseins, der präzisen verstandesmäßigen Arbeit auf; dennoch erscheint das Ganze zugleich irgendwie spielerisch im Sinne eines automatischen Zeitvertreibs.

Dieser Eindruck steigert sich zu gewissen Stunden, in denen die Bewegung den Grad einer Orgie erreicht, die die Sinne betäubt und erschöpft. Es würde sich der Wahrnehmung vielleicht entziehen, welche Lasten hier bewältigt werden, wenn sie nicht durch pfeifende und heulende Töne, in denen eine gebieterische Todesandrohung unmittelbar zum Ausdruck kommt, auf den Grad der mechanischen Kräfte aufmerksam gemacht werden würde, die hier am Werke sind. Wirklich hat sich der Verkehr zu einer Art von Moloch entwickelt, der jahraus, jahrein eine Summe von Opfern verschlingt, die nur an denen des Krieges zu messen ist. Diese Opfer fallen in einer moralisch neutralen Zone; die Art, in der sie wahrgenommen werden, ist statistischer Natur. - Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1982 (Cotta's Bibliothek der Moderne 1, zuerst 1932)

Bewegung (5)

IV.     Bewegung

a)      Der Begriff der Bewegung
264. Bewegung
265. Ruhezustand

b)      Arten der Fortbewegung
266. Landverkehr
267. Seeverkehr
267a. Luftverkehr
268. Landfahrer
269. Seefahrer
269a. Luftfahrer
270. Beförderung
271. Beförderer
272. Landfahrzeug
273. Wasserfahrzeug
273a. Luftfahrzeug

c)      Bewegungsgrad
274. Schnelligkeit
275. Langsamkeit

d)      Verursachte Bewegung
276. Stoß
277. Rückprall

e)      Richtungbezogene Bewegung
278. Richtung
279. Abweichung
280. Vorangehen
281. Hinterherkommen
282. Vorwärtsbewegung
283. Rückwärtsbewegung
284. Schub
285. Zug
286. Annäherung
287. Entfernung
288. Anziehung
289. Abstoßung
290. Zusammenlauf
291. Auseinanderlauf
292. Ankunft
293. Abreise
294. Eintritt
295. Austritt.
296. Zuführung
297. Beseitigung
298. Ernährung
299. Ausscheidung
300. Einflößung
301. Entziehung
302. Durchgang
303. Überschreitung
304. Unterschreitung
305. Aufwärtsbewegung
306. Abwärtsbewegung
307. Hebung
308. Senkung
309. Sprung
310. Tauchsprung
311. Kreisbewegung
312. Drehung
313. Entrollung
314. Schwingung (rhythmische Bewegung)
315. Erschütterung (unrhythmische Bewegung)

- Aus: Wehrle/Eggers, Deutscher Wortschatz. Stuttgart 1961

Bewegung (6) Folgendes Experiment hat man an einem Hund durchgeführt. Zunächst wurden in geeigneter Weise die Impulse aufgezeichnet, die durch die motorischen Nerven fließen, während der Hund läuft. Anschließend wurde dem Hund das Rückenmark durchtrennt. Dadurch wurden die Hinterbeine gelähmt. Als man in die Nerven der gelähmten Gliedmaßen die elektrische Aufzeichnung hineinschickte, »lebte« der gelähmte hintere Teil des Hundes »wieder auf« und führte Bewegungen aus, wie sie ein normaler Hund beim Laufen macht. Als man das Tempo der Impulsgebung steigerte, beschleunigten sich auch die Bewegungen des Hundes. - (kopf)

Bewegung (7)

Nie war des Urstoffs Masse zu dichteren Klumpen geballet
Oder durch weiteren Abstand der einzelnen Teilchen gelockert;
Denn nichts mehrt sich darin und nichts geht hiervon verloren.
Deshalb waren die Körper der Urelemente von jeher
Stets in derselben Bewegung wie jetzt und sie werden wohl immer
Auch in künftiger Zeit auf die nämliche Art sich bewegen,
Und was gewöhnlich entsteht, das wird auch künftig entstehen
Unter derselben Bedingung und leben, erwachsen und blühen,
Je nachdem das Gesetz der Natur es für jedes bestimmt hat.
Auch kann keine Gewalt die Welt im ganzen verändern;
Denn da ist ja kein Ort, wohin sich ein Teilchen des Urstoffs
Aus dem Bereiche des Alls zu entfernen vermöchte, noch gibt es
Orte, woher in das All sich neue Gewalten ergössen,
Um die Natur der Wesen und ihre Bewegung zu ändern.
Hierbei ist es jedoch nicht verwunderlich, daß uns das Weltall,
Während sich alle Atome in steter Bewegung befinden,
Dennoch den Eindruck macht, zu verharren in völliger Ruhe,
Außer wann irgendein Ding mit dem eigenen Körper sich rühret.
Denn der Atome Natur liegt weitab unter der Schwelle
Unserer Sinne verborgen. Drum muß sich dir, da die Atome
Selber nicht sichtbar sind, auch ihre Bewegung verbergen.

- (luk)

Bewegung (8) Daß der Mensch eine wandernde Spezies ist, wird meines Erachtens durch ein Experiment bestätigt, daß in der Tavistock-Klinik in London durchgeführt und von Dr. John Bowlby in seinem Buch Attachment and Loss beschrieben wurde.

Jedes normale Baby schreit, wenn es allein gelassen wird; um es zu besänftigen, nimmt die Mutter es am besten in die Arme und wiegt es oder »wandert« mit ihm herum, bis es wieder zufrieden ist. Bowlby bastelte eine Maschine, die den Gang einer Mutter, das Tempo und die Bewegungen, perfekt imitierte. Er stellte fest, daß das Baby, vorausgesetzt, es war gesund, satt und hatte es warm, sofort zu schreien aufhörte. »Die ideale Bewegung«, schrieb er, »ist eine vertikale, mit einer Verschiebung von zehn Zentimetern.« Langsames Wiegen, zum Beispiel dreißigmal pro Minute, hatte keine Wirkung: aber wenn man das Tempo auf fünfzigmal und mehr steigerte, hörte jedes Baby mit dem Schreien auf und blieb dann fast immer still. - (chatw)

Bewegung (9)  Wir sollten der menschlichen Natur vielleicht den instinktiven Wunsch nach Bewegung im weitesten Sinne zugestehen. Der Vorgang des Wanderns trägt zu einem Gefühl physischen und geistigen Wohlbehagens bei, während die Monotonie anhaltender Seßhaftigkeit oder regelmäßiger Arbeit im Gehirn Muster webt, die Überdruß und das Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit hervorrufen. Vieles von dem, was Ethologen als »Aggression« bezeichnet haben, ist nichts anderes als eine zornige Antwort auf frustrierende Einengung. - Bruce Chatwin, Was mache ich hier. Frankfurt am Main 1993 (Fischer - Tb. 10362, zuerst 1989)

Bewegung (10)  Nach dem Gehaste der Stadt wieder diesen hohen wartenden Wald zu sehen! Wie vornehm ist doch das Stehen, die Ruhe. Verwirrt von den heftigen Gesten der Menschen, fühlt man, daß es nur zwei verwandte und große Bewegungen gibt. Der Flügelschlag eines hohen Vogels und das Schwanken der Wipfel. Diese beiden Gebärden sollen deine Seele lehren, sich zu bewegen. - Rainer Maria Rilke

Bewegung (11)  Zenon sagt, dass ein fliegender Pfeil in jedem Moment seiner Flugbahn einen bestimmten, exakt umrissenen Ort einnimmt. An einem exakt umrissenen Ort befindet sich der Pfeil in Ruhe, denn an einem Ort kann er sich nicht bewegen. Da sich der Pfeil in jedem Moment also in Ruhe befindet, müsste er sich insgesamt in Ruhe befinden. Wir nehmen aber wahr, dass der Pfeil fliegt. - Wikipedia

Bewegung (12)  Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist. - G.F.W. Hegel, Wissenschaft der Logik, nach: Willy Hochkeppel, Denken als Spiel. München 1974 (dtv 965)

Bewegung (13)  Die Züge waren fast leer, die ihn in das Land hinaus trugen: er war ein Anachronismus, dieser vereinzelte Fahrgast in seinem Abteil, dieser Bücherleser in der Eisenbahn, der über den nicht enden wollenden Seiten immer wieder einschlief, aufschreckte, den Blick zum Fenster hinaus wandte, auf die parallel zum Schienenstrang verlaufende Autobahn, auf der die Autoherden dahinrasten. Es dämmerte; den Kopf an die Scheibe gelehnt, sah er ihnen zu, wie sie den Zug überholten. Wie sie losjagten, als säße ihnen ein aufhockender Geist im Genick, der ihnen die Sporen gab, dem sie zu entkommen suchten und der doch nicht von ihnen wich. Wie sie heranfegten, um eine Kurve, und auf die Eisenbahn zuschössen, wie sie angriffen, um dann parallel zu den Gleisen die Fahrt aufzunehmen, einen Augenblick fast stillstehend, und dann, im nächsten Gang, dem Zug unwiderstehlich davonzogen. Diszipliniert und zu dicht geschlossenen Pulks vereint, vereint für eine Minute, einheitliche enthirnte Stirnen hinter den Frontscheiben, Leiber, mit dem todgefüllten Arsch auf einer Kraft sitzend, die nicht die ihre war, einem Lenkrad verwachsen, das ihre Fäuste beherrschte, so stoben sie vorwärts, wie vom Peitschenschlag eines großen Herdenführers in Bewegung gesetzt. Und dieser große Hirte war das Kapital ... so sagte er sich immer wieder, wenn er von den Zugfenstern aus die einander vernetzten Ketten der abgeblendeten Scheinwerfer sah, eine durchglühte Gaswolke darüber, eine Wolke von süßen arabischen Düften wie von brennenden Pipelines, eine Wolke von farbigen Miasmen, die mitzog, wenn sie in Reih und Glied über die Pisten trieben, riesige funkelnde Waben von Autos, und er peitschte sie weiter, der Hirte, weiter von einer Tankstelle zur nächsten, wo sie sich mit ihrem Manna füllten, sich volltankten mit ihrem göttlichen Sprit. - Schickt sie alle in die Grube! rief der Hirte, ihr Gott, der seiner Herden längst überdrüssig war. - Wolfgang Hilbig, Das Provisorium. Frankfurt am Main 2001 (Fischer-Tb. 15099, zuerst 2000)

Bewegung (14)  Er reckt und streckt sich, als wollte er sich auseinanderreißen, und zwar zerlegt er, der Ausführlichkeit halber, das Unternehmen in zwei Abteilungen: Er dehnt zuerst die vorderen Gliedmaßen, wobei er das Hinterteil in die Lüfte erhebt, und hierauf dieses, mit weit hinausgestreckten Hinterbeinen; und beide Male reißt er in viehischem Gähnen den Rachen auf. Dann ist auch dies geschehen - die Handlung ließ sich nicht weiterausgestalten, und hat man sich eben nach allen Regeln gestreckt, so kann man es vorläufig nicht wieder tun. Bauschan steht also und blickt in trübem Sinnen vor sich zu Boden. Dann beginnt er sich langsam und suchend um sich selber zu drehen, als wollte er sich niederlegen und sei nur noch ungewiß, in welcher Weise. Doch entschließt er sich anders und geht trägen Schrittes in die Mitte des Rasenplatzes, wo er sich mit einer plötzlichen, fast wilden Bewegung auf den Rücken wirft, um diesen in lebhaftem Hinundherwälzen auf dem gemähten Grasboden zu scheuern und zu kühlen. Das muß mit starkem Wonnegefühl verbunden sein, denn er zieht krampfig die Pfoten an, indem er sich wälzt, und beißt im Taumel des Reizes und der Befriedigung nach allen Seiten in die Luft. Ja, um so leidenschaftlicher kostet er die Lust bis zur schalen Neige, als er weiß, daß sie keinen Bestand hat, daß man sich nicht länger als allenfalls zehn Sekunden so wälzen kann, und daß nicht jene gute Müdigkeit darauf folgt, die man durch  fröhliche Anstrengung erwirbt, sondern nur die Ernüchterung und verdoppelte Öde, mit der man den Rausch, die betäubende Ausschweifung bezahlt. Er liegt einen Augenblick mit verdrehten Augen und wie tot auf der Seite. Dann steht er auf, um sich zu schütteln. Er schüttelt sich, wie nur seinesgleichen sich schütteln kann, ohne eine Gehirnerschütterung besorgen zu müssen, schüttelt sich, daß es klatscht und klappert, daß ihm die Ohren unter die Kinnbacken schlagen und die Lefzen von den weiß schimmernden Eckzähnen fliegen. Und dann? Dann steht er regungslos, in starrer Weltverlorenheit auf dem Plan und weiß endgültig auch nicht das geringste mehr mit sich anzufangen.  - Thomas Mann, Herr und Hund. Ein Idyll. Frankfurt am Main 1963 (zuerst 1919)

Bewegung (15)  Der Komödiant Kallippides wird in den Theatergeschichten erwähnt, weil er nach langer Übung die Kunst beherrschte, den Eindruck des Laufens zu erwecken, ohne sich von der Stelle zu rühren. Anderes konnte er nicht. Gleichwohl wurde die Nummer dermaßen sprichwörtlich, daß man von einem, der sich viel Mühe um Nichtigkeiten gab, zu sagen pflegte, »er macht auf Kallippides«. Zur selben Zeit wie Kallippides gab es einen anderen Schauspieler und Komödianten, der die Kunst beherrschte, sich auf der Bühne zu bewegen, ohne die Beine zu rühren. Eristenes, so hieß er, überquerte die Bühne reglos wie eine Statue (oder eine Mumie) und sogar mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. In Wahrheit hatte er eine Zitterbewegung der Füße erlernt, ein äußerst leichtes und rasches Vibrieren wie das der Flügel einer Fliege (oder einer Mücke), doch niemandem wollte er je sein Geheimnis verraten. In einer Zeit pathetischer Histrionen auf der Suche nach großen Gesten voller Effekte erschien die subtile Kunst des Eristenes aufgeladen mit polemischen Intentionen gegen die Tragödie sowie die Komödie und wurde daher in Athen und ganz Griechenland  heftig befehdet. Eristenes begnügte sich mit der Arbeit in kleinen fahrenden Truppen und mit dem Nötigsten für seinen Broterwerb. In höherem Alter blieb er jedoch ohne Arbeit und starb Hungers. Im Unterschied zu Kallippides, der in den Theatergeschichten Erwähnung findet, wurde sein Name vergessen. - (gesp)

Bewegung (16) Es ist klar, daß die Bewegungen, die von den Erzeugnissen der Wahrnehmung äußerer Objekte und innerer Vorgänge hervorgerufen werden, nicht nur im wachen Zustand gegeben sind, sondern auch wenn der Zustand eingetreten ist, den wir Schlaf nennen, und da in noch höherem Maße. Bei Tage nämlich, wenn Sinne und Verstand in Tätigkeit sind, werden diese Bewegungen verdrängt und ausgelöscht, wie ein kleines neben einem großen Feuer und kleine Schmerz- und Lustempfindungen neben großen; wenn diese aufhören, kommen freilich auch jene geringfügigen Erscheinungen an die Oberfläche. In der Nacht nun, wenn die Einzelsinne untätig und nicht zur Ausübung ihrer Funktion befähigt sind, wenn die Hitze von außen nach innen zurückfließt, da wirken in Folge dieser Gegebenheiten jene Bewegungen auf das Wahrnehmungszentrum und machen sich, nachdem Ruhe eingetreten ist, deutlich bemerkbar. Man muß sich klarmachen, daß jede Bewegung fortdauert, in gleicher Weise wie die kleinen Wirbel in Flüssen, die sich einmal gleichförmig wiederholen, dann wieder durch ein entgegenstehendes Hindernis ihre ursprüngliche Form verlieren und eine andere annehmen. Daher kommen nach dem Essen und bei ganz jungen Menschen, nämlich bei Kindern, keine Träume vor; denn in diesen Fällen ist die innere Bewegung aufgrund der von den Speisen herrührenden Hitze zu groß. Es ist also wie mit dem Wasser:

Wenn man es heftig aufwühlt, erscheint mitunter gar kein Bild, mitunter nur ein ganz verzerrtes, das den betreffenden Gegenstand in völlig veränderter Form zeigt; wenn es sich wieder in Ruhe befindet, erscheinen reine und klare Bilder. So verschwinden auch im Schlafen mitunter die Vorstellungsbilder und die noch andauernden, von den Erzeugnissen der Wahrnehmung herrührenden Bewegungen vollständig unter der mächtigen Wirkung der zuvor genannten Bewegung; mitunter erscheinen nur verschwommene, absonderliche Bilder, die Träume sind unzusammenhängend, z. B. bei Melancholikern, Fieberkranken oder Betrunkenen. All diese Zustände bewirken ja, da sie mit viel Luft verbunden sind, eine große Bewegung und Aufwühlung. Wenn aber das Blut sich beruhigt und die darin enthaltenen Substanzen sich sondern (bei den Lebewesen, die Blut haben), dann bringt die von jedem einzelnen Sinnesorgan herrührende Bewegung, die sich etwas von den Wahrnehmungsbildern bewahrt hat, zusammenhängende Träume hervor. Es erscheint einem dann etwas und man glaubt zu sehen und zu hören aufgrund dessen, was einem vom Gesichts- oder Gehörsinn noch zufließt; ebenso ist es mit den anderen Sinnesorganen. Denn infolge dessen, daß von den Sinnesorganen ausgehend die Bewegung das Herz erreicht, meinen wir auch in wachem Zustand zu sehen, zu hören und überhaupt wahrzunehmen; und mitunter meinen wir zu sehen, weil der Gesichtssinn bewegt zu werden scheint, obwohl dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist; oder uns erscheint eines als zwei, weil der Tastsinn uns zwei Bewegungen mitteilt. Im ganzen kann nämlich gesagt werden, daß den Wahrnehmungen der Einzelsinne die leitende Kontrollinstanz zustimmt, es sei denn, ein Wahrnehmungsdatum von größerer Verläßlichkeit widerspricht. Eine Sinnesempfindung kommt auf jeden Fall zustande, wir stimmen ihr aber nicht in jedem Fall zu, sondern nur, wenn die Kontrollinstanz gehemmt ist oder nicht in richtiger Weise agiert. Wir sagten früher, daß für verschiedene Menschen verschiedene Gefühlszustände Ursache dafür sind, anfällig gegenüber Täuschungen zu sein; ebenso ergeht es dem Schlafenden aufgrund des Schlafes und der Bewegung der Sinnesorgane und der übrigen zur Wahrnehmung gehörigen Prozesse, so daß dem Schlafenden etwas, das ganz geringe Ähnlichkeit mit irgendeinem Ding hat, als das betreffende Ding erscheint. Denn wenn man schläft, dringt der Großteil des Blutes zum Herzen, und die Bewegungen, die teils der Disposition nach, teils aktuell darin vorhanden sind, gehen mit. Und zwar dringt in diesem bestimmten Zustand der Bewegung, die von dem Blutandrang hervorgerufen wird, die eine Bewegung an die Oberfläche, und wenn die vergangen ist, eine andere. Die Bewegungen verhalten sich zueinander wie die künstlichen Frösche, die im Wasser aufsteigen, wenn das Salz an ihnen schmilzt. Ebenso sind jene Bewegungen potentiell vorhanden und werden aktiv, wenn die Wirkung des Hindernisses nachgelassen hat; befreit von dem Hindernis vollziehen sie sich in dem wenigen in den Sinnesorganen zurückgebliebenen Blut: Sie gleichen rasch sich wandelnden Wolkengestalten, in denen man einmal Menschen, einmal Kentauren sieht. Wie gesagt, handelt es sich dabei jedesmal um den Rest des Erzeugnisses einer Wahrnehmung. - Aristoteles, Über Träume. In: Kleine naturwissenschaftliche Schriften. Stuttgart 1997 (Reclam 9478)

Bewegung (17)   Die amöboide Zelle, die nur aus »nacktem« Protoplasma besteht, bewegt sich, indem sie ihre Außenschicht, ihr Ektoplas-ma, an einer Stelle verdünnt. Es stülpt sich dann ein bruchsackartiges Gebilde vor, das mit weiterer, lokalisierter Verdünnung der Außenhaut zu einem Scheinfüßchen, einem sogenannten Pseudopodium auswächst. Der Zellinhalt fließt dann, dem geringeren Widerstand folgend, in das Pseudopodium, das sich an seiner Wurzel immer mehr füllt und verdickt, und so bewegt sich allmählich die ganze Zelle in der betreffenden Richtung.  - Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München 1997 (zuerst 1973)

Bewegung (18) «Seht meinen Stab, wie er zu schwingen beginnt. Nicht ich mache die Bewegung, die ihm übertragen wird; diese Bewegung war schon in meinem Arm, und als ich mit meinem Arm auf den Stab schlug, war es, als hätte ich einen zweiten Stab fallen lassen, der im Fall seine Bewegung an den Stab weitergab, den ich in der Hand hielt.»

«Und wohin geht die Bewegung, wenn der Stab aufhört zu schwingen?» fragte der König.

«Sie geht in die feineren Teilchen der Luft und von da aus immer weiter. Dort gibt es eine endlose Kette, ganz so. als gäbe es zahllose Stäbe, größere und kleinere, und wenn einer von ihnen nach unten fällt, dann bewegt er sich wieder nach oben oder gibt diese Bewegung an einen anderen oder an andere weiter. Doch, oh König, ich will Euch an den Anfang dieser langen Kette führen und Euch an einen Ort geleiten, an dem Ihr nicht sagen mögt, ich will dies tun, oder ich will das tun, sondern an dem Ihr sagen könnt, diese ganze Kette von Bewegungen soll sein oder soll nicht sein. Denn betrachtet Ihr das Schwingen dieses Stabes, so seht Ihr, daß er sich so weit nach oben wie nach unten und so weit nach rechts wie nach links bewegt. Und fielen die Bewegungen, die er ausführt, zusammen, so käme er zur Ruhe. Seine Bewegung ist nichts anderes als eine in gleich geartete und entgegengesetzte Bewegungen aufgeteilte Ruhe. Und was Ihr Ruhe nennt, sind mannigfaltige Bewegungen. Euer soll es sein, oh König, das Nichts zu durchbrechen und die Dinge werden zu lassen. Denn hört, oh König, ich habe Euch diese Wesen im Tal nicht dazu gegeben, daß Ihr sie zu äußerlichen Handlungen bewegt, sondern ich habe sie Euch gegeben, damit Ihr ihre Leblosigkeit durchbrecht und sie leben laßt. Und wisset, oh König, daß alle Dinge in diesem Tal bis hin zu den kleinsten so ruhig sind wie die, die Ihr gefunden habt. Ohne mich wurde sich nicht das kleinste Teilchen dort bewegen. Jedes Teilchen hat die Fähigkeit. Schmerz und Freude zu empfinden, doch nach dem Gesetz des Tales sind sie gleich stark. So bewegt sich kein Teilchen von sich aus. Ich jedoch bringe es in Bewegung, und alle Dinge in diesem Tal bewegen sich früher oder später dahin zurück, woher sie gekommen sind. Die Flüsse, die weit entfernt im Tal ihre Wasser sammeln, führe ich dahin, wo sie in die Tiefe stürzen, die zwischen uns liegt. Dort lösen sie sich auf in kleinste Fragmente, und ich lasse jedes Fragment wieder an den Ort zurückkehren, von dem es zu Anfang kam. Und, oh König, da all diese Bewegungen enden, wo sie beginnen, gibt es nicht mehr Freude als Schmerz. Sie sind nichts als die durchbrochene Leblosigkeit der Ruhe- Charles Howard Hinton, Wissenschaftliche Erzählungen. Die Bibliothek von Babel 10. Hg. Jorge Luis Borges. Stuttgart 1983 

Bewegung (19)  Wir wissen, daß Krates sehr alt wurde;  daß er sich zum Schluß nicht mehr von der Stelle bewegte, hingelagert unter dem Schutzdach eines Hafenspeichers, der den Seeleuten zur Verstauung ihrer Ballen diente; daß er es unterließ, einem Knochen zum Benagen fernerhin nachzulaufen, daß er nicht einmal mehr den Arm ausstrecken wollte, und daß man ihn eines Tages ausgedörrt auffand, verhungert.  - Marcel Schwob, Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe. Nördlingen 1986 (Krater Bibliothek, zuerst 1896)

Bewegung (20)   Die Bewegungen der menschlichen Gliedmaßen  stehen im Verhältnisse zu den Bewegungen der Himmelskörper. So entspricht bei jedem Menschen die Bewegung des Herzens der Bewegung der Sonne, und indem dasselbe durch die Arterien sich in den ganzen Körper ergießt, zeigt es uns aufs genaueste Jahre, Monate, Tage, Stunden und Augenblicke an. Die Anatomiker haben ferner einen Nerv im Menschen entdeckt, der, wenn er angezogen wird, alle Glieder in Bewegung setzt, gerade wie sich jedes derselben sonst von selbst bewegt. Aristoteles glaubt, daß auch die Glieder der Welt durch ein derartiges Anziehen von Gott bewegt werden.  - (nett)

Bewegung (21)  Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. — Formelemente der Graphik sind: Punkte, lineare, flächige und räumliche Energien. — Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen. (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick, wie weit wir schon sind. (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe) ... Wir durchqueren einen umgepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes ... Ich habe Elemente der graphischen Darstellung genannt, die dem Werk sichtbar zugehören sollen. Diese Forderung ist nicht etwa so zu verstehen, daß ein Werk aus lauter Elementen bestehen müsse. Die Elemente sollen Formen ergeben, nur ohne sich dabei selber zu opfern. Sich selber bewahrend ... Durch solche Bereicherung der formalen Symphonie wachsen die Variationsmöglicrikeiten und damit die ideellen Ausdrucksmög-lichkeiten ins Ungezählte . . . Bewegung liegt allem Werden zu Grunde . .. Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen. Auch im Weltraum ist Bewegung das Gegebene . . . Die Genesis der <Schrift> ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es als Produkt erlebt. Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge weiter. — Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. - Paul Klee, nach: Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 19)

Bewegung (22)  Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort, sondern indem es in einem und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist. - G.W.F. Hegel, nach: Willy Hochkeppel, Denken als Spiel. München 1973 (dtv 965)

Leben Handeln, menschliches
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{?}
VB
Synonyme