erstehen
Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer
weiß, ob sie sich nicht mehr noch die Zeit mit mit vertreibt, als ich mir
mit ihr? Dieser Mangel, der die Geselligkeit zwischen ihnen und uns hindert,
warum läge er nicht ebensowohl an uns wie an ihnen? Es wäre noch zu erraten,
wessen Fehler es ist, daß wir uns nicht verstehen: denn wir verstehen sie
ebensowenig, wie sie uns. Aus eben diesem gleichen Grunde können sie uns
für vernunftloses Vieh halten, wie wir sie. Groß Wunder ist es nicht, daß
wir sie nicht verstehen; wir verstehen auch nicht die Basken und die Troglodyten.
- (
mon
)
Verstehen (2)
-
Charles
M. Schulz
, Nobody's perfect, Charlie Brown. Greenwich
Conn. 1968 (Fawcett Crest, zuerst ca. 1962)
Verstehen (3) Der
Mensch versteht den Mops nicht, und der Mops versteht
die Menschen nicht. - Alfred Brehm [?]
Verstehen (4)
Fünf Minuten vor Anfang der Welt |
- Aus: Peter Rühmkorf, Über das Volksvermögen. Exkurse
in den literarischen Untergrund. Reinbek bei Hamburg 1967
Verstehen (5) Wir verdienten es
ja nicht anders, sagte Herr Cornelli, das sei eine Reinpeitschung
von apokalyptischen Dimensionen. Wenn man bedenke, was Hitler und damit
wir - wir! - den Völkern Europas angetan hätten! Und plündern? Das müßten
wir aus der russischen Seele verstehen, das sei
asiatische Tradition, das meinten die nicht bös. Plündern, brandschatzen,
vergewaltigen. Wer könne denn wissen, ob wir so schnell von dem Nazikram
erlöst worden wären, wenn die Kommandeurs nicht freies Plündern versprochen
hätten. »Da, die Stadt! Holt sie euch, sie ist euer!« Plündern, das habe
eine bis in die Antike reichende Tradition. Praedatio, die Beute; und praedatus,
ùs wenn ihn nicht alles täusche, Beute machen. - Caesar,
Tacitus, Sallust. Das seien doch alles aufgeklärte Leute gewesen ... und
trotzdem geplündert. An diesen Urtrieb hätten wir gerührt, und das wolle
ausgestanden sein. Plündern - das habe ja auch etwas Kräftigendes an sich,
wenn man es recht betrachte, wie der Boden, den man aufreißt, damit etwas
Frisches, Grünes hervorzubrechen vermöge. - Walter Kempowski, Uns geht's
ja noch gold. Roman einer Familie. München 1972
Verstehen (6) Mädchen und Helden Wie schön seid ihr, Dienstmädchen mit den Bauernbeinen und den ruhigen Augen, von denen man nicht weiß, wundern sie sich über alles oder über nichts?! Ihr führt den Hund der Herrschaft an der Leine wie die Kuh am Strick. Denkt ihr daran, daß jetzt im Dorf die Glocken läuten, oder denkt ihr daran, daß jetzt das Kino beginnt? Sicher ist es nur, ihr fühlt auf eine geheimnisvolle Weise, daß mehr Männer zwischen zwei Ecken der Stadt leben als auf dem ganzen Land, und ihr geht in jedem Augenblick durch diese Männlichkeit, wenn sie euch auch nicht gehört, wie durch ein Kornfeld, das an die Röcke streift.
Aber denkt ihr daran, während eure Augen tun, als wüßten sie nichts, daß es ein Mann ist, den ihr an der Leine führt? Oder bemerkt ihr in keiner Weise, daß Lux ein Mann ist, daß Wolf und Amri Männer sind? Tausend Pfeile durchbohren ihr Herz bei jedem Baum und Lichtmast. Männer ihres Geschlechts haben als ihr Zeichen den messerscharf en Geruch des Ammoniaks hinterlassen, als hätte man Schwerter in einen Baum gestoßen; Kämpfe und Brüderschaften, Heldentum und Neigung, die ganze heroische Welt des Mannes entfaltet sich vor ihrer schnuppernden Vorstellungskraft! Wie heben sie das Bein mit der freien Gebärde eines kriegerischen Grußes oder dem heldischen Schwung eines mit dem Bierglas grüßenden Arms beim Kommers! Mit welchem Ernst verrichten sie ihren Dienst, der ein Trank- und Weiheopfer ist wie nur irgendeines! Und ihr, Mädchen? Verständnislos zieht ihr sie hinter euch drein. Zerrt an der Leine; gönnt ihnen nicht Zeit, ohne euch auch nur umzusehen nach ihnen; achtet ihrer nicht. Es ist ein Anblick, um Steine gegen euch zu erheben.
Brüder! Auf drei Beinen hüpft hinter diesen Mädchen Lux oder Wolf; zu
stolz, zu sehr im Stolzesten verletzt, um nach
Hilfe zu heulen; keines anderen Protestes fähig, als das vierte Bein eigensinnig,
hartnäckig, in verzweifeltem Abschied nicht sinken zu lassen, während ihn
die Leine immer weiter reißt. Welche inneren Hundeerkrankungen mögen aus
solchen Augenblicken entstehen, welche verzweifelten
neurasthenischen Komplexe liegen in ihnen beschlossen! Und die Hauptsache:
fühlt ihr seinen traurig kollegialen Blick, den er euch zusendet, wenn
ihr an solcher Szene vorbeikommt? Er liebt ja auch in seiner Weise die
Seele dieser verständnislosen Mädchen. Sie sind
nicht herzlos; ihr Herz möchte sich erbarmen, wenn sie wüßten, was vor
sich geht. Aber sie wissen es eben nicht. Und sind sie nicht gerade darum
so bezaubernd, diese Trägherzigen, weil sie gar nichts von uns wissen?
So spricht der Hund. Sie werden niemals unsere Welt verstehn! - Robert
Musil, Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg 1963 (rororo 500, zuerst
1936)
Verstehen (7) Octave, der Pariser, verstand Lateinisch, Italienisch, Spanisch, ein wenig Englisch; doch wie fast allen Franzosen waren ihm slawische Sprachen gänzlich unbekannt. Die vielen seltene Vokale beschützenden Konsonanten hätten ihn an weiterem Eindringen verhindert, wäre er selbst gesonnen gewesen, sich diesem Studium zu unterwerfen. In Florenz hatte die Gräfin stets Französisch oder Italienisch mit ihm gesprochen, und der Gedanke war ihm nicht gekommen, sich mit der Sprache vertraut zu machen, in der Mickiewicz sich Byron fast ebenbürtig erzeigte. An alles kann man nicht denken!
Beim Anhören dieser Worte ging in dem von
Octaves Persönlichkeit beschlagnahmten Gehirn
des Grafen Sonderbares vor sich; die dem Pariser fremden Laute fanden sich
in slawischen Gehörgängen zurecht, drangen bis dort vor, wo Olafs Geist
sie sonst in Gedanken umsetzte, und regten eine Art physisches Erinnern
an; undeutlich ward Octave sich ihres Sinnes bewußt. Summend boten sich
in Hirnwindungen, in geheimen Fächern des Gedächtnisses versteckte Worte
antwortbereit an; doch da diese unbestimmten Erinnerungen in keinerlei
Zusammenhang mit dem Geistigen kommen konnten, zerflatterten sie schnell,
und alles wurde undurchsichtig. Die Verlegenheit des armen Liebhabers
war grenzenlos; von diesen Schwierigkeiten hatte er sich nichts träumen
lassen, als er in die Haut des Grafen schlüpfte,
und die Einsicht ging ihm auf, daß man sich quälendsten Mißlichkeiten aussetzt,
wenn man sich der Leiblichkeit eines anderen bedient. - Théophile
Gautier, Avatar. Frankfurt am Main 1985 (st 1161, zuerst 1856)
Verstehen (8) Fec näherte sich ihr und ging dicht neben ihr einher. »Eh ben, wie kommt es, daß ich dir sehr gefiel, als ich besoffen war und diese großartige, diese reizende, diese köstliche Abmachung verzapfte, obwohl diese Abmachung dir durchaus nicht paßte? Und wie kommt es, daß du die holde Absicht hattest, mich in dich verliebt zu machen, um mich dann zu verlassen, obwohl du doch wolltest, daß ich dich verlasse, um dir zu beweisen, daß ich dich liebe?«
»Schlingue!« Bichette vertrat ihm, den Schirm vor sich in den Sand stemmend, den Weg. »Wenn du glaubst, daß ich...«
»Ich bin noch nicht fertig. Und wie kommt es, daß du alles, was du machtest, um mich in dich verliebt zu machen, gemacht hast, obwohl die Absicht, mit der du es gemacht haben willst, so bedenklich schwankt?« Fec stellte ein Bein über und zündete sich eine Zigarette an.
Bichette senkte plötzlich die Augen. Sie war über und über rot geworden.
Fec, der sofort wußte, daß sie sich das nie verzeihen würde, beschloß, vielleicht sogar, um ihr den Rückzug zu ihm nicht gänzlich abzuschneiden, ihr zu Hilfe zu kommen. »Es handelt sich eben um etwas ganz anderes. Du bist grenzenlos stolz. Du wehrst dich gegen jeden Mann. Und ganz besonders wild gegen einen, von dem du fürchtest, er könnte dich eines Tages beherrschen. Du hast dich auch gegen mich gewehrt. Von allem Anfang an. Das fühlte ich bereits damals, als wir zum ersten Mal nachts von ›Leon‹ ins Aëro gingen. Damals sagtest du, daß jeder Mann dich langweile. Das sagtest du nur, weil ich zum ersten Mal etwas Feines gesagt hatte... Ah, jetzt weiß ich, worauf du vorhin anspieltest... Dagegen, gegen dieses Feine glaubtest du dich sofort zur Wehr setzen zu müssen, um mich nicht aufkommen zu lassen... Und ich fühlte es bereits, als du die gelbe Wollkappe in der Rue Demours in einem Ladenspiegel betrachtetest und dann im Weitergehen mir zulächeltest. Es war mir damals unmöglich gewesen, zu entscheiden, wie. Heute weiß ich, daß es siegesgewiß war, dieses Lächeln... Und ich fühlte es bereits, als du so wuchtig behauptetest, nicht mehr leer laufen zu können, und auf die Laterne stiertest. Dieses Stieren war schon gegen mich gerichtet und dein sonderbares Lächeln kurz nachher bestätigte es mir... Und ich wußte es fast schon, als du, nach der Rauferei mit dem Japaner, im Hotel Puget nicht wiederholen wolltest, was du gesagt hattest. Heute weiß ich, was du damals gesagt hast. Nicht wörtlich, selbstverständlich. Aber den Inhalt. ›Warum stehst du denn noch da?‹ Ungefähr das war es.« Er zertrat mit einer kurzen Drehung des Fußes die Zigarette, die ihm aus dem Mund gefallen war.
Bichette hob jäh den Kopf.
Fec erkannte an dem verwilderten Ausdruck ihrer Augen, daß er sich nicht
geirrt hatte. Er vergaß, was er noch eben gewollt hatte, und sprach, während
er bisher oft gezögert hatte, nun mit voller Sicherheit. »Eh ben. Dieses
›Warum stehst du denn noch da?‹ war teils freilich die Wirkung deiner
Ermüdung. In der Hauptsache aber doch nur die Wirkung meiner Triumphe von
Gabys Eifersuchtsanfall an über das Ballot-As der Avenue des Ternes hinweg
bis zur Umlegung des Japaners. Dieses Plus hieltest du nicht aus. Dagegen
mußtest du dich wehren. Da du aber doch einsahst, wie unvorsichtig du dich
benommen hattest, verzichtetest du auf eine Wiederholung. Zudem warst du
sicherlich auch Pimpis wegen wütend auf mich. Du warst besorgt um ihn und
schobst die Schuld an seinem Malheur auf mich. Deshalb hattest du dich
auch vorher auf der Straße, auf dem Weg zum Aero, von mir losgerissen.
Und als du mich tags darauf auf den Stuhl stießest, warst du wütend, weil
du fürchtetest, ich könnte bemerkt haben, wie du eigentlich zu Pimpi stündest.
Ich hielt ihn damals allerdings bloß für einen Verströmten. Nur deshalb,
um davon abzulenken, fingst du gleich hinterher von unserer Abmachung an
zu reden. Selbstverständlich aber auch, weil sie dir überhaupt in den Kram
paßte. Du wolltest mich mit ihr fangen. Unaufrichtig nannte ich dich damals,
weil es dir mit dieser Abmachung gar nicht ernst war, was du ja bereits
zugegeben hast. Aber erst seit heute sehe ich ganz klar. Die Szene mit
dem Schmuck hast du gemacht, um ihn mir zu zeigen. Um mich mit ihm zu locken,
festzuhalten und so leichter unterzukriegen. Und als wir dann rauften,
hast du nur geschrien, weil du nahe daran warst, zu unterliegen. Du bist
getaumelt, weil du einen Absatz verloren hattest.
Ich sehe es noch, wie nachher deine Augen lauernd auf mich gerichtet waren,
so lange, bis ich den Kofferschlüssel eingesteckt hatte. Nun glaubtest
du, es erreicht zu haben. Und als du mich wegschicktest, um das Armband
zu verkaufen, lächeltest du triumphierend. Zum Teil mit Recht. Denn ich
glaubte damals, daß dein Letsch dir gehörte. Heute weiß ich, daß er dir
nur teilweise oder überhaupt nicht gehören kann. Welche Frau, überdies
deines Schlags, lebt wie du, wenn sie ein kleines Vermögen im Koffer hat?
Gewiß, du bekamst auch Schmuck. Aber eine Frau wie du sammelt ihn nicht,
sondern trägt ihn oder bringt ihn durch. Du trägst ihn aus Vorsicht nicht.
In Nizza trugst du die Saphir-Agraffe so, daß man sie fast nicht sah. Und
nur, weil es nicht anders ging. Ich war dir also gerade gut genug dazu,
Pimpis Beute zu versilbern. Du triumphiertest aber auch, weil ich zur Abreise
bereit war. Ich fuhr jedoch nur aus Besoffenheit, Gleichgültigkeit. Du
glaubtest, deinem Sieg über mich nun ganz nahe zu sein. Deshalb deine so
unvermittelte Begeisterung im Taxi, als wir in Paris zum Bahnhof fuhren.
Sie war vielleicht sogar wirklich kein glattes Theater, sondern eine suggestive
Stimmung wie die meine. Eine solche Stimmung war ja auch mein besoffener
Speech bei ›Leon‹. Er spricht
überhaupt noch von Liebe, will sie noch, will also noch einen letzten hirnrissigen
Versuch machen, ist also ein Kamel. Und ich wette, daß du an jenem
Morgen bei ›Leon‹ mit Pimpi ein Rendezvous hattest.
Jedenfalls war er sicher, dich um diese Zeit dort zu treffen. Das, was
er dir dann nachmittags im Hotel Puget sagte, wollte er dir schon am Morgen
sagen... Ah, jetzt erinnere ich mich an etwas! >Wenn es keine blöden Leute
gäbe, wäre es gar nicht so nett auf der Welt.< Das galt mir. Pimpi log
ja damals. Er hatte deine Adresse nicht von Loute erfahren. Denn der Patron
vom Aëro sagte ihm unsere neue Adresse ja nur, weil er ihn kannte. Übrigens
sah ich damals deine Ledertasche mit dem Schmuck zum ersten Mal. Ça y est...«
- Walter Serner, Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte.
München 1982 (dtv 10054, zuerst 1925)
Verstehen (9) Der Mann der Wissenschaft,
der nicht begreift, daß rituelles Verhalten im Kern etwas ist, das keinen
rationalen Grund hat, muß für jedes Ritual einen solchen Grund finden;
wie zu erwarten, ist dieser Grund zumeist äußerst absurd
- absurd deshalb, weil er nicht dem schlichten Geiste des Barbaren entspringt,
sondern dem hochkomplizierten Geiste des Professors.
Zum Beispiel wird der gelehrte Mann erklären: »Die Eingeborenen von Mumbojumbo
hegen die Vorstellung, daß ein Toter essen kann und für seine Reise ins
Jenseits Proviant braucht. Das wird durch die Tatsache belegt, daß sie
auf dem Grabe Nahrung deponieren und daß sich jede
Familie, die dieses Ritual nicht befolgt, den Zorn der Priester und des
Stammes zuzieht.« Jeder, der mit den Menschen vertraut ist, weiß, wie völlig
verkehrt diese Darstellung ist. Genausogut könnte man sagen: »Die Engländer
des 20. Jahrhunderts hegten die Vorstellung, daß ein Toter riechen kann.
Das wird durch die Tatsache belegt, daß sie das Grab stets mit Lilien,
Veilchen oder anderen Blumen bedeckten. Die Vernachlässigung
dieses Brauches zieht offenbar einigen Unwillen von selten der Priester
und des Stammes nach sich, denn uns liegen Berichte über mehrere alte Damen
vor, die außer sich waren, weil ihre Kränze nicht rechtzeitig zum Begräbnis
eintrafen.« - Gilbert Keith Chesterton, Ketzer. Eine
Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter. Frankfurt am Main 2004
(it 3023, zuerst 1905)
Verstehen (10) genau das, was
da redest, mag ich nicht.
morgens brüllt ein vogel
ich möchte aber schlafen.
dieser vogel ist mein persönlicher feind.
an einer wand verwittert ein vor wochen erschlagener
käfer mit dem will ich dich vergiften.
alles verstehen heisst nichts
verzeihen.
(für anacharsis clootz) - Oswald Wiener, Die
Verbesserung von Mitteleuropa. Roman. Reinbek bei Hamburg 1969
Verstehen (11) 153. Wir
versuchen nun, den seelischen Vorgang des Verstehens, der sich, scheint
es, hinter jenen grobem und uns daher in die Augen fallenden Begleiterscheinungen
versteckt, zu erfassen. Aber das gelingt nicht. Oder, richtiger gesagt:
es kommt gar nicht zu einem wirklichen Versuch. Denn auch angenommen, ich
hätte etwas gefunden, was in allen jenen Fällen des Verstehens geschähe,
- warum sollte das nun das Verstehen sein? Ja, wie konnte denn der Vorgang
des Verstehens versteckt sein, wenn ich doch sagte »Jetzt verstehe ich«,
weil ich verstand?! Und wenn ich sage, er ist versteckt, - wie weiß ich
denn, wonach ich zu suchen habe? Ich bin in einem Wirrwarr. -
(
wit
)
Verstehen (12) »Es hätte ebensogut irgendwer anders sein können, sinnvoller oder sinnloser wär's deswegen auch nicht. Du strengst dich doch wohl hoffentlich nicht an, diesen Unsinn in deinem Kopf klarzukriegen. Du weißt ganz genau, daß das alles gar nicht so gewesen ist.«
»Und was«, fragte er verdutzt, »ist gewesen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, niemand weiß das. Ich erzähl dir nur, was ich
gesehen habe, plus den Teil von Aaronia Haldorns Darstellung, der zu dem paßt,
was ich gesehen habe. Damit es zu dem paßt, was ich gesehen habe, muß das meiste
davon ziemlich so gewesen sein, wie ich's dir erzählt habe. Wenn du glaubst,
daß es so gewesen ist - bitte sehr. Ich glaub nicht daran. Ich möchte eher glauben,
daß ich Dinge sah, die gar nicht da waren.« - Dashiell Hammett, Der
Fluch des Hauses Dain. Zürich 1976 (detebe 20293, zuerst 1929)
Verstehen (13) Von Frauen hatte ich
ein bißchen weniger Ahnung als von Waffen. Niemand verstand die Frauen wirklich,
mit Ausnahme vielleicht von bisexuellen Friseuren. Sie hatten eine ziemliche
Ahnung von Frauen, es lag aber auf der Hand, daß es sie nicht interessierte.
In Wirklichkeit hatten die Frauen nur wenige Freunde auf der Welt. Es kam mir
wiederholt so vor, als sei ein Mann ohne Frau etwa wie ein Kopf ohne Schmerzen.
-
Kinky Friedman, Greenwich Killing Time. Zürich 1992 (zuerst 1986)
Verstehen (14) Es gibt Zeiten, wo
man mit seinen Freunden brechen muß, um den Sinn der Freundschaft
zu verstehen. Das mag merkwürdig klingen, aber die Entdeckung dieses Buches
war gleichbedeutend mit der Entdeckung einer Waffe, eines Handwerkszeugs, mit
denen ich alle Freunde, die mich umgaben und die mir nichts mehr bedeuteten,
von mir abtun konnte. Dieses Buch wurde mein Freund, denn es lehrte mich, daß
ich keine Freunde brauchte. Es gab mir den Mut, allein zu stehen, und lehrte
mich, Einsamkeit zu schätzen. Ich habe dieses Buch nie verstanden; manchmal
glaubte ich es zu verstehen, aber es gelang mir nie wirklich. Es war wichtiger
für mich, es nicht zu verstehen. Wenn ich dieses Buch in der Hand hielt und
meinen Freunden laut daraus vorlas, ihnen Fragen stellte und Erklärungen gab,
wurde mir klar, daß ich keine Freunde hatte und daß ich allein auf der Welt
war. Denn da weder ich noch meine Freunde den Sinn der Worte verstanden, wurde
eines sehr klar, nämlich daß es verschiedene Arten des Nichtverstehens gab und
der Unterschied zwischen dem Nichtverstehen des einen und dem Nichtverstehen
des anderen eine Welt festen Bodens schuf, die sogar noch fester war als die
Unterschiede des Verstehens. Alles, was ich vorher zu verstehen geglaubt hatte,
zerbröckelte, und ich blieb mit einer leeren Schiefertafel zurück. Meine Freunde
dagegen verschanzten sich fester in dem kleinen Graben des Verstehens, den sie
für sich ausgehoben hatten. Sie starben behaglich in ihrem kleinen Bett des
Verstehens, um nützliche Bürger der Welt zu werden. Sie taten mir leid, und
einen nach dem anderen gab ich sie ohne das geringste Bedauern auf. -
Henry Miller, Wendekreis des Steinbocks. Reinbek bei Hamburg 1972 (zuerst
1939)
Verstehen (15) Über die Mikroweit hat die
Natur einen Schleier gelegt, den die Physiker mit ihrer Erkenntnismethode nur
so weit lüften können, als sie Wahrscheinlichkeits-Aussagen machen. Für den
praktischen Umgang mit der Natur reicht das auch aus. Denn meist hat man es
mit sehr vielen Quantenobjekten zu tun - ein Gramm Uran etwa enthält l022
Atome. Und wenn sehr viele Objekte im Spiel sind, wird, das lehrt die Statistik,
aus den vielen Einzelwahrscheinlichkeiten berechenbare Gewißheit
-jedenfalls eine, die funktionierende Kernspintomographen, Computerchips oder
Atomkraftwerke zu bauen erlaubt. Sobald Physiker jedoch einzelne Quantenobjekte
untersuchen, üben sie sich in Bescheidenheit -
weit davon entfernt zu glauben, sie verstünden die Natur wirklich oder hätten
sie gar im Griff. - Arno Nehlsen, Geo 1 / 1999
Verstehen (16) Jemandem sagen ich
verstehe Sie bedeutet ihm genau das Gegenteil sagen, versichert er Mortin. Ich
jedenfalls, wenn ich zu jemandem sage ich verstehe Sie, dann um die Erklärungen
meines Gesprächspartners abzukürzen, ich gebe ihm recht während ich denke mein
Gott geht er mir auf die Nerven, und man kann unmöglich verstanden werden wenn
man den andern reizt. Allein die Tatsache jemandem auf die Nerven zu gehen ist
also zwangsläufig ein Fehler, der andere kann nicht einverstanden sein und infolgedessen
... Ich verstehe dich, unterbricht Mortin. - (
rp
)
Verstehen (17) »Ich habe über
all das etwas gelesen, Bruno. Es ist ganz sonderbar und wirklich sehr schwierig
... Ich glaube, die Musik hilft, weißt du. Nicht, zu verstehen, denn in Wirklichkeit
verstehe ich überhaupt nichts.« Er schlägt sich mit der Faust an den Kopf. Der
Kopf dröhnt wie eine Kokosnuß. »Hier drinnen ist nichts, Bruno, was man so nichts
nennt. Das denkt nicht und versteht auch nichts. Um die Wahrheit zu sagen, ich
habe es nie gebraucht. Erst von den Augen abwärts verstehe ich, und je weiter
unten, desto besser. Aber ein richtiges Verstehen ist das nicht, das gebe ich
zu.« -
Julio Cortázar, Der Verfolger. In: J.C., Südliche Autobahn. Die Erzählungen Band 2. Frankfurt am
Main 1998
Verstehen (18) 150. Die Grammatik des Wortes »wissen« ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte »können«, »imstande sein«. Aber auch eng verwandt der des Wortes »verstehen«. (Eine Technik ›beherrschen‹.)
151. Nun gibt es aber auch diese Verwendung des Wortes »wissen«: Wir sagen »Jetzt weiß ich's!« — und ebenso »Jetzt kann ich's!« und »Jetzt versteh ich's!«.
Stellen wir uns dieses Beispiel vor: A schreibt Reihen von Zahlen an; B sieht ihm zu und trachtet, in der Zahlenfolge ein Gesetz zu finden. Ist es ihm gelungen, so ruft er: »Jetzt kann ich fortsetzen!« — Diese Fähigkeit, dieses Verstehen ist also etwas, was in einem Augenblick eintritt. Schauen wir also nach: Was ist es, was hiereintritt? -A habe die Zahlen 1, 5, 11, 19, 29 hingeschrieben; da sagt B, jetzt wisse er weiter. Was geschah da? Es konnte verschiedenerlei geschehen sein; z. B.: Wahrend A langsam eine Zahl nach der andern hinsetzte, ist B damit beschäftigt, verschiedene algebraische Formeln an den angeschriebenen Zahlen zu versuchen. Als A die Zahl 19 geschrieben hatte, versuchte B die Formel an = n2 + n - 1; und die nächste Zahl bestätigte seine Annahme.
Oder aber: B denkt nicht an Formeln. Er sieht mit einem gewissen Gefühl der Spannung zu, wie A seine Zahlen hinschreibt; dabei schwimmen ihm allerlei unklare Gedanken im Kopf. Endlich fragt er sich »Was ist die Reihe der Differenzen?«. Er findet: 4, 6, 8, 10 und sagt: Jetzt kann ich weiter.
Oder er sieht hin und sagt: »Ja, die Reihe kenn' ich« — und setzt sie fort; wie er's etwa auch getan hätte, wenn A die Reihe 1, 3, 5, 7, 9 hingeschrieben hätte. - Oder er sagt gar nichts und schreibt bloß die Reihe weiter. Vielleicht hatte er eine Empfindung, die man »das ist leicht!« nennen kann.
(Eine solche Empfindung ist z. B. die, eines leichten, schnellen Einziehens des Atems, ähnlich wie bei einem gelinden Schreck.)
152. Aber sind denn diese Vorgänge, die ich da beschrieben habe, das Verstehen?
»B versteht das System der Reihe« heißt doch nicht einfach: B fällt die Formel »an = ....« ein! Denn es ist sehr wohl denkbar, daß ihm die Formel einfällt und er doch nicht versteht. »Er versteht« muß mehr beinhalten als: ihm fällt die Formel ein. Und ebenso auch mehr, als irgendeiner jener, mehr oder weniger charakteristischen, Begleitvorgänge, oder Äußerungen, des Verstehens.
153. Wir versuchen nun, den seelischen Vorgang des Verstehens, der sich,
scheint es, hinter jenen grobem und uns daher in die Augen fallenden Begleiterscheinungen
versteckt, zu erfassen. Aber das gelingt nicht. Oder, richtiger gesagt: es kommt
gar nicht zu einem wirklichen Versuch. Denn auch angenommen, ich hätte etwas
gefunden, was in allen jenen Fällen des Verstehens geschähe, — warum sollte
das nun das Verstehen sein? Ja, wie konnte denn der Vorgang des Verstehens versteckt
sein, wenn ich doch sagte »Jetzt verstehe ich«, weil ich verstand?! Und wenn
ich sage, er ist versteckt, — wie weiß ich denn, wonach ich zu suchen habe?
Ich bin in einem Wirrwarr.
-
(wit)
Verstehen (19) «Wir brauchen Bewußtsein
nicht an sich zu verstehen. Wenn es uns gelingt,
durch entsprechende Manipulationen jeden gewünschten
Bewußtseinszustand bei einer fremden Person zu erzeugen,
dann haben wir Bewußtsein im Prinzip verstanden.» - Daniel Dennett
(Philosoph),
nach (kopf)
Verstehen (20) Tschuang-Tse und Hui-Tse standen auf der Brücke, die über den Hao führt.
Tschuang-Tse sagte: «Sieh, wie die Elritzen umherschnellen! Das ist die Freude der Fische.»
«Du bist kein Fisch», sagte Hui-Tse, «wie kannst du wissen, worin die Freude der Fische besteht?»
«Du bist nicht ich», antwortete Tschuang-Tse, «wie kannst du wissen, daß ich nicht wisse, worin die Freude der Fische besteht?»
«Ich bin nicht du», bestätigte Hui-Tse, «und weiß dich nicht. Aber das weiß ich, daß du kein Fisch bist; so kannst du die Fische nicht wissen.»
Tschuang-Tse antwortete: «Kehren wir zu deiner Frage zurück. Du fragtest
mich: ,Wie kannst du wissen, worin die Freude der Fische besteht?' Im Grunde
wußtest du, daß ich weiß, und fragtest doch. Gleichviel. Ich weiß es aus meiner
eignen Freude über dem Wasser.» -
(tschu)