timme  Nur höchst selten, gewöhnlich bloß des Abends oder bei anbrechendem Morgen oder auch, wenn sich das Faultier beunruhigt fühlt, vernimmt man seine Stimme. Sie ist nicht laut und besteht aus einem kläglichen, lang ausgehaltenen, feinen, hohen und schneidenden Tone, der von einigen mit einer oftmaligen Wiederholung des Lautes »i« wiedergegeben wird. Die neueren Beobachter haben niemals von einem Faultiere Töne vernommen, die Doppellauten gleichen, oder gar, wie frühere Beobachter ebenfalls behaupten, in einer auf- und absteigenden Tonleiter sich bewegen. Bei Tage hört man von dem Faultiere höchstens tiefe Seufzer; auf dem Boden schreit es nicht, selbst wenn es gereizt wird.  - Aus: Brehms Tierleben 1912, nach (str)

Stimme (2) Auf dem Gebirge nordwärts saßen neun Jungfrauen in schwarzen Kleidern. Die hatten jede ein scharfes, langes Schwert in der Hand, es an großen, uralten Steinen wetzend, die vor ihnen lagen. Dabei waren sie ganz still und emsig an der Arbeit, bis endlich die erste zur fünften sagte: »Wer ist denn der beste im Pferch?« - Darauf antwortete die fünfte der ersten: »Das goldne Hirschelein rot und blank.«

- »Wollen's einhegen, wollen's einhegen!« murmelte die sechste.

- »Wollen hegen, fest hegen, und schließen den ganzen Pferch!« riefen die vierte und achte und schlugen dazu mit den geschliffenen Klingen das Maß. - Aber die zweite fing an zu ächzen, und die dritte schüttelte den Kopf, und die neunte schrie immer darein: »Anfang hat funden das End, Anfang hat funden das End!« Da huben sie endlich alle einen wunderlichen Gesang an, der ungefähr folgendermaßen klang:

»O du sehr reiche Saat,
Der Sämann wird nun arm!
Des zuckt dem Sämann Zorn
Durch zitterndes Gebein.
Er flucht dem Flutgeroll,
Dem feuchten Wolkentau,
Pflückt, pflückt die beste Blume,
Birgt sie im modernden Haus.«

Die Ure bebten in ihren Klüften vor dem Liede, die Adler schwangen sich ängstlich kreischend weit nach der Ebene fort, und Wandrer, welche die seltsamen Stimmen vernommen hatten, kamen wahnsinnig nach ihren Herbergen.  - Friedrich de la Motte Fouqué, Die eifernden Göttinnen. München 1977. In: Ders., Romantische Erzählungen (zuerst 1818)

Stimme (3)  Sie schien zu lauschen ... Raoul lauschte auch ... Woher kam dieses merkwürdige Geräusch, dieser ferne Rhythmus? Gedämpfter Gesang schien aus den Wänden zu kommen. Ja, man hätte meinen können, daß die Wände sangen. Das Lied wurde deutlicher, der Text verständlicher, man erkannte eine Stimme, eine sehr schöne, weiche, fesselnde Stimme, aber sie blieb trotz ihrer Weichheit männlich, so daß man annehmen durfte, daß sie keiner Frau gehörte. Die Stimme kam immer näher, sie drang durch die Wand, sie war da, die Stimme befand sich Jetzt in Christines Garderobe. Christine stand auf und sprach mit der Stimme so wie mit jemandem neben ihr.

»Ich bin fertig, Erik«, sagte sie. »Sie haben sich verspätet, mein Freund.«

Raoul, der vorsichtig hinter dem Vorhang vorlugte, traute seinen Augen nicht, denn außer Christine sah er niemanden.

Christines Gesicht klärte sich auf. Ein Lächeln legte sich auf ihre blutleeren Lippen, das Lächeln Genesender, wenn sie wieder Hoffnung schöpfen, daß ihre Krankheit sie nicht hinraffen wird.

Die körperlose Stimme begann wieder zu singen, und Raoul hatte so etwas noch nie gehört: eine Stimme, die alle Extreme in sich vereinigte, in einem Atemzug heroisch-weich, siegreich-nachgiebig, kraftvoll-zart, kurzum unwiderstehlich und triumphierend war. Es gab tragende Grundtöne, deren Anhören allein schon in Sterblichen, die Musik lieben und nachempfinden, verwandte Saiten zum Schwingen bringen mußte. Es gab eine reine und stille Quelle der Harmonie, aus der Gläubige mit der frommen Gewißheit trinken durften, daß die Gnade der Musik ihnen zuteil und daß ihre Kunst durch die göttliche Berührung plötzlich verwandelt wurde. Raoul lauschte dieser Stimme mit wachsender Erregung, und es dämmerte ihm allmählich, wieso Christine Daae eines Abends, zweifellos noch unter dem Einfluß ihres mysteriösen und unsichtbaren Lehrers, durch Klänge von ungekannter Schönheit, übermenschlicher Exaltation das Publikum in Entzücken versetzen konnte! Er begriff nun diesen Vorgang um so besser, als diese Stimme keineswegs etwas Außergewöhnliches sang: sie machte einfach aus nichts alles. Der banale Text und die abgedroschene Melodie wurden schön durch den Atem, der sie auf den Flügeln der Leidenschaft bis in den Himmel erhob. Denn diese Engelsstimme verherrlichte einen heidnischen Gesang: »Die Brautnacht« aus Roméo et Juliette.  - Gaston Leroux, Das Phantom der Oper. München 1969 (Hanser Bibliotheca Dracula, zuerst 1910)

Stimme (4) Ich habe geforscht in der Dunkelheit, ich schwieg in der großen Stille des Dunkels. So wurde ich ein angacoq, durch Visionen und Träume und Begegnungen mit fliegenden Geistern. In den Tagen unserer Ahnen waren die angacoqs einsame Männer; jetzt aber sind sie alle Priester oder Doktoren, Wetterpropheten oder Zauberer, die Wild hervorbringen, oder kluge Kaufleute, die ihre Gewandtheit für Geld verkaufen. Die Alten weihten ihr Leben der Aufgabe, die Welt im Gleichgewicht zu halten, sie weihten es großen Dingen, unermeßlichen, ungeheuren Dingen.

Auf die folgende Frage, ob er an eine dieser Mächte glaube, antwortet der Eskimo: Ja, an eine Macht, die wir sila nennen, die man nicht mit einfachen Worten erklären kann. Ein großer Geist, der die Welt erhält und das Wetter und alles Leben auf Erden, ein Geist, so mächtig, daß er sich der Menschheit gegenüber nicht in gewöhnlicher Sprache äußert, sondern im Sturm und Schnee und Regen und im Toben der See; durch all die Naturkräfte, die die Menschen fürchten. Er kann sich aber noch auf andere Weise äußern, im Sonnenschein und in der Meeresstille und im unschuldigen Spiel kleiner Kinder, die selber davon nichts verstehen. Die Kinder hören eine sanfte, freundliche Stimme, fast wie von einer Frau. Sie kommt zu ihnen geheimnisvoll, aber so sanft, daß sie keine Angst haben; sie fürchten sich nur vor einer drohenden Gefahr. Und die Kinder erwähnen es wie etwas Beiläufiges, wenn sie heimkommen.    - Hans-Jürg Braun, Das Jenseits - Die Vorstellungen der Menschheit über das Leben nach dem Tod. Frankfurt am Main 2000 (it 2616, zuerst 1996)

Stimme (5)   Einst, vorzeiten, war sie auf einer Straße in Paris oder in Palermo an einer ähnlichen, wie auf ewig verlotterten Ungestalt vorbeigegangen und hatte aus dem vermeintlich abgetanen, längst jeder Menschenähnlichkeit verlustigen Elendshaufen eine Stimme herauszittern gehört, Gott, was für eine Stimme! Und in Gedanken war sie, war man damals vor jener zagen und erbarmungswürdigen und wie aber lebendigen Stimme - der Stimme eines Lebendigen, wenn je eine - auf die Knie gefallen - und in Wirklichkeit? war man stehengeblieben und hatte weiter und weiter der Stimme gelauscht, mit dem Rücken zu ihr, und war sich sicher, der andere hatte das Bewußtsein, mit seiner Stimme einmal durchzudringen, und wenn auch nur irgendwohin. Woher sie sich sicher war? Sie, man, schmeckte es. -  Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002

Stimme (6) Schlief ich oder wachte ich? Ich kann es dir nicht sagen. Aber dies weiß ich: als ich zufällig aufblickte, sah ich, daß das Licht des Mondes auf ihn fiel, der dort in seiner Felsnische saß. Es war ein rotes Licht, und er schien in dem Licht zu leuchten wie etwas Fauliges. Ich sah, oder glaubte zu sehen, daß der herabhängende Kiefer sich bewegte, und aus dem Mund drang eine Stimme, die hart und hohl klang, wie die Stimme eines Menschen, dessen Kehle vor Durst vertrocknet ist.

»Heil dir, Galazi, Sohn Siguyanas« sagte die Stimme. ›Galazi, der Wolf! Sage, was tust du hier, auf dem Geisterberg, auf dem die Stein-Hexe für immer sitzt und auf den Untergang der Welt wartet?‹

Dann,  antwortete ich, oder glaubte zu antworten, und auch meine Stimme klang fremd und hohl.

›Heil dir. Toter, der du dort sitzt wie ein Geier auf einem Felsen! Dies tue ich auf dem Geisterberg. Ich bin gekommen, um deine Knochen zu suchen und sie deiner Mutter zu bringen, damit sie sie begraben kann.‹

»Viele, viele Jahre habe ich hier oben gesessen, Galazi‹, antwortete die Stimme, ›und habe zugesehen, wie die Geister-Wölfe immer wieder emporsprangen, um mich herabzuzerren, bis der Fels unter ihren Pfoten glatt geworden war. So habe ich Tag für Tag und Nacht für Nacht hier gesessen, sieben Tage und sieben Nächte lang, als ich noch lebte, die hungrigen Wölfe unter mir und den Hunger in mir. Und so habe ich Jahr um Jahr hier gesessen, ein Toter im Herzen der Stein-Hexe, und sah die Sonne, den Mond und die Sterne, und hörte das Heulen der Geisterwölfe, die zu meinen Füßen tobten, und lernte die Weisheit der alten Hexe, die über mir sitzt, aus ewigem Stein geformt. Meine Mutter war jung und schön, als ich durch den verhexten Wald zog und die Knie aus Stein erklomm. Wie ist sie jetzt, Galazi?‹

›Sie ist weiß und faltig und sehr alt, antwortete ich. ›Sie sagen, daß sie verrückt sei, doch auf ihren Wunsch bin ich hergekommen, um dich zu suchen. Toter, und ich habe den Wächter der Furten bei mir, der deinem Vater gehört hat, und der nun mir gehören soll.‹

›Er soll dir gehören, Galazi‹, sagte die Stimme, ›denn du allein hast es gewagt, den Geistern entgegenzutreten, um mir Schlaf und ein Grab zu geben. Höre, dir soll auch die Weisheit der alten Hexe gehören, die für immer dort oben sitzt - dir und keinem anderen. Dies sind keine Wölfe, die du erschlagen hast; nein, es sind Geister - böse Geister von Menschen, die in einer vergangenen Zeit lebten, und die jetzt weiterleben müssen, bis sie von Menschen getötet werden. Und weißt du, Galazi, wie sie gelebt haben, und was für Nahrung sie gegessen haben? Wenn das licht zurückkehrt, Galazi, klettere auf die Brüste der Stein-Hexe und blicke in die Kluft zwischen den Brüsten. Dort wirst du sehen, wie diese Menschen gelebt haben. Und deshalb sind sie jetzt dazu verdammt, hager und hungrig in der Gestalt von Wölfen umherzuschleichen, in Wald und Fels des Geisterberges, wo sie einst ihre scheußlichen Mahle verzehrten, bis sie eines Tages durch die Hand von Menschen sterben. Und wegen des nagenden Hungers in ihren Eingeweiden sind sie Jahr um Jahr nach mir gesprungen, um meine Knochen herabzureißen; und der, den du erschlagen hast, war ihr König, und sie, die an seiner Seite war, die Königin.

Nun, Galazi, der Wolf, dies ist die Wahrheit, die ich dir geben will: du sollst der König der Geisterwölfe sein, du und ein anderer, den dir eine Löwin bringen wird. Binde das schwarze Wolfsfell um deine Schultern, und die Wölfe werden dir gehorchen, alle dreihundert-und-sechzig-und-drei, die noch übrig sind, und lasse den, der dir von einer Löwin gebracht wird, das graue Fell umbinden. Wohin ihr beide geht, dorthin sollen die Wölfe euch folgen und euch Siege bringen, bis sie alle tot sein werden. Doch wisse dies: daß sie nur dort sein können, wo sie im Leben waren und ihre Nahrung erbeutet haben. Doch es war ein böses Geschenk, das du von meiner Mutter angenommen hast - der Wächter; denn obwohl du ohne den Wächter nicht den König der Geisterwölfe erschlagen hättest, wirst du als Träger des Wächters dereinst selbst getötet werden. Nun, wenn der Morgen kommt, trage mich zurück zu meiner Mutter, damit ich dort schlafen kann, wo keine Geisterwölfe springen. Ich habe gesprochen, Galazi.‹  - Henry Rider Haggard, Nada die Lilie. München 1980 (zuerst 1892)

Stimme (7)  Diese Stimme — eine Stimme von boshafter Sanftheit, die an einen unzüchtigen Mesner denken ließ, der Unkeusches vor sich hinflüsterte.

Er hatte zum Beispiel eine Manier, das Wort «Geld» auszusprechen, die den Begriff dieses Metalls, ja sogar seines symbolischen Wertes aufhob.

Man vernahm so etwas wie Gal oder Gul, je nachdem. Oft hörte man auch überhaupt nichts. Das Wort verflüchtigte sich.  - Léon Bloy, Unliebsame Geschichten. Stuttgart 1983. (Die Bibliothek von Babel, Bd. 4, Hg. J. L. Borges)

Stimme (8)  Es ist aber die Stimme eine Erschütterung der Luft (geschlagene Luft) oder die dem Gehör eigentümlich zukommende Wahrnehmung, wie Diogenes von Babylon in seiner technischen Anweisung über die Stimme sagt. Die Stimme des Tieres ist eine durch den bloßen natürlichen Trieb hervorgebrachte Lufterschütterung; die Stimme des Menschen dagegen ist artikuliert (aus Buchstaben zusammengesetzt) und hat ihren Ausgangspunkt im Verstande, wie Diogenes sagt; sie erreicht mit dem vierzehnten fahre ihre Vollkommenheit. Auch ist nach den Stoikern die Stimme ein Körper, wie Archedemos sagt in seiner Schrift über die Stimme und Diogenes und Antipater und Chrysipp im zweiten Buch seiner Physik. Denn alles, was tätig wirkt, ist Körper; dies tut aber die Stimme, indem sie von dem, der sie von sich gibt, sich dem Hörenden mitteilt. Der Ausdruck ist nach den Stoikern, wie Diogenes sagt, eine aus Buchstaben zusammengesetzte Stimme, z. B. „Tag". Rede ist eine etwas behauptende Stimme, ausgehend vom Verstande, z. B. „es ist Tag". Dialekt aber ist eine volkstümlich und zugleich hellenisch bestimmte Ausdruckweise von bestimmter dialektischer Beschaffenheit, z. B. nach attischer Mundart Thalatta (Meer) und Hemere (Tag) nach ionischer Mundart.   - Stoiker, nach (diol)

Stimme (9)  Es war Schwachheit, zu fliegen, aber er flog. Und es war eine Schwäche des Blutes, unsichtbar zu sein, aber er war unsichtbar. Er überlegte, und gleichzeitig träumte er unüberlegt, kannte seine Schwäche und den Wahnsinn des Fliegens, aber hatte keine Kraft, dagegen anzukämpfen. Er flog wie ein Vogel über die Felder. Aber bald verschwand der Körper des Vogels, und er war eine fliegende Stimme. Ein offenes Fenster winkte ihm mit dem Wehen seines Vorhangs, wie eine Vogelscheuche mit ihrem zerfetzten Wehen einem klugen Vogel winkt, und zum offenen Fenster flog er hinein und setzte sich auf ein Bett zu einem schlafenden Mädchen.

»Wach auf, du Mädchen«, sagte er. »Ich bin dein Geliebter, der in der Nacht gekommen ist.«

Seine Stimme weckte sie auf.

»Wer hat mich gerufen?«

»Ich habe dich gerufen.«

»Wo bist du?«

»Ich bin auf dem Kissen neben deinem Kopf und spreche in dein Ohr.«

»Wer bist du?«

»Ich bin eine Stimme.«

»Dann hör auf, mir ins Ohr zu schreien und hüpf mir in die Hand, daß ich dich anrühren und kitzeln kann. Hüpf mir m die Hand, du Stimme.«

Er lag still und warm in ihrer Hand.

»Wo bist du?«

»Ich bin in deiner Hand.«

»In welcher Hand?«

»Die Hand auf deiner Brust, die linke. Mach keine Faust, sonst zerdrückst du mich. Kannst du mich nicht fühlen, warm in deiner Hand? Ich bin ganz nah an den Wurzeln deiner Finger.«

»Sprich zu mir.«

»Ich habe einen Körper gehabt, aber in Wirklichkeit war ich immer eine Stimme. Wie ich wirklich bin, so bin ich in der Nacht zu dir gekommen, eine Stimme auf deinem Kissen.«

»Ich weiß, was du bist! Du bist die stille, kleine Stimme, auf die ich nicht hören darf. Man hat mir gesagt, ich darf auf diese stille, kleine Stimme, die in der Nacht spricht, nicht hören. Es ist böse, auf sie zu hören. Du darfst nicht mehr herkommen. Du mußt weggehen.«

»Aber ich bin dein Geliebter!«

»Ich darf nicht hören«, sagte das Mädchen, und plötzlich ballte sie die Hand zur Faust.   - (echo)

Geräusch
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