ision  Das Nervensystem ist verletzlicher als die anderen Gewebe des Körpers. Folglich führt Vitaminmangel oft dazu, daß zunächst der Geisteszustand beeinträchtigt wird, bevor in merklicher Form Haut, Knochen, Schleimhäute, Muskeln und Eingeweide betroffen werden. Die erste Folge einer unzulänglichen Ernährung ist eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit des Gehirns als einer Grundvoraussetzung für biologisches Überleben. Der unterernährte Mensch ist für Sorgen, Niedergeschlagenheit, Hypochondrie und Angstgefühle früher anfällig. Er neigt zu Visionen, denn wenn die Wirksamkeit der zerebralen Reduktionsschleuse herabgesetzt wird, fließt viel (biologisch gesprochen) unnützes Material aus der Welt des totalen Bewußtseins ins individuelle Bewußtsein.

Viele Erlebnisse früherer Visionäre waren schreckenerregend. Um die Sprache der christlichen Theologie zu gebrauchen — der Teufel offenbarte sich in ihren Visionen und Ekstasen beträchtlich häufiger als Gott. In einem Zeitalter, in dem Vitaminmangel herrschte und der Glaube an den Satan weit verbreitet war, ist das nicht überraschend. - Aldous Huxley, Himmel und Hölle (Anhang, zuerst 1956)

Vision (2) Hier folge, teils zitiert, teils zusammengefaßt, Weir Mitchells Bericht über die visionäre Welt, in die er durch Peyote versetzt wurde, die Kakteenart, die die natürliche Quelle des Meskalins ist.

Bei seinem Eintritt in diese Welt sah er einen Schwarm von »Sternpunkten« und etwas, das aussah wie »Bruchstücke von buntem Glas«. Dann kamen »zarte, schwebende, dünne Scheiben von Farbe«. Diese wurden verdrängt von einem »jäh auftauchenden Schwall zahlloser weißer Lichtpunkte«, die durch sein Gesichtsfeld sausten. Das nächste waren Zickzacklinien sehr heller Farben, die sich irgendwie in schwellende Wolken von noch leuchtenderen Tönungen verwandelten. Nun tauchten Gebäude auf und dann Landschaften, unter anderem auch ein reichverzierter gotischer Turm mit verwitterten Statuen in den Türwölbungen und auf Steinkonsolen. »Während ich hinsah, bedeckten oder behängten sich jeder vorspringende Winkel und jeder Sims, ja sogar die Flächen der Steine, wo sie aneinanderstießen, allmählich mit Büscheln, die wie riesige Edelsteine aussahen, aber ungeschliffen waren und eher wie eine Fülle durchsichtiger Früchte wirkten ... Alle schienen sie ein inneres Licht zu besitzen.« Der gotische Turm wich einem Berg, einem Felsgipfel von unvorstellbarer Höhe, einer riesigen, aus Stein gehauenen und über den Abgrund ragenden Vogelklaue, wo sich ohne Ende farbige Behänge entfalteten und immer mehr Edelsteine sich bildeten. Zuletzt formten sich grüne und violette Wellen, die sich an einem Ufer »mit Myriaden von Lichtern in denselben Farbtönen brachen«.  - Aldous Huxley, Himmel und Hölle (Anhang, zuerst 1956)

Vision (3) «Ich will jetzt von Ihnen hören, was in der Zeit, nachdem Sie das Wasser bei der Taufe getrunken haben, bis zu Ihrer Festnahme mit dem blutbefleckten Messer passiert ist.»

«Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, wie der Geist durch meinen Körper kroch, nachdem ich das von Sweet Prophet gesegnete Wasser getrunken hab, und darm hatte ich Visionen —»
«Was für Visionen?» unterbrach er sie mit wachsendem Interesse.
«Himmlische Visionen», antwortete sie.
Sein Interesse schwand.

«Die Luft sah aus wie voll von Sternen und Blasen, und dann schien ich zu versinken, und rings um mich waren die Gesichter von Engeln», fuhr sie fort.
«Was für Engel?»

«Farbige Engel. Sie sahen wie ganz gewöhnliche Leute aus, aber ich wußte, daß es Engel sind. Ich dachte, ich würde sterben und sofort in den Himmel kommen. Ich war so glücklich!» erklärte sie.

«Der Prophet sagte, Sie wären in eine religiöse Trance verfallen», informierte er sie. «Glauben Sie das?»

«Er ist ein Prophet, er muß es wissen», antwortete sie. Dann begriff sie plötzlich, was er gesagt hatte. «Oh, haben Sie religiöse Trance gesagt?» Der Ausdruck mürrischer Erschöpfung fiel plötzlich von ihr ab, und ihr glattes, dunkles, unreifes Gesicht leuchtete auf. «Eine religiöse Trance?» wiederholte sie verwundert. «Ich, Alberta Peavine Wright? Ich hatte eine religiöse Trance? Was sagt man nur dazu?»

«Ich weiß darüber nur das, was hier im Bericht steht», stellte er nüchtern fest und fragte dann unvermittelt: «Wie hat denn das Wasser geschmeckt?»

«Wie es geschmeckt hat?» wiederholte sie. «Wie heiliges Wasser eben schmeckt.»

«Und wie schmeckt heiliges Wasser? Ich habe noch nie welches getrunken.»

«Es schmeckt eben so wie Wasser, das heilig gemacht worden ist», erwiderte sie. «Was soll ich Ihnen sonst noch sagen?»
«Ich will nur, daß Sie mir die Wahrheit sagen.»
«Also, das ist die Wahrheit
«Daß Sie von dem Wasser tranken und in eine religiöse Trance fielen?»

«Ja, Sir.» Nicht das geringste Anzeichen eines Zweifels zeigte sich auf ihrem Gesicht. «Ist das nicht eine große Gnade für mich?» begeisterte sie sich plötzlich. «Ich werd nach Hause an Ma schreiben, damit sie es Reverend Tree erzählen kann. Der macht sich immer so große Sorgen, daß wir hier oben in Harlem in Sünde leben.» - Aus: Chester Himes, Der Traum vom großen Geld. Reinbek 1969 (rororo thriller 2169, zuerst 1960)

Vision (4)  Dabei steigt meine Seele, so wie es Gott will, hinauf in die Höhe des Firmamentes und in die wechselnden Schichten des Äthers, sie breitet sich aus /wischen den verschiedenen Völkern, wenn sie auch in weit entlegenen Ländern, fern von mir sind. Und weil ich das also in meiner Seele sehe, schaue ich sie wie den Wechsel der Wolken und anderer Geschöpfe. Ich vernehme dies jedoch nicht mit den leiblichen Ohren, ersinne es nicht in den Gedanken meines Herzens und nehme es nicht durch einen der fünf Sinne auf; ich schaue all das nur in meiner Seele mit offenen Augen wachend während des Tages und der Nacht, ohne jemals ein Ekstase erlitten zu haben. Fortwährend bedrängen mich Krankheiten, und vielfach bin ich so von schweren Schmerzen umklammert, daß sie mir den Tod zu bringen drohen, doch hat mich Gott bis nun zum Leben erweckt. - (bin)

Vision (5) Der lebhafte und sehnsüchtige Gedanke eines Andern an uns vermag die Vision seiner Gestalt in unserm Gehirn zu erregen, nicht als bloßes Phantasma, sondern so, daß sie, leibhaftig und von der Wirklichkeit ununterscheidbar, vor uns steht. Namentlich sind es Sterbende, die dieses Vermögen äußern und daher in der Stunde ihres Todes ihren abwesenden Freunden erscheinen, sogar mehreren, an verschiedenen Orten, zugleich. Der Fall ist so oft und von so verschiedenen Seiten erzählt und beglaubigt worden, daß ich ihn unbedenklich als thatsächlich begründet nehme. Ein sehr artiges und von distinguirten Personen vertretenes Beispiel findet man in Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde, § 198. Zwei besonders frappante Fälle sind ferner die Geschichte der Frau Kahlow, im oben erwähnten Buch von Wenzel, und die vom Hofprediger, im ebenfalls erwähnten Buche von Hennings, S. 329.

Als ein ganz neuer mag hier folgender stehn: Vor Kurzem starb, hier in Frankfurt, im jüdischen Hospitale, bei Nacht, eine kranke Magd. Am folgenden Morgen ganz früh trafen ihre Schwester und ihre Nichte, von denen die Eine hier, die Andere eine Meile von hier wohnt, bei der Herrschaft derselben ein, um nach ihr zu fragen, weil sie ihnen beiden in der Nacht erschienen war. Der Hospitalaufseher, auf dessen Bericht diese Thatsache beruht, versicherte, daß solche Fälle öfter vorkämen. Daß eine hellsehende Somnambule, die während ihres am höchsten gesteigerten Hellsehns allemal in eine, dem Scheintode ähnliche Katalepsie verfiel, ihrer Freundin leibhaftig erschienen sei, berichtet die schon erwähnte »Geschichte der Auguste Müller in Karlsruhe«, und wird nacherzählt in Kiesers Archiv, III, 3, S. 118. Eine andere absichtliche Erscheinung der selben Person, wird, aus vollkommen glaubwürdiger Quelle, mitgetheilt in Kiesers Archiv, VI, 1, S. 34. - Viel seltener hingegen ist es, daß Menschen, bei voller Gesundheit, diese Wirkung hervorzubringen vermögen. - (schop)

Vision (6)   Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschentums: daß man der Vision — das heißt einer tiefen geistigen Störung! — fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision fähig zu machen! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte; „sie haben Dinge gesehen, die andere nicht sehen", — gewiß! und dies sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig! - (mo)

Vision (7)  Während er in der Schlange wartet, betrachtet Herr Palomar sinnend die Schmalzgläser. In seinen Erinnerungen sucht er nach einem Ort für das Cassoulet, ein Schweinegeschmortes mit weißen Bohnen, für welches das Gänseschmalz unentbehrlich ist, doch weder die Gaumenerinnerung noch das Kulturgedächtnis helfen ihm weiter. Dennoch fühlt er sich von dem Namen, dem Bild und der Vorstellung angezogen, sie wecken in ihm eine plötzliche Phantasterei nicht so sehr der Freßlust als der Erotik: Aus einem Berg von Gänseschmalz erhebt sich eine Frauengestalt, bestreicht sich die rosa Haut mit schimmerndem Fett, und schon sieht er sich ihr entgegeneilen, mitten durch jene dichten Massen hindurch, und sie umarmen und mit ihr versinken.

Er verscheucht den unziemlichen Gedanken und blickt zur Decke hinauf, an der Salamiwürste als Weihnachtsgirlanden hängen wie Früchte an den Zweigen der Schlaraffenlandbäume. - (calv)

Vision (8)  Watt lag auf der Bank, auf dem Rücken, mit dem Kopf auf den Taschen und dem Hut auf dem Gesicht. Auf diese Weise war er gewissermaßen gefeit gegen den Mondschein und die geringeren Schönheiten dieser prächtigen Nacht. Das Problem der Vision ließ, soweit es Watt betraf, nur eine Lösung zu: Augen auf im Dunkeln. Die bei geschlossenen Augen erzielten Ergebnisse waren, Watts Meinung nach, höchst unbefriedigend. Watt nahm sich zuerst den Eilzug vor, der so bald schon mit unwiderstehlichem Schwung durch die schlafende Bahnstation donnern würde. Auf ihn konzentrierte sich seine ganze Aufmerksamkeit. Schließlich und unvermittelt, ebenso unvermittelt, wie er begonnen hatte, hörte er auf zu denken.

Er lag also auf der Bank, gedankenlos und empfindungslos bis auf ein gelindes Gefühl der Kühle in einem Fuß. Die Stimmen, die in seinem Schädel ihren Kanon wisperten, waren wie ein Getrippel von Mäusen, ein Wirbel grauer Pfötchen im Staub. Dies war sehr wahrscheinlich auch eine Empfindung, genaugenommen.   - (wat)

Vision (9) LIPS : Was mir außerdem is, das kannst du gar nicht beurteilen. Nicht wahr, du hast noch niemand umgebracht?

KATHI: Was fallt Ihnen nicht noch ein! LIPS : Na wenn sich zürn Beispiel einer aus Lieb zu dir was angetan hätt', wärst du seine indirekte Mörderin. KATHI :GottseiDank,soeinegrimmigeSchönheitbinichnicht.

LIPS: O Kathi! Du weißt gar nicht, was du für eine liebe Kathi bist! umfaßt sie.

KATHI: O gehn S' doch -

LIPS: Daß ich dir also sag', ich hab' Visionen.

KATHI: Die Krankheit kennen wir nicht auf'n Land.

LIPS: Das sind Fantasiegespinste in den Hohlgängen des Gehirns erzeugt, die manchmal heraustreten aus uns, sich krampusartig aufstellen auf dem Niklomarkt der Einsamkeit - erloschene Augen rollen, leblose Zähne fletschen, und mit drohender Knochenhand aufreiben zu modrigen Grabesohrfeigen - das is Vision.    

KATHI: Nein, was die Stadtleut für Zustand' haben -

 LIPS: Wenn's finster wird, seh' ich weiße Gestalten -

KATHI: Wie is das möglich? Bei der Nacht sind ja alle Küh' schwarz.

LIPS: Und 's is eigentlich eine Ochserei von mir, hab' ich ihn denn absichtlich ertränkt? Nein! und doch allweil der schneeweiße Schlossergeist. - Du machst dir keine Vorstellung, wie schauerlich ein weißer Schlosser is.

KATHI: So was müssen S' Ihnen aus'n Sinn schlagen.

LIPS: Selbst diese Milch erinnert mich - wenn s' nur a bisserl kaffeebraun war3 - aber weiß is mein Abscheu. Stoßt die Milchschüssel von sich, daß einiges davon auf den Tisch herausläuft.  - Johann Nestroy, Der Zerrissene In: J. N., Werke, Hg. O. M. Fontana. Darmstadt 1968 (zuerst 1845)


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