rücke
Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem
Abgrund lag ich. Diesseits waren die
Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt,
in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines
Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte
der eisige Forellenbach. Kein Tourist verirrte sich zu dieser
unwegsamen Höhe, die Brücke war in den Karten noch nicht eingezeichnet.
— So lag ich und wartete; ich mußte warten.
Ohne einzustürzen kann keine einmal errichtete Brücke aufhören,
Brücke zu sein.
- (
kaf
)
Brücke (2) Die größte Hoffnung,
die, sage ich, die alle anderen in sich enthält, ist, daß dies
für alle sei und daß dies daure für alle. Daß die unbedingte
Hingabe eines Menschen an einen anderen,
die ohne dessen ebenso unbedingte Gegengabe nicht möglich ist,
in aller Augen der einzige natürliche und übernatürliche Steg
sei, der über das Leben hinwegführt. - André Breton, L'Amour
fou. Frankfurt am Main 1985 (BS 435, zuerst 1937)
Brücke (3) Grettir
hat wohl manches Mal in seinem Leben an dieser Grenze gestanden,
wo die Brücke der Entwürdigung zu überschreiten war (man hat
da ein schlimmes Wort gefunden), um den Leidenden in einer Sache
Recht zu geben, die garnicht als Recht zu beanspruchen ist, -
und an dieser Grenze war er umgekehrt. Drängt ihn die Notwendigkeit zu
diesem Schritt, so geht er auch nur bis an jene Grenze, von der
aus man sich seine Situation genau vorstellen kann, und dann
kehrt er um. Nichts ist so wichtig, als seine innere Unberührtheit
zu bewahren, so wird in solchen Augenblicken gefühlt, aber man
kann nicht zuviel von dieser Reinheit
halten, denn der Mensch wird nur etwas durch seine Verbindungen
mit Erlebnissen und mit Andren. Grettir aber wird diesen Weg
nicht gehen und wenn er hungern müßte, so wäre das nicht so arg.
In irgendwelchen unberechenbaren Augenblicken
aber ist es für ihn ein Nichts, von Menschen etwas zu erbitten,
- dann fühlt er sich ebenfalls ungewöhnlich groß, - das ist nicht
zu bestreiten, und das Wenige an Güte, das er von seiner Kraft
abnimmt, um damit irgendeine kleine Hilfe zu erbitten, reicht
meistens aus, das zu erlangen, was er gewollt hat. Er ist ja
auch ein großer Herr, bittet um ein Stück Brot, - Jeder findet,
daß es eine große Gnade ist, so gebeten zu werden. -
Ernst Fuhrmann, Der Geächtete. Berlin 1983 (zuerst 1930)
Brücke (4) Man gibt
dem Toten ein Pferd,
ebenso eine angemessene Ausrüstung. Bevor der Verstorbene an
den Fluß kommt, den er zu überschreiten hat, treten ihm Wächter
entgegen; er muß ihnen Hirsekuchen schenken, um weiterziehen
zu dürfen. Über den Fluß selbst führt statt einer Brücke nur
ein Balken, vor dem eine göttliche Gestalt steht, die ihn zu
befragen beginnt. Nachdem sich herausgestellt hat, daß der Tote
diesem göttlichen Wesen die Wahrheit gesagt und also die Probe
bestanden hat, läßt er ihn hinüberziehen und vermittelt ihm einen
Führer, um ihn so in das Land der Narten zu geleiten. Hat der
Verstorbene diese Erlaubnis erhalten, tritt er sofort auf den
Steg, der unter ihm zu schwanken beginnt und einzustürzen droht.
War der Verstorbene ein guter Mann und reitet er kühn drauflos,
so wird der Steg immer breiter und fester. Er gestaltet sich
schließlich zu einer ordentlichen großen Brücke. - Hans-Jürg
Braun, Das Jenseits - Die Vorstellungen der Menschheit über das
Leben nach dem Tod. Frankfurt am Main 2000 (it 2616, zuerst 1996)
Brücke (5) Die früheste
Erinnerung, die ich habe, ist die an
die Kälte, den Schnee und das Eis im
Rinnstein, den Reif an den Fensterscheiben, den frostigen Hauch
der feuchten, grünen Küchenwände. Warum leben Menschen in fremdartigen
Klimata, in den sogenannten gemäßigten Zonen, wie sie fälschlich
bezeichnet werden? Weil die Menschen von Natur Dummköpfe, Faulpelze
und Feiglinge sind. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wurde mir
nie bewußt, daß es <warme> Länder gab, Orte, wo man nicht
für seinen Lebensunterhalt schuften, auch nicht frieren und vorgeben
mußte, das sei gesund und erhalte frisch. Überall, wo es kalt
ist, gibt es Menschen, die sich schinden, und wenn sie Kinder
in die Welt setzen, predigen sie den Kindern das Evangelium der
Arbeit - das im Grunde nichts anderes ist als die Lehre von der
Trägheit. Meine Leute waren alle nordischer Abkunft, mit anderen
Worten: Idioten. Allen Blödsinn, der je verkündet wurde, machten
sie sich zu eigen. Darunter die Lehre von der Sauberkeit, von
der Rechtschaffenheit ganz zu schweigen. Sie waren peinlich sauber.
Aber innen stanken sie. Kein einziges Mal hatten sie die Tür
zur Seele aufgetan. Kein einziges Mal fiel es ihnen ein, blindlings
einen Sprung ins Dunkle zu tun. Nach
Tisch wurden die Teller prompt abgespült und in den Geschirrschrank
gestellt; war die Zeitung gelesen, wurde sie sauber gefaltet
und auf ein Regal gelegt; war die Wäsche gewaschen, wurde sie
gebügelt, gefaltet und in die Schubladen
verstaut. Immer dachte man an morgen, aber das Morgen kam nie.
Die Gegenwart war nur eine Brücke,
und auf dieser Brücke stöhnen sie noch, so wie die ganze Welt
stöhnt, und keiner dieser Dummköpfe kommt
darauf, die Brücke in die Luft zu sprengen. - (wendek)
Brücke (6) Er berichtete mir flüsternd, daß er unterwegs, ehe er völlig in den Nebel geriet, am andern Ufer des Flusses eine ganze Menge Gestalten gesehen habe. Auch Frauen wären darunter gewesen. Voller Begierde, mit ihnen zu sprechen, habe er eine Brücke gesucht. Es wäre auch eine dagewesen. »Weiß der Himmel, wie sie dahinkam. Früher war sie nicht da und gehörte auch gar nicht hin. Ich beschritt sie vorsichtig. Ja, sie hielt, es war wirklich eine Brücke. Doch als ich zur Hälfte hinüber war, bemerkten mich diese dummen Wesen und liefen schreiend über eine Wiese davon.«
»Warum bist du nicht hinterher gelaufen?« fragte ich.
»Das will ich dir sagen, mein Lieber. Mit der Brücke schien mir plötzlich
nicht mehr alles in Ordnung zu sein. Und so war es auch. Ob du es nun glaubst
oder nicht, die zweite Hälfte fehlte und ich wäre beinahe in den Fluß gefallen.
Warum man sie wohl nicht fertig gebaut hatte? Und überhaupt, wie schwebte
denn die eine Hälfte dieser Brücke in der Luft?« - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht
eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)
Brücke (7) Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muß und ohne zu trennen
nicht verbinden kann - darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst
geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und
ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluß seines
Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, daß er aus der ununterbrochenen Einheit des
natürlichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Unendlichkeit des Seins
erst an seiner Fähigkeit der Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine
Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür
versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die
Freiheit hinauszutreten. - Georg Simmel: Brücke und Tür (1909)
Brücke (8) «Du, hast du das vorhin ganz verstanden?»
«Was?»
«Die Geschchte mit den imaginären Zahlen?»
«Ja. Das ist doch gar nicht so sdiwer. Man muß nur festhalten, daß die Quadratwurzel aus negativ Eins die Redmungseinheit ist.»
«Das ist es aber gerade. Die gibt es doch gar nicht. Jede Zahl, ob sie nun positiv ist oder negativ, gibt zum Quadrat erhoben etwas Positives. Es kann daher gar keine wirklidie Zahl geben, welche die Quadratwurzel von etwas Negativem wäre.»
«Ganz recht; aber warum sollte man nicht trotzdem versuchen, auch bei einer negativen Zahl die Operation des Quadratwurzelziehens anzuwenden? Natürlich kann dies dann keinen wirklichen Wert ergeben, und man nennt doch auch deswegen das Resultat nur ein imaginäres. Es ist so, wie wenn man sagen würde: hier saß sonst immer jemand, stellen wir ihm also auch heute einen Stuhl hin; und selbst, wenn er inzwischen gestorben wäre, so tun wir doch, als ob er käme.»
«Wie kann man aber, wenn man bestimmt, ganz mathematisch bestimmt weiß, daß es unmöglich ist?»
«So tut man eben trotzdem, als ob dem nicht so wäre. Es wird 'wohl irgendeinen Erfolg haben. Was ist es denn schließlich anderes mit den irrationalen Zahlen? Eine Division, die nie zu Ende kommt, ein Bruch, dessen Wert nie und nie und nie herauskommt, wenn du auch noch so lange rechnest? Und was kannst du dir darunter denken, daß sich parallele Linien im Unendlichen schneiden sollen? Ich glaube, wenn man allzu gewissenhaft wäre, so gäbe es keine Mathematik.»
«Darin hast du recht. Wenn man es sich so vorstellt, ist es eigenartig genug. Aber das Merkwürdige ist ja gerade, daß man trotzdem mit solchen imaginären oder sonstwie unmöglichen Werten ganz wirklich rechnen kann und zum Schlusse ein greifbares Resultat vorhanden ist!»
«Nun, die imaginären Faktoren müssen sich zu diesem Zwecke im Laufe der Rechnung gegenseitig aufheben.»
«Ja, ja; alles, was du sagst, weiß ich auch. Aber bleibt nicht trotzdem etwas
ganz Sonderbares an der Sache haften? Wie soll ich das ausdrücken? Denk doch
nur einmal so daran: In solch einer Rechnung sind
am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte
oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche
Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hängen
miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt. Ist das nicht wie eine
Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch
so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde? Für mich hat so eine Rechnung
etwas Schwindliges; als ob es ein Stück des Weges weiß Gott wohin ginge. Das
eigentlich Unheimliche ist mir aber die Kraft, die in
solch einer Rechnung steckt und einen so festhält, daß man doch wieder richtig
landet.» - Robert Musil,
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Reinbek bei Hamburg 1965 (zuerst 1906)
Brücke (9)
Durch bloßen Zufall, wie sich oft begeben, Der Graf, gejagt von seiner Tollheit Sturme, Die Brück' ist nur bestimmt den Herrn und Rittern, Um übern Steg zu gehen, kommt indessen Als Fleurdelys nunmehr sich naht der Brücke Still hält sie, um zu sehn, wie sich entscheide Wie's eben besser scheint, packt jetzt die eine, Graf Roland nun, dem der Verstand entsprungen - Das Wasser trennt alsbald die beiden Streiter. |
- (
rol
)
Brücke (10) Schon im Zoroastrismus
ist von einem Endgericht
und von einem Feuerbad die Rede, das von den guten Menschen wie Milch
und Honig empfunden wird, aber von den schlechten Menschen wie heißes
Metall. Die Seele hielt sich für drei Tage in der Nähe der Toten auf
und wurde dann über eine Brücke von drei Göttern zur Chinvat-Brücke am Gipfel des Berges Alburz
gebracht. An der Brücke lauerten verschiedene Dämonen, unter ihnen
Indra und Mithras. Gemeinsam mit Sraosha begutachteten sie die Waage,
die die Taten der Toten wog. Die Guten konnten über einen breiten
Lichtpfad in den Himmel gelangen, während die Bösen in eine
Übergangszone kamen. Sie wurden in einen Abgrund geworfen und dort von
Dämonen in die Hölle gehetzt, ein dunkles, überfülltes zeitloses Reich
mit fauligem Gestank. -
wikipedia
Brücke (11) Es
träumte einer, er sei zu einer Brücke geworden. Der Betreffende wurde Fährmann;
denn als solcher erfüllte er denselben Zweck wie eine Brücke. So lautet der
Fall, den Phoibos berichtet; andererseits wurde ein Reicher, dem es träumte,
er sei zu einer Brücke geworden, von der großen Menge verachtet und gewissermaßen
mit Füßen getreten. Angenommen, eine Frau oder ein hübscher junger Mann sähen
dieses Traumgesicht, so werden beide sich der lockeren Zunft verschreiben und
viele über sich gehen lassen. Und ein Prozessierender wird nach diesem Traumerlebnis
seine Feinde und selbst den Richter übertrumpfen; denn ein Fluß gleicht dem
Richter, weil er, ohne Rechenschaft schuldig zu sein, seinen Willen durchsetzt,
die Brücke aber schwebt hoch über dem Fluß. -
(
art
)
-
Piranesi
Brücke (13) Die Höhle, die wir durchschritten hatten, endete in einem höchst merkwürdigen riesigen Felsvorsprung, der etwa fünfzig Fuß weit in die Schlucht hineinragte und dessen Form dem Sporn am Fuße eines Hahnes ähnelte. Dieser ungeheure Sporn war nur an seiner Basis mit dem Felsgestein verbunden, ansonsten jedoch ohne jede Stütze.
»Hier müssen wir hinüber«, sagte Ayescha. »Seht euch vor, daß ihr nicht schwindlig werdet oder der Sturm euch in die Schlucht hinabreißt, denn sie ist wahrlich bodenlos«, und ohne uns länger Zeit zu furchtsamen Überlegungen zu lassen, stieg sie den Sporn hinan, und wir folgten ihr, so gut wir konnten. Ich ging hinter ihr, dann folgte Job, mühsam seine Planke schleppend, und Leo bildete die Nachhut. Es war wunderbar anzusehen, wie diese unerschrockene Frau ohne Zagen den gefährlichen Weg erklomm. Ich selbst sah mich nach wenigen Schritten infolge des starken Luftzuges und aus Furcht vor einem Fehltritt veranlaßt, mich auf Hände und Knie niederzulassen und weiterzukriechen, und die beiden anderen taten es mir nach.
Ayescha hingegen schritt, ihren Körper den Windstößen entgegenstemmend, aufrecht weiter und schien nicht einen Augenblick die Ruhe oder das Gleichgewicht zu verlieren.
Als wir nach einigen Minuten etwa zwanzig Schritte auf dieser schrecklichen Brücke, die immer schmaler wurde, hinter uns gebracht hatten, fegte plötzlich ein starker Windstoß durch die Schlucht. Ich sah, wie Ayescha sich dagegen warf, doch die Bö fuhr unter ihren schwarzen Mantel und riß ihn ihr herunter, so daß er wie ein verwundeter Vogel in die Schlucht hinunterflatterte und im Dunkel verschwand. Ich klammerte mich fest an den Felsen, und um mich blickend spürte ich, wie der große Sporn gleich einem lebendigen Wesen mit einem dröhnenden Geräusch erzitterte. Es war ein schauriger Anblick, der sich uns bot, so im Dunkel zwischen Himmel und Erde schwebend: unter uns Hunderte und aber Hunderte Fuß gähnender Leere, allmählich immer dunkler werdend und schließlich in absoluter Schwärze endend, so daß die Tiefe sich nicht abschätzen ließ — über uns, ansteigend zu schwindelnder Höhe, der Fels, und weit, weit in der Ferne ein Streifen blauen Himmels. Und in die ungeheure Schlucht hinab fuhr brausend und brüllend der Sturm und trieb Wolken und Nebelfetzen vor sich her, bis wir fast blind und zutiefst verwirrt waren.
Unsere Lage war so entsetzlich und so unwirklich, daß sie uns anscheinend unsere Angst nahezu vergessen ließ, doch bis zum heutigen Tage tritt sie mir im Traum oft vor die Augen, und dann erwache ich in kalten Schweiß gebadet.
»Voran! Voran!« rief die weißgekleidete Gestalt vor uns, denn nun, da der Mantel ihr entrissen worden war, trug ›Sie‹ nur noch ihr weißes Gewand, in dem sie mehr einer Windsbraut als einem Weibe glich. »Voran, oder ihr stürzt ab und zerschellt in Stücke. Blickt fest auf den Boden und klammert euch mit aller Kraft an den Felsen.«
Wir gehorchten und krochen mühsam den zitternden, sturmumtosten Pfad entlang.
Wie lange es so weiterging, vermag ich nicht zu sagen; nur hin und wieder, wenn
es unbedingt nötig war, wagten wir um uns zu blicken, doch endlich sahen wir,
daß wir uns auf der äußersten Spitze des Sporns befanden, einer Felsplatte,
wenig größer als ein Tisch, die wie ein Schiff auf und nieder schwankte. - Henry Rider Haggard, Sie. Zürich 1970 (zuerst ca. 1886)
Brücke (14)
Sie kamen an einen kleinen Bach, und da keine Brücke oder Steg da
war, so wußten sie nicht, wie sie hinüberkommen sollten. Der Strohhalm fand
guten Rat und sprach: ›Ich will mich querüber legen, so könnt ihr auf mir wie
auf einer Brücke hinübergehen.‹ Der Strohhalm streckte sich also von einem Ufer
zum andern, und die Kohle, die von hitziger Natur war, trippelte ganz keck über
die neugebaute Brücke. Als sie aber in die Mitte gekommen war und unter ihr
das Wasser rauschen hörte, ward ihr doch angst: sie blieb stehen und getraute
sich nicht weiter. Der Strohhalm aber fing an zu brennen, zerbrach in zwei Stücke
und fiel in den Bach: die Kohle rutschte nach, zischte,
wie sie ins Wasser kam, und gab den Geist auf. Die Bohne, die vorsichtigerweise
noch auf dem Ufer zurückgeblieben war, mußte über die Geschichte lachen,
konnte nicht aufhören und lachte so gewaltig, daß sie zerplatzte.
Nun war es ebenfalls um sie geschehen, wenn nicht zu gutem Glück ein Schneider,
der auf der Wanderschaft war, sich an dem Bach ausgeruht hätte. Weil er ein
mitleidiges Herz hatte, so holte er Nadel und Zwirn heraus und nähte sie zusammen.
Die Bohne bedankte sich bei ihm aufs schönste, aber da er schwarzen Zwirn gebraucht
hatte, so haben seit der Zeit alle Bohnen eine schwarze Naht. - (
grim
)
Brücke (15)
Brücke (16)
Brücke (17)
Eine Brücke in North Carolina, in der Nähe der Grenze von Tennessee. Man kommt
aus den üppigen Tabakfeldern heraus: überall niedrige Hütten und der Rauch brennenden
frischen Holzes. Der Tag verstreicht in einem dichten Meer wogenden Grüns. Kaum
ein Mensch in Sicht. Dann plötzlich eine Lichtung, und ich stehe vor einer tiefen
Schlucht, üben die sich eine gebrechliche Holzbrücke spannt. Hier ist das Enda
der Welt! Wie in Gottes Namen ich herkam und warum ich hien bin, weiß ich nicht.
Wie komme ich an etwas zu essen? Selbsfl wenn ich die denkbar üppigste Mahlzeit
verzehren würde, bliebe ich doch traurig, schrecklich traurig. Ich weiß nicht,
wo ich von hier aus hingehen soll. Diese Brücke ist das Ende, mein eigenes und
das der mir bekannten Welt. Diese Brücke ist Wahnsinn: es gibt keinen Grund,
warum sie da stehen, und keinen, warum die Menschen sie überqueren sollten.
Ich weigere mich, noch einen Schritt zu gehen, scheue davor zurück, diese verrückte
Brücke zu überqueren. Unweit von ihr ist eine niedrige Mauer, an die ich mich
lehne, um angestrengt darüber nachzudenken, was ich tun und wohin ich gehen
soll. Ich werde mir in aller Ruhe bewußt, was für ein schrecklich zivilisierter
Mensch ich bin, wie ich Leute brauche, mit denen ich sprechen kann, wie ich
von Unterhaltung, Büchern, Theater, Musik, Kaffeehäusern, Alkohol und so weiter
abhängig bin. Es ist schrecklich, zivilisiert zu sein: wenn man ans Ende der
Welt kommt, hat man nichts, was einem den Schrecken der Einsamkeit ertragen
hilft. Zivilisiert sein, heißt komplizierte Bedürfnisse haben. Und ein ausgewachsener
Mensch sollte nichts brauchen. Den ganzen Tag war ich durch Tabakfelder gewandert
und immer unsicherer geworden. Was habe ich mit all diesem Tabak zu schaffen?
Wohin steuere ich? Überall bestellen Menschen die Felder, produzieren Güter
für andere Menschen - ich dagegen geistere wie ein Gespenst durch all diese
unverständliche Geschäftigkeit. Ich möchte irgendeine Arbeit finden, aber ich
möchte an dem infernalischen automatischen Prozeß nicht teilnehmen. Ich komme
durch eine Stadt und sehe mir die Zeitung an, die von den Geschehnissen in dieser
Stadt und ihrer Umgebung berichtet. Mir will scheinen, daß sich nichts zuträgt,
daß die Uhr stillsteht, aber diese armen Teufel es nicht merken. Außerdem habe
Ich das deutliche Gefühl, daß Mord in der Luft liegt. Ich kann ihn förmlich
wittern. Vor ein paar Tagen habe ich die imaginäre Grenze überschritten, die
den Norden vom Süden trennt. - (wendek)
Brücke (18) Sie trug einen Mantel mit Pelzbesatz an den Handgelenken und am unteren Rand sowie einen Glockenhut mit einem Schleier und einer Rose; sie war nicht nur elegant gekleidet, sondern, wie ich sogleich erkannte, auch jung und wohlgefällig. Während ich sie von der Seite betrachtete, riß sie plötzlich die Augen auf, fuhr sich mit der behandschuhten Hand zum Munde, der sich zu einem Schrei des Entsetzens verzerrte, und sank hintenüber. Sie wäre gewiß zu Boden gefallen und von der gleich einer Elefantenherde vorwärtsdrängenden Menge zertrampelt worden, hätte ich sie nicht rechtzeitig aufgefangen.
»Ist Ihnen nicht gut?« frage ich. »Lehnen Sie sich doch einfach an mich. Es wird schon vorübergehen.«
Sie war erstarrt, zu keiner Bewegung mehr fähig.
»Die Leere, die Leere, da unten ...«, stammelt sie. »Hilfe, mir wird schwindlig ...«
Nichts, was man sah, schien ein Schwindelgefühl zu rechtfertigen, doch die Frau war offenbar wirklich in Panik.
»Schauen Sie nicht hinunter und halten Sie sich an meinem Arm. Gehen Sie langsam hinter den anderen her, wir sind gleich am Ende der Brücke«, sage ich in der Hoffnung, daß dies die richtigen Argumente sind, um sie zu beruhigen.
Darauf sie: »Ich spüre, wie all diese Schritte sich ablösen von den Stufen und weiterschreiten ins Leere, um in den Abgrund zu stürzen ... eine stürzende Menge ...«, und sträubt sich weiter.
Ich blicke hinunter, schaue durch die Lücken zwischen den eisernen Stufen
auf die farblose Strömung des Flusses, sehe die Eisschollen auf ihm treiben
wie kleine Wolken am Himmel, und in einem plötzlichen Schwindelanfall meine
ich gleichfalls zu spüren, was sie verspürt: daß jede Leere ins Leere führt,
daß unter jedem Abhang, und sei er auch noch so gering, ein neuer Abhang sich
auftut, daß jede Schlucht in den endlosen Abgrund mündet, ins Nichts ... Ich
lege den Arm um ihre Schultern, ich stemme mich gegen die Nachdrängenden, die
zu schimpfen beginnen: »He, ihr da! Geht weiter! Umarmt euch woanders! So eine
Schamlosigkeit!« - doch die einzige Art und Weise, der uns erfassenden Menschenlawine
zu entgehen, wäre abzuheben, hinauszuschreiten ins Leere, zu fliegen
... Wahrhaftig, nun ist auch mir auf einmal, als schwebte ich über dem Rand
eines Abgrunds ... - Italo Calvino, Wenn ein Reisender
in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
Brücke (19)
Der Obstgarten, den Vato und Blood suchten, lag auf der anderen Seite von Shade
Creek, was bedeutete, daß sie die übliche schwierige Route über die Ruine der
alten Brücke aus den dreißiger Jahren nehmen mußten, bei der mysteriöserweise
immer mindestens eine Spur befahrbar war. Gelegentlich verschwanden
über Nacht ganze Segmente, als wären sie auf Pontons den Fluß hinunter davongeschwommen,
und schon vorher mußte man Umwege machen und sich dabei oft an Hinweisen orientieren,
die ungelenk auf Mauern und alte Sperrholzschalungen gesprüht waren, in denselben
kantigen Buchstaben wie die Graffiti von Straßenbanden. An der Brücke arbeiteten
rund um die Uhr Reparaturtrupps. Heute mußten Vato und Blood warten, bis sich
ein hoch mit Betontrümmern und verrosteten Stahlarmierungen beladener Lastwagen
im Vorwärts- und Rückwärtsgang einen Weg abseits der Straße gebahnt hatte. Gestalten
in Arbeitskleidung und manchmal mit Helmen waren zu sehen, immer in kleinen
Gruppen, möglicherweise Pioniere, aber das wußte niemand so genau. Sie kümmerten
sich nicht um den Verkehr, gaben nicht einmal Flaggensignale. Wer die Brücke
überqueren wollte, mußte selbst entscheiden, wie sicher das war. Blood ließ
den Wagen Zentimeter um Zentimeter vorwärts kriechen, vorbei an großen, dreieckigen
Löchern im Asphalt, durch die man das grobmaschige Muster der Armierungen und
darunter den nachtblauen Fluß sehen konnte. Seit dem Sturm von 1964, als die
Flutwelle des Seventh einen Teil der Brücke weggerissen hatte, wurde hier gearbeitet.
In all den Jahren hatte sich ihre schartige Silhouette gegen den Himmel abgezeichnet.
-
Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015
Brücke (20) Kennzeichen quantenmechanischer Phänomene sind „Quantenzahlen", die immer ganze Zahlen sind. Wenn solche ganzen Zahlen klein sind - kleiner als 5 etwa -, dann handelt es sich in der Quintessenz um Quantenphänomene. Aber wenn recht große Werte wie etwa 20 in die Gleichungen gestopft werden, kommt ein Verhalten heraus, das mitten zwischen Quantenstil und klassischem Stil schwimmt. Und wenn gar unendlich große Werte ins Spiel kommen, sollten eigentlich die vertrauten alten Gleichungen aus der präquantenmechanischen Ära wiederkehren: beispielsweise Newtons Bewegungsgesetz.
Ein bemerkenswertes Beispiel für diese Idee liefern die sogenannten „Rydberg-Atome",
Atome in hohem Erregungszustand, deren äußerste Elektronen sehr große Quantenzahlen
haben, und die folglich an ihren zentralen Atomkern so locker angebunden sind,
daß ihre Umlaufbahnen langsam etwas weniger „wolkig" sind (d.h. weniger
quantenmechanisch) und eher den vertrauten Planetenbahnen gleichen, denen Elektronen
gewöhnlich in der kurzzeitigen „semiklassischen" Epoche der Physik folgten,
also in der Zeit nach der Entdeckung der Atomkerne durch Ernest Rutherford,
aber noch vor Schrödinger und Heisenberg. Diese Brücken, die die außerordentlich
fremdartige Welt mit der, die uns so vertraut ist, verbinden, verhelfen zu den
Intuitionen, die makroskopische Leute brauchen, um sich vorstellen zu können,
wie etwa ein gewaltiger Grüner Riese aus dunklen, unauslotbaren Mikrotiefen
auftauchen könnte. - Douglas R. Hofstadter, Metamagicum. Stuttgart
1991
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