turz  Die Geschichte unserer Theorie vom Weltall beginnt mit einem Sturz und endet mit einem Sturz.

Am Anfang fiel Thales von Milet bei nächtlicher Himmelsbeobachtung in eine Zisterne und überstand es wohlbehalten. Nur wurde er, wie inzwischen jeder weiß, von einer thrakischen Magd ohne Verständnis für so unzweckmäßiges Verhalten ausgelacht. Es ist nicht überliefert, wie er darauf erwiderte und was er dabei empfand. Er scheint nichts dazugelernt zu haben, sonst wäre die ionische Schule der Naturphilosophie nicht entstanden. Aber auch die Thrakerin hat aus dem Vorfall nichts als ihre kurze Belustigung gewonnen; sonst wären die Griechen ihres Monopols in Theorie verlustig gegangen.

Am Ende steht der Sturz eines Berliner Dachdeckers, den auch er wohlbehalten überstand. Sonst hätte er nicht die Auskunft erteilen können, die ein zufällig den Sturz mitansehender Theoretiker von ihm begehrte, weil nur er und ausnahmsweise etwas ›erlebt‹ hatte, worauf es dem Passanten ankam: zu wissen, daß einer beim freien Fall keine Schwerkraft an sich empfindet.

Thales und Einstein: zwei komplementäre Anekdoten von theoretischen Elementarereignissen. In Anekdoten gibt es nichts Zufälliges, alles dient ihrer Signifikanz. Deshalb mußte am Anfang der Theoretiker selber stürzen, um seinem Bei-der-Sache-bleiben die Auszeichnung der erlittenen Unbill zu geben, die noch eindrucksvoller war als die ›Resultate‹. Vom Dach aber durfte das späte Genie nicht persönlich fallen, einmal wegen des zu hohen Risikos bei solcher Qualifikation, noch mehr aber wegen der Objektivität: der befragbare Zeuge mußte die Unbefangenheit des biederen Mannes haben, der sich allenfalls darüber wundern mochte, wie wenig der Fremde von seinem ›Glücksfall‹ beeindruckt war. Er konnte nicht wissen, daß er stellvertretend und statthaltend für den Neugierigen gefallen war, der es sich — beim Stand methodischer Vorsicht — selber nicht hätte glauben dürfen, was er dem anderen umso erfreuter abnahm, weil es seiner Erwartung entsprach.

Ohne Fall ging es nicht an, und ohne Fall ging es nicht ab, sollte ›alles, was der Fall ist‹ in theoretischen Gewahrsam kommen. - (blum2)

Sturz (2) Wenn man im Traum von einem Felsenriff in die Tiefe stürzt, ist man jeglicher gesellschaftlichen Vorsicht entbunden: ich würde sagen, es reicht schon, wenn man nicht schreit. Falls es ein sanfter, zartfühlender Sturz ist und man einen Tanz vortäuschen kann, so ist es wohlgetan und zeugt von Umgangsformen. Wer im Traum fliegt, plustert sich im allgemeinen damit auf, und das schickt sich nicht. Man kann ja auch auf wohlerzogene Weise fliegen, als wäre es etwas Selbstverständliches, beinahe ein wenig Langweiliges, aber auf keinen Fall Unangenehmes. - (man)

Sturz (3)  Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend gereist, als Pilger auf der Suche nach einem Buch, vielleicht dem Katalog der Kataloge; jetzt, da meine Augen kaum mehr entziffern können, was ich schreibe, stelle ich mich darauf ein, wenige Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren wurde, zu sterben. Wenn ich tot bin, wird es genug mitleidige Hände geben, mich über das Geländer zu werfen; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich im Wind des unendlichen Sturzes zersetzen und auflösen.   - J. L. Borges, Die Bibliothek von Babel, In: J.L.B., Blaue Tiger und andere Geschichten. München 1988 (zuerst 1941)

Sturz (4)  Sicher ist, stellt man sich auf den Standpunkt des kompromißlosen Geistes, daß das menschliche Lachen zuinnerst mit einem früher einmal erfolgten Sturze zusammenhängt, einer körperlichen und geistigen Erniedrigung. Das Lachen und der Schmerz werden durch die Organe ausgedrückt, in denen das Gebieten und das Wissen von Gut und Böse ihren Sitz haben: die Augen und der Mund. Im irdischen Paradies (man nehme es vergangen oder künftig an, als Erinnerung oder Prophezeiung, gemäß den Theologen oder den Sozialisten), im irdischen Paradies, das heißt in der Umgebung, wo dem Menschen alles Geschaffene gut erschien, bestand die Freude nicht im Lachen. Solange ihn kein Kummer heimsuchte, war sein Gesicht einfach und unbewegt, und das Lachen, das heute die Völker schüttelt, entstellte nie die Züge seines Antlitzes. Das Lachen und die Tränen bleiben im Paradies der Wonnen ungeschaut. Beide sind sie gleichermaßen Kinder des Kummers, und sie entstanden, weil der entnervte Menschenkörper der Kraft ermangelte, sie zu bezwingen. - (cb)

Sturz (5) Sie, sie wußte es besser. Nur weil es ihm so in den Kram paßte, daß die Welt schön sei, wollte er sie ins Schöne verhexen. Womöglich würde er jetzt anfangen und sich über die Schönheit der Gegend auslassen. Das hatte er schon öfters getan. Oder er würde ihr erzählen, heute sei ihr Hochzeitstag, und Himmel und Erde lachten ihr zu. Und das war dieselbe Welt, in der sie Anders hängen wollten. »Du!« schrie sie ihn an, »du Dichter

Damit hob sie den Steinblock mit beiden Armen über den Kopf und warf ihn nach dem Liegenden.

Das Blut spritzte nach allen Seiten. Der Körper, der einen Augenblick vorher noch Gleichgewicht, Inhalt, Vorstellung, Eindrucksfähigkeit besessen hatte, fiel in sich zusammen und lag da wie ein Bündel alter Kleider, dem Gesetz der Schwere preisgegeben, nach unten sackend. Für den Herrn Rat war es, als würde er in einem schauderhaften Sturz kopfüber in einen unergründlichen Schlund geschleudert. Es vergingen winzige Zeitteilchen darüber: Es warf ihn in drei oder vier großen Absätzen von einem Katarakt zum anderen. Und während er stürzte, kam von allen Seiten, wie ein Echo aus der fressenden Finsternis, durch Höhlen und Schlüfte hallend, immer wieder ihr letztes Wort. - (blix)

Sturz (6)  Er fletschte die Zähne. — Er kannte seine Kraft, konnte ihr vertrauen.

Anton, der Geriebenere, war seit dem Bestehen des Kompaniegeschäftes auf eine solche Szene vorbereitet und trug vorsichtshalber ein Gegenmittel im Sack. Unvermutet flog der ersten Kraft des ›Traumspiegels‹ eine Handvoll gemahlenen Pfeffers ins Gesicht. —

Der so Geblendete griff aufs Geratewohl zu, packte seinen Gegner an der Brust und riß ihn zu sich heran. Die Schiffsschrauben schlössen sich hinter seinem Rücken, Anton knickte ein. Beide, der Lange und der Kurze, wälzten sich auf dem Boden, zuerst rollten sie durchs ganze Gemach, dann durch die offene Tür auf die Altane hinaus. Daß das Geländer zerbrochen war, merkten die sich wütend umschlungen Haltenden nicht. Sie flogen vom Balkon auf das Dach der angebauten Waschküche, glitten weiter abwärts und stürzten in die geöffnete Senkgrube.

Es gab einen dumpfen Plumps ... dann stiegen einige Blasen auf... - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Sturz (7)

"Alle werden fallen"

 - Francisco Goya, Caprichos. Zürich 1972 (detebe 33/1, zuerst 1799)

Sturz (8)  Eine Begegnung  steigerte ihre Ängste, die plötzlich eine furchtbare Gestalt annahmen.

Mitten auf dem Felde sprach sie ein Mann mit dem Gebaren eines Irren gestikulierend an und stürzte ihre Seele in Verwirrung, indem er ihr als Strafe für ihren Eidbruch einen baldigen schwindelerregenden Sturz vorhersagte.

Einige Stunden vergingen, während welcher Ghiriz und Neddou, schmerzlich erregt von der seltsamen Prophezeiung, schweigend dahingingen.

Gegen Abend, an einer Biegung der Straße, stieß die junge Frau einen Schrei des Entsetzens aus und suchte mit der Hand irgendeine grausige Vision zu verscheuchen.

Vor ihr waren unzählige Augen paarweise ohne Körper und Gesicht erschienen und hatten sie streng und tadelnd angestarrt.

Außerdem aber zogen diese faszinierenden Blicke sie an den Rand der Straße, die hier über einem mit Felsspitzen gespickten Abgrund hing.

Ghiriz, der von dieser plötzlichen Halluzination nichts bemerkt hatte, begriff nicht, worüber sich seine Freundin entsetzte.

Plötzlich sah er, ohne daß er auch nur die geringste Bewegung machen konnte, um sie zurückzuhalten, wie Neddou von einer unwiderstehlichen Macht zu dem Abgrund hingezogen wurde.

Die Unglückliche stürzte, von Fels zu Fels geschleudert, verfolgt von den drohenden Augen, die ihr die Beleidigung der Gottheit vorzuwerfen schienen.

Ghiriz, über den Schlund geneigt, wollte das Los seiner Geliebten teilen und sprang mit einem Satz ins Leere.

Die beiden Leichname fielen Seite an Seite, vereint für die Ewigkeit, in unzugängliche Tiefen.  - Raymond Roussel, Afrikanische Impressionen. München 1980 (zuerst 1910)

Sturz (9)  olga lag auf dem pflaster. das blut lief aus dem mund und aus der nase. sie lag auf dem bauch, kaum bewegt, bei jedem atemzug quoll blut von neuem aus mund und nase und stockte um die lippen, am hals, um die nasenlödier. die linke kinnlade war eingedrückt, ein abgebrochener zahn hatte ihr bild aufs äusserste verändert, plötzlich erbrach sie sich mit einer ungeheuren heftigkeit. ein klumpen von fleisch, blut und verdautem quoll zwischen den lippen und stak, die zunge umkreisend, die ein wenig vorstand, eigentümlich gerollt und hell wirkend in der Umgebung von blut. dobyhal zog so gut er konnte den brei aus den zahnen, olga stöhnte, erbrach sich von neuem und dobyhal kramte den brei aus ihrem mund, schnell und behutsam, um sie nicht ersticken zu lassen, dobyhal versuchte ihr gesidit zu reinigen, sie lag jetzt fast ruhig, neben ihrem köpf hatte sich eine grosse lache, ein cocktail aus erbrochenem und gestocktem blut gebildet, das lag da wie ein kissen und olga lag da wie schlafend mit offenen starren augen, ihr körper bewegte sich langsam atmend auf und nieder und ein dünnes rinnsal blut floss im rhythmus des atems aus ihrem leicht geöffneten mund. sie schien in die ferne zu blicken, dobyhal streichelte ihr verklebtes haar ein wenig, ihr unentwegt den mund wischend, sprach leise auf sie ein. ohne ein wort gesagt zu haben, ohne die ohnmacht zu durchbrechen, war sie tot. dobyhal empfand, dass sie nicht gestorben sei. sie war tot, das schien ihm etwas anderes. - Konrad Bayer, der sechste sinn. Roman. Reinbek bei Hamburg 1969

Sturz (10)  Mein letzter Ausflug mit  Trakl führte von Innsbruck, auf  lenzlichem Weg, durch Dörfer nach Hall. Damals lernten wir uns eigentlich kennen; er sagte oft Kindern, die wir trafen, behutsame Worte, sonst sprach er ununterbrochen vom Tod. Als wir uns am Abend lassen mußten, war mir's, als hielte ich ein Filigrangeschenk von Georg Trakl in der Hand: sanfte Silben spürte ich, sorgsam zueinandergeblumt, klar als Wortsinn einzig ihm und mir. Vor dem Styx besann ich mich genau eines Satzes: „Die Todesart ist gleichgültig: der Tod ist so furchtbar, weil ein Sturz, daß alles, was ihm vorausgehen oder folgen mag, geringfügig bleibt. Wir fallen in ein Unfaßbar-Schwarzes. Wie könnte das Sterben, die Sekunde zur Ewigkeit,  kurz sein?" - Theodor Däubler, nach: Erinnerung an Georg Trakl. Hg. Ludwig von Ficker. Salzburg 1966

Sturz (11)   Er erzählte mir, vor jenem regnerischen Tag, an dem das blaugraue Pferd ihn zu Boden schleuderte, sei er gewesen wie alle: blind, taub, zu nichts nütze, ohne Gedächtnis. (Ich versuchte, ihn an sein haargenaues Zeitgefühl, sein Namensgedächtnis zu erinnern; er ging nicht darauf ein.) Neunzehn Jahre hatte er gelebt wie einer, der träumt; er sah ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles. Beim Sturz verlor er das Bewußtsein; als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar, und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig später wurde ihm bewußt, daß er lahm war. Diese Tatsache interessierte ihn kaum. Er befand (er empfand), daß die Unbeweglichkeit ein äußerst geringer Preis sei. Jetzt waren seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis unfehlbar. - (bo3)

Sturz (12)  

Sturz (der Fettleibigkeit, 13)  

Rubens: Sturz der Verdammten

- Peter Paul Rubens

Sturz (14)  Wenn man in ein Dimensionsloch stolpert, stürzt man in alle Richtungen gleichzeitig, nach unten, oben, rechts und links, nach Norden, Süden, Osten und Westen. Man fällt außerdem durch die Zeit, und zwar rückwärts mit doppelter Lichtgeschwindigkeit, wobei die Sturzbahn eine sogenannte Nachtigallersche Oktavschleife beschreibt. Professor Nachtigaller hatte sich mit diesem Phänomen als erster beschäftigt, wie üblich. Unter einer Nachtigallerschen Oktavschleife muß man sich eine Doppelschleife in Form einer achtfachen Acht vorstellen, die sich zu einem Achtel im Raum, zu einem Achtel in der Zeit und zu den sechs anderen Achteln in den übrigen Dimensionen befindet, wodurch man sich, während man stürzt, zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort des Universums gleichzeitig befindet.  - (zam)

Sturz (15)  

Fallen Gravitation Abgrund
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