ibliothek   Der Lizentiat wies den Barbier an, er solle ihm von den Büchern eins nach dem andern reichen, um zu sehen, wovon sie handelten, da es doch sein könnte, daß man einige fände, welche die Strafe des Feuers nicht verdienten. „Nein", sagte die Nichte, „es ist kein Grund, irgendeines zu verschonen; denn sie alle sind die Unheilstifter gewesen. Am besten wird es sein, sie zum Fenster hinaus in den Vorhof zu schleudern, sie zu einem Haufen zu schichten und Feuer an sie zu legen oder, wenn nicht, sie in den großen Hof zu werfen; dort soll der Scheiterhaufen errichtet werden, und so wird der Rauch nicht beschwerlich fallen."

Das nämliche sagte die Haushälterin, so groß war das Verlangen, das die beiden nach dem Tode dieser unschuldigen Kindlein trugen. Allein der Pfarrer wollte nicht darauf eingehen, ohne wenigstens erst die Titel zu lesen.

Das erste, was ihm Meister Nikolas in die Hände gab, waren Die vier Bücher des Amadís von Gallien, und der Pfarrer sprach: „Es scheint hierbei etwas Wundersames zu walten; denn wie ich habe sagen hören, war dieses Werk das erste Ritterbuch, das in Spanien gedruckt wurde, und alle übrigen haben ihren Ausgang und Ursprung von diesem genommen; und also ist meine Meinung, daß wir den Amadís als den Irrlehrer und Stifter einer so schlimmen Sekte, ohne Zulassung irgendeines Milderungsgrundes, zum Feuer verurteilen müssen."

„Nein, Herr Pfarrer", entgegnete der Barbier, „denn ich habe auch sagen hören, es sei das beste aller Bücher, die in dieser Art verfaßt worden, und so muß ihm, als einzig in seiner Kunstgattung, Gnade zuteil werden."

„Das ist richtig", sagte der Pfarrer, „und aus diesem Grunde wird ihm für jetzt das Leben gewährt. Sehen wir jenes andere an, das neben ihm steht."

„Das", sagte der Barbier, „sind die Geschichten von Esplan-diän, dem ehelichen Sohn des Amadis von Gallien."

„Nun, in der Tat", versetzte der Pfarrer, „dem Sohne soll die Trefflichkeit des Vaters nicht zugute kommen; nehmt, Jungfer Haushälterin, öffnet das Fenster dort und werft ihn in den Hof ; mit ihm soll die Aufschichtung des Scheiterhaufens begonnen werden, den wir errichten wollen."

Mit großem Behagen tat die Haushälterin also, und der gute von Esplandiän nahm seinen Flug in den Hof und harrte daselbst in aller Geduld des Feuers, das ihm drohte.

„Weiter!" sprach der Pfarrer.

„Der hier kommt", sagte der Barbier, „ist Amadís von Griechenland; ja alle auf dieser Seite, wie ich glaube, sind aus der nämlichen Sippschaft des Amadís."

„So mögen sie alle in den Hof hinabwandern", sprach der Pfarrer; „denn um die Königin Pintiquiniestra verbrennen zu dürfen, nebst dem Schäfer Darinel und seinen Hirtengedichten und den verteufelten und verdrehten Redensarten ihres Verfassers, würde ich mit ihnen meinen eigenen Vater verbrennen, wenn er in der Gestalt eines fahrenden Ritters aufträte."

„Dieser Meinung bin ich auch", versetzte der Barbier.

„Und ich auch", fügte die Nichte bei.

„Da dem so ist", sprach die Haushälterin, „her damit und in den Hof mit ihnen!"

Man reichte sie ihr, es waren deren viele, und sie ersparte sich die Treppe und warf sie zum Fenster hinaus.

„Wer ist jenes Stückfaß?" fragte der Pfarrer.

„Es ist dies", antwortete der Barbier, „Don Olivante de Laura."

„Der Verfasser dieses Buches", sprach der Pfarrer, „war derselbe, welcher den Blumengarten schrieb, und in der Tat, ich könnte nicht entscheiden, welches von beiden Büchern wahrhafter, oder richtiger gesagt, minder lügenhaft ist; ich kann nur sagen, daß dieses, weil es ungereimt und frech, in den Hof wandern wird."

„Dieses folgende Buch ist Florismarte von Hyrkanien", sagte der Barbier.

„Ist der Herr Florismarte da?" entgegnete der Pfarrer. „Auf mein Wort denn, er soll baldigst seine Bestimmung im Hofe finden, trotz seiner wundersamen Geburt und seiner chimärischen Abenteuer; denn die Härte und Trockenheit seines Stils gestattet nichts anderes. In den Hof mit ihm und mit jenem andern, Jungfer Haushälterin."

„Mir recht, Herr Pfarrer", antwortete sie und vollstreckte mit vielen Freuden, was ihr aufgetragen worden.

„Dies ist Der Ritter Platir", sagte der Barbier.

„Es ist ein altes Buch", versetzte der Pfarrer, „und ich finde nichts darin, das Gnade verdiente; es begleite die andern ohne Widerrede."

Und so geschah es.

Ein andres Buch ward aufgeschlagen, und sie sahen, daß es den Titel hatte Der Ritter vom Kreuz.

„Um eines so heiligen Namens willen, wie dieses Buch trägt, hätte man ihm seine Dummheit verzeihen können; allein man pflegt auch zu sagen: ,Hinter dem Kreuze lauert der Teufel.' Ins Feuer mit ihm!"

Der Barbier nahm ein andres Buch und sprach: „Dieses ist der Spiegel des Rittertums."

„Wohl kenn ich Seine Gnaden", sagte der Pfarrer. „Dort treten Herr Rinaldo von Montalban auf mit seinen Freunden und Gefährten, die räuberischer sind als Cacus, und die zwölf Pairs mit dem wahrheitsliebenden Geschichtsschreiber Turpin; und wirklich, ich bin geneigt, sie zu nicht mehrerem als zu ewiger Verbannung zu verurteilen, wenn es auch nur deshalb wäre, weil sie einen Anteil an der Dichtung des berühmten Mateo Bojardo haben, aus welcher hinwiederum der christliche Dichter Ludovico Ariosto sein Gewebe entnommen. Und wenn ich diesen hier finde und er in einer anderen Sprache als der seinigen redet, so werde ich ihm keinerlei Achtung bezeigen; wenn er aber in seiner eigenen Zunge spricht, dann werde ich ihm mein Haupt mit Verehrung beugen."

„Wohl, ich habe ihn auf italienisch", sagte der Barbier, „aber ich verstehe ihn nicht."

„Es wäre auch nicht einmal gut, daß Ihr ihn verstündet", antwortete der Pfarrer, „und daher hätten wir es jenem Herrn Hauptmann gern erlassen, wenn er ihn nicht nach Spanien herübergebracht und zum Kastilier umgeschaffen hätte; denn er hat ihm viel von seinem ursprünglichen Werte benommen. Und dasselbe wird jedem begegnen, der in Versen geschriebene Werke in eine andere Sprache übertragen will; denn wie viele Sorgfalt er anwende und wieviel Geschicklichkeit er an den Tag lege, nie wird er die Vollendung erreichen, die sie in ihrer ersten Gestaltung besitzen. Ich bestimme also, daß dies Buch und alle, die über jene französischen Geschichten handeln, in eine trockene Brunnengrube geworfen und verwahrt werden sollen, bis man mit mehr Überlegung beurteilen kann, was mit ihnen zu tun ist; wobei ich jedoch einen gewissen Bernardo del Carpio, der sich in der Welt herumtreibt, und ein andres Buch, des Titels Ronces-valles, ausnehme; denn diese, sobald sie in meine Gewalt gelangen, sollen sogleich in die der Haushälterin kommen und aus dieser in die des Feuers, ohne Gnade und Erbarmen."

Dieses Urteil bestätigte der Barbier und erachtete es für recht und durchaus sachgemäß; denn ihm war wohl bewußt, daß der Pfarrer ein so guter Christ und so großer Freund der Wahrheit war, daß er um aller irdischen Dinge willen nie etwas als eben die Wahrheit gesagt hätte.

Und ein andres Buch aufschlagend, fand er, es sei Palmerin de Oliva, und nebenan stand eines, das Palmerin von England hieß. Als der Lizentiat das sah, sprach er: „Jenen Olivenbaum schlage man zu Splittern und verbrenne ihn, daß auch nicht die Asche von ihm übrigbleibe; aber jene Palme von England hebe man auf und bewahre sie als etwas Einziges, und man mache für sie ein solches Kästchen wie jenes, das Alexander unter der Beute des Darius fand und das er bestimmte, darin die Werke des Dichters Homer aufzubewahren. Dies Buch, Herr Gevatter, steht aus zwei Gründen in Hochachtung: der eine, weil es an sich ein sehr gutes Buch ist, der andere, weil der Ruf geht, daß ein geistvoller König von Portugal es verfaßt hat. Die sämtlichen Abenteuer im Schlosse der Prinzessin Miraguarda sind vortrefflich und mit großer Kunst entworfen; die Gespräche, in gutem Ton und klarem Stil, beobachten und bezwecken stets das für die sprechende Person Geziemende in angemessenster Weise und mit großem Verständnis. Ich tue sonach den Ausspruch, vorbehaltlich Eures Gutbefindens, Meister Nikolas, daß dieses Buch und Ama-dis von Gallien des Feuers ledig bleiben und die anderen ohne langes Probieren und Examinieren sämtlich umkommen sollen." „Nein, Herr Gevatter", entgegnete der Barbier, „denn dieser, den ich hier habe, ist der weitberühmte Don Belianís."

„Der freilich", versetzte der Pfarrer, „mit dem zweiten, dritten und vierten Teile, bedarf einiges Rhabarbers, um seinen übermäßigen Jähzorn abzuführen, und es ist unerläßlich, aus ihnen all jenes von der Burg des Ruhms und andere Ungereimtheiten von größerem Belang fortzuschaffen. Dazu wird ihnen dieselbe Frist gewährt wie für gerichtliche Vorladungen über See, und je nachdem sie sich bessern sollten, je nachdem wird ihnen Gnade oder Recht widerfahren. Und Ihr mittlerweile behaltet sie, Gevatter, in Eurem Hause, aber lasset niemand sie lesen."

„Dem stimme ich bei", sagte der Barbier. Und ohne sich mehr mit dem Durchsehen von Ritterbüchern langweilen zu wollen, wies der Pfarrer die Haushälterin an, sie solle alle die großen Bände nehmen und sie in den Hof werfen. Dies war nicht tauben Ohren gepredigt; denn die alte Jungfer hatte ohnehin noch größere Lust, die Bücher zu verbrennen, als ein ganzes Stück Leinwand für den Weber zurechtzumachen, und wäre es auch noch so groß und fein; sie ergriff etwa acht auf einmal und warf sie zum Fenster hinaus.

Da sie zu viele zusammen nahm, fiel ihr eins zu den Füßen des Barbiers nieder; den überkam das Verlangen zu sehen, von wem es sei, und er fand, daß es besagte: Geschichte des berühmten Ritters Tirante des Weißen.

„Helf mir Gott!" sprach der Pfarrer mit lautem Aufschrei. „So wäre denn Tirante der Weiße auch hier? Gebt mir ihn her, Gevatter, denn ich meine, ich habe in ihm einen Schatz von Vergnügen und eine Fundgrube von Zeitvertreib gefunden. Hier finden sich Don Kyrieleison von Montalban, der tapfere Ritter, und sein Bruder Tomas von Montalban und der Ritter Fonseca und der Kampf, den der Haudegen von Tirante gegen den Bullenbeißer bestand, und die klugen Hinfalle des Fräuleins Meines-lebenslust, nebst der Liebesmühe und der Heimtücke der Witwe Geruhsam, und die Frau Kaiserin, so in den Schildknappen Hippolyt verliebt ist. Ich sag Euch in Wahrheit, Herr Gevatter, daß es in seiner Art das beste Buch der Welt ist. Hier wenigstens essen doch die Ritter und schlafen und sterben in ihrem Bette und machen Testamente vor ihrem Tode, nebst andern Dingen, deren alle übrigen Bücher dieser Sorte ermangeln. Trotz alledem, sage ich Euch, verdiente der Verfasser, da er absichtlich so große Albernheiten geschrieben, daß man ihn, wenn auch nicht wie die andern zum Feuertode, doch wenigstens für zeitlebens auf die Galeeren schicken sollte. Nehmt ihn fort nach Hause und leset ihn, und Ihr werdet sehen, daß alles, was ich Euch von ihm gesagt habe, Wahrheit ist."

„So soll's geschehen", sagte der Barbier. „Aber was werden wir mit diesen kleinen Bänden anfangen, die noch übrig sind?"

„Diese", versetzte der Pfarrer, „dürften nicht Ritterbücher, sondern Dichtwerke sein."

Er schlug eines auf und sah, daß es Die Diana von Georg von Montemayor war, und sagte, in der Meinung, alle übrigen seien von derselben Art: „Diese verdienen nicht, verbrannt zu werden wie die andern; denn sie stiften nicht solchen Schaden und werden ihn nie stiften, wie ihn die Rittergeschichten angerichtet haben; sie sind Bücher von Verständnis und Einsicht, die keinem Dritten schaden können."

„Ach, Herr Pfarrer", versetzte die Nichte, „immerhin könnte Euer Gnaden sie verbrennen lassen wie die andern; denn es wäre nicht zu verwundern, daß meinen Oheim, wenn er von der Ritterkrankheit genesen, beim Lesen dieser Bücher die Lust ankäme, ein Schäfer zu werden und singend und musizierend durch die Wälder und Wiesen zu wandeln und, was noch schlimmer wäre, ein Dichter zu werden, was, wie die Leute sagen, eine unheilbare und ansteckende Krankheit sein soll."  - (don)

Bibliothek (totale)  Lewis Carroll bemerkt im zweiten Teil seines außerordentlichen Traumromans Sylvie and Bruno - anno 1893 -, da die Anzahl der Wörter in jeder Sprache begrenzt sei, gelte dies auch für die Menge ihrer möglichen Kombinationen oder ihrer Bücher. »Bald«, sagt er, »werden Literaten sich nicht fragen, >was für ein Buch soll ich schreiben?<, sondern >welches [schon existierende] Buch?<«. Lasswitz, angeregt von Fechner, stellt sich die Totale Bibliothek vor. Er publiziert seine Erfindung in einem Band mit phantastischen Erzählungen, Traumkristalle.

Die Grundidee von Lasswitz ist die gleiche wie die von Carroll, aber die Elemente seines Spiels sind die universalen orthographischen Symbole, nicht die Wörter einer Sprache. Die Menge dieser Elemente - Lettern, Zwischenräume, Klammern, Auslassungspunkte, Ziffern - ist begrenzt und läßt sich noch weiter reduzieren. Man könnte verzichten auf das q (das vollkommen überflüssig ist), das x (das eine Abkürzung ist) und alle Großbuchstaben. Man könnte die Algorithmen im dezimalen Zahlensystem eliminieren oder sie auf zwei reduzieren, wie im binären System von Leibniz. Man könnte die Interpunktion auf Komma und Punkt beschränken. Es brauchte keine Akzente zugeben, wie im Lateinischen. Mittels ähnlicher Vereinfachungen gelangt Kurd Lasswitz zu den fünfundzwanzig Symbolen (zweiundzwanzig Buchstaben, Zwischenraum, Punkt Komma), deren Variationen samt Wiederholungen alles umfassen, was ausgedrückt werden kann: in sämtlichen Sprachen. Die Gesamtheit dieser Variationen ergabe eine Totale Bibliothek von astronomischer Größe. Lasswitz fordert die Menschen auf diese unmenschliche Bibliothek mechanisch einzurichten; der Zufall würde sie organisieren - und sie würde die Intelligenz eliminieren.

Alles wird in ihren blinden Bänden sein. Alles: die detaillierte Geschichte der Zukunft, Die Ägypter von Aischylos, die genaue Anzahl der Male, da die Wasser des Ganges den Flug eines Falken gespiegelt haben, der geheime, wahre Name Roms, die Enzyklopädie, die Novalis erstellt hätte, meine Träume und Halbträume im Morgengrauen des 14. August 1934, der Beweis für Pierre Fermats Theorem, die ungeschriebenen Kapitel von Edwin Drood, die gleichen Kapitel übersetzt in die Sprache, die die Garamanten verwendeten, die Paradoxa, die Berkeley hinsichtlich der Zeit erfand, aber nicht veröffentlichte, Urizens Bücher aus Eisen, die vorzeitigen Epiphanien von Stephen Daedalus, die vor Ablauf eines Zyklus von tausend Jahren bedeutungslos wären, das Gnostische Evangelium des Basilides, das Lied, das die Sirenen sangen, der vollständige Katalog der Bibliothek, der Nachweis der Fehlerhaftigkeit dieses Katalogs. Alles, aber für jede vernünftige Zeile, für jede zutreffende Tatsache gäbe es Millionen sinnloser Kakophonien, Wortmüll und Gestammel. Alles, aber alle Generationen der Menschheit könnten vergehen, ehe die schwindelerregenden Regale - Regale, die den Tag auslöschen und Chaos bergen - sie jemals mit einer erträglichen Seite belohnten.

Eine der Gepflogenheiten des Geistes ist das Aushecken schrecklicher Vorstellungen. Der Geist hat die Hölle erfunden, die Prädestination zur Hölle, er hat die platonischen Ideen erdacht, die Chimäre, die Sphinx, abnorme transfinite Zahlen (deren Teile nicht kleiner sind als das Ganze), Masken, Spiegel, Opern, die monströse Dreifaltigkeit der Vater, der Sohn und der Geist, unlösbar vereint in einem einzigen Organismus... Ich habe versucht, dem Vergessen ein minderes Grauen zu entreißen: die weitläufige, widersprüchliche Bibliothek, deren vertikale Einöden aus Büchern unaufhörlich Gefahr laufen, sich in andere zu verwandeln, die alles bestätigen, leugnen und verwirren wie eine wahnsinnige Gottheit. - (bo2)

Bibliothek (3)  Meist verschaffte ich mir die Romane aus einer kleinen, obskuren Leihbibliothek, die einer schrulligen alten Frau gehörte. Vorne hatte sie eine Art Schreibwarenladen: in verstaubten Pappkästen lagen Federn, Bleistifte, Tintenwischer, Schulmaterial, Ausschneide- und Modellierbogen, Hefte aller Art. Der Hinterraum war vollgestopft mit billigen Büchern und alten, primitiv mit Bindfaden verschnürten Paketen jener Schauerromane. Klara Menning saß mit Brille und Krückstock und regierte in ihrer amüsanten Höhle wie die leibhaftige Hexe aus Grimms Märchen. Wie diese zog sie auch die Kinder an, und mancher Hans geriet in ihren Bann. Es war ein fabelhafter Laden, zu ebener Erde und doch wie in einem unaufgeräumten Bodenzimmer. Alles lag durcheinander. Überall lag Staub. Die alte Gaslampe, die immer brannte und deren Strumpf summte wie eine Katze, gab dem Ganzen ein Rembrandthalbdunkel; das erhöhte die Gemütlichkeit und ermunterte einige von uns zu kleineren, harmlosen Entwendungen. Ein Hampelmann hing am Türrahmen, ein weißes Pappskelett neben einem buckligen Bajazzo. Groteske Masken lagen oben im zerrissenen Karton, ein falscher Bart neben Schiefertafeln und Schwamm oder bunt umwickelte Schieferstifte in einem Glasbehälter. Es war eine Art wunderbarer, phantastischer Müllhaufen. Im Schaufenster lag noch Christbaumschmuck von vor vielen Jahren. Dann war da ein großer, schwarzblauer Kater, der überall auftauchte und von dem das Gerücht ging, er könne wie eine Fliege an der Decke entlanglaufen. Da gab es große, lange, feine, gehäkelte Silberfäden für den Weihnachstbaum - oder waren es uralte Spinnweben? Ja, und da gab es all die Hintertreppenromane, die die Dienstmädchen nachher wohl für ein paar Pfennige hier verkauft hatten - ; voller Fett- und Talglichtflecke, Spuren ihrer ehemaligen Leserinnen,  «Haß und Liebe oder zwei Frauen unter einem Dache» ... «Räuberhauptmann Zimmermann, der Freund der Armen, der Schrecken der Tyrannen» ... «Dornröschen oder die Verfolgung um die Erde» ... «Fünfundzwanzig Jahre lebendig begraben oder Dolch, Kreuz und Liebe» ... «Die Wilddiebe oder die Räuberbraut vom Bayrischen Wald» ... Schöne Titel waren das. Ich las alle Hefte, die ich kaufen konnte. Auch borgten wir literaturbeflissenen Freunde sie untereinander aus. In der Handlung waren sie einander immer ziemlich ähnlich, aber für mich fiel diese Unzulänglichkeit nicht ins Gewicht. Je roher und unwahrscheinlicher die Handlung, desto mehr erbaut war ich über die tollkühnen, manchmal ans Märchenhafte grenzenden Abenteurer- und Räubergeschichten. Großartig, wie der Räuberhauptmann Zimmermann, mit einer Hand an die Plattform des Gefängnisturms geklammert, mit der anderen seine eben gerettete Geliebte haltend, unter sich den Abgrund mit dem reißenden Elbestrom, ruhig die Häscher über sich abziehen ließ - wobei diese, ohne es zu ahnen, ihm noch auf die anklammernde Hand traten!  - George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst 1955

Bibliothek (4)

"La Cité des Livres"

- François Schuiten

Bibliothek (5)  Hier herrscht das Buch, man spürt es sofort. Die Menschen, die in der Bibliothek walten, sind mit dem Buch, dem reflektierten Leben, in Berührung gekommen und selber gleichsam nur noch eine Spiegelung wirklicher, lebendiger Menschen.

Sogar die Bediensteten in der Garderobe sind rätselhaft still, von beschaulicher Ruhe erfüllt, nicht brünett und nicht blond, sondern irgendwas dazwischen.

Zu Hause am Sonntag trinken sie vielleicht Sprit und verprügeln ihre Frau, doch in der Bibliothek ist ihr Wesen geräuschlos, unauffällig und dämmerig-verschleiert.

Es gibt da auch einen Garderobier, der zeichnet. In seinen Augen ist zärtliche Trauer. Einmal in vierzehn Tagen, wenn er einem beleibten Herrn in schwarzem Jackett den Mantel abnimmt, sagt er leise: »Nikolai Sergejewitsch haben Gefallen an meinen Zeichnungen gefunden, und Konstantin Wassiljewitsch haben ebenfalls Gefallen daran gefunden; über die Anfangsgründe bin ich weg, aber wie es weitergehen soll, weiß ich nicht.«

Der beleibte Herr hört zu. Er ist Reporter, verheiratet, gefräßig und überarbeitet. Einmal in vierzehn Tagen geht er in die Bibliothek, um zu entspannen; da vertieft er sich in Kriminalprozesse, zeichnet sorgfältig einen Tatortplan aufs Papier, ist höchst zufrieden und vergißt, daß er verheiratet und abgearbeitet ist.

Der Reporter hört dem Garderobier bestürzt zu und denkt: Was macht man mit so einem Mann ? Gibt man ihm beim Weggehen zehn Kopeken, so ist er vielleicht beleidigt, denn er ist Künstler; gibt man ihm nichts, so ist er vielleicht auch beleidigt, denn er ist schließlich Angestellter.

Im Lesesaal sitzen die höheren Angestellten, die Bibliothekare. Einige, die »markanten«, sind mit augenfälligen körperlichen Defekten behaftet: der eine hat verkrümmte Finger, der andere trägt den Kopf schief. Sie sind schlecht gekleidet und spindeldürr. Sie sehen aus, als beherrsche sie ein verzehrender Gedanke, von dem die Welt nichts weiß. - (babel)

Bibliothek (6)

- Guido Argentini, Private Rooms

Bibliothek (7)

- Paul Rumsey

Bibliothek (8)  Die Luft roch nach ausgebrannten Kerzen.

Richter Di trat über die Schwelle und blickte um sich. Es war ein ziemlich großer achteckiger Raum. Oben an den Wänden waren vier kleine Fenster mit buntem Glas, die ein sanftes, zerstreutes Licht verbreiteten. Über den Fenstern befanden sich zwei vergitterte Öffnungen, ungefähr zwei Quadratfuß groß. Außer diesen gab es keine Möglichkeit, Luft hereinzulassen, es sei denn durch die Tür, durch welche sie eben gekommen waren. Sonst wiesen die Wände keinerlei Öffnung auf. Über dem gegenüber der Tür mitten im Raum stehenden Schreibtisch aus geschnitztem Ebenholz lag in einem grün brokatenen Hauskleid eine magere Gestalt. Ihr Kopf ruhte auf dem gebeugten linken Arm, die rechte Hand lag ausgestreckt auf dem Tisch und hielt noch den Schreibpinsel von rotem Lack. Eine kleine schwarzseidene Mütze war zu Boden gefallen, so daß man des Opfers langes graues Haar sehen konnte.

Auf dem Schreibtisch bemerkte man das übliche Schreibzeug.

Auf einer Ecke stand eine kleine Porzellanvase mit welken Blumen. Zu jeder Seite des Toten stand ein Kupferleuchter, dessen Kerzen gänzlich niedergebrannt waren.

Mit einem Blick auf die mit übermannshohen Bücherregalen bedeckten Wände sagte Richter Di zu Tao Gan:

«Prüf mal diese Wände auf geheime Füllungen. Sieh dir mal die Fenster an und die Öffnungen da.»

Während Tao Gan sein Oberkleid ablegte, um auf die Bücherregale zu steigen, befahl der Richter dem Beschauer, sich die Leiche anzusehen.

Der Beschauer befühlte Schultern und Arme. Dann versuchte er, den Kopf aufzuheben. Die Leiche war steif geworden. Er mußte den Körper nach rückwärts in den Sessel biegen, um das Gesicht des Toten besichtigen zu können.

Die blinden Augen des alten Generals starrten zur Decke empor. Er hatte ein mageres, runzliges Gesicht, das im Ausdruck von Überraschung erstarrt war. Aus seinem dürren Hals ragte einen Zoll lang eine dünne, einen halben Finger breite Klinge. Sie trug einen merkwürdigen Knauf aus massivem Holz, der nicht viel dicker als die Schneide und nur einen halben Zoll lang war.

Richter Di blickte eine Weile mit untergeschlagenen Armen auf die Leiche. Dann sagte er zu dem Beschauer:

«Ziehen Sie das Messer heraus!»

Der Beschauer vermochte den kurzen Griff nur mit Mühe zu fassen. Als er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger gebracht hatte, ließ er sich leicht herausziehen. Er war nicht tiefer als ein viertel Zoll eingedrungen.   - Robert van Gulik, Mord im Labyrinth. Zürich 1985

Bibliothek (9)  

Bibliothek (10)

Bibliothek (11)

Bibliothek (12)  Die Bibliothek ist durch Gesetz und Gewohnheit verpflichtet, den Benutzern, die sich durch Besitz eines Ausweises legitimieren {den man nicht ohne Mühe erst nach langen Sicherheitsermittlungen und dem Ausfüllen eines heimtückischen Fragebogens, mit dessen Hilfe so mancher ausgeschaltet wird, erhält), das Nachschlagen in jenen Büchern zu gestatten, die ihr Eigentum sind, ihr Ruhm, ihre Mitgift und ihr Schatz, und die sie in der düsteren Stille der Magazine unaufhörlich liebkost, betrachtet und bewundert. Die Verteidigungsstrategie der Bibliothek bestand deshalb darin, den Augenblick so lange wie möglich hinauszuzögern, in dem sie sie herausgeben und den entwürdigenden Blicken dieser Unwissenden vorlegen müßte, von denen sie übrigens argwöhnte, daß es ihre geheime Absicht sei, sie zu besudeln, zu zerfetzen, zu verkratzen, zu beschädigen oder ganz einfach zu stehlen. Ihr ging es darum, den seligen Augenblick des Nachmittags zu erreichen, an dem eine Glocke {Alarmglocke für die Bibliotheksbenutzer, aber Jubelgeläut für sie) das Ende der Buchausleihe für diesen Tag verkündete, nachdem sie der Habgier der Barbaren so wenige Bücher wie möglich ausgeliefert hatte. Deshalb mußte der Leser, sobald es ihm gelungen war, in die Festung einzudringen, mit größter Geschwindigkeit und Gewandtheit handeln, was auch der Grund für das hemmungslose Gedränge auf den Treppen war, die in den Katalogsaal führten. - Jacques Roubaud, Die schöne Hortense. München 1992 (zuerst 1985)


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