- Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese.
Zürich 2000 (zuerst ca. 1860)
Wille (2) »Ich will meinen kleinen
Finger heben, und die Hebung desselben findet statt. Bewegt etwa mein Wille
den Finger direct? Nein, denn wenn der Armnerv durchschnitten ist, so kann
der Wille ihn nicht bewegen. Die Erfahrung lehrt, daß es für jede Bewegung
nur eine einzige Stelle gibt, nämlich die centrale Endigung der betreffenden
Nervenfaser, welche imstande ist, den Willensimpuls für diese bestimmte
Bewegung dieses bestimmten Gliedes zu empfangen und zur Ausführung zu bringen.
Ist diese eine Stelle beschädigt, so ist der Wille ebenso machtlos über
das Glied, als wenn die Nervenleitung von dieser Stelle nach den betreffenden
Muskeln unterbrochen ist.« Und ein wenig später, vollends deutlich: »...
so ist es auch die Erregung am Centrum, von welcher der Strom ausgeht...«
Mit einer geringen, übrigens unwesentlichen Abweichung vom strengen Bildzusammenhang
der telegraphischen Sprache wird alsdann die unmittelbare Tätigkeit des
Willens im Verhältnis zu den Zentralnerven-Endigungen auf die folgende,
suggestiv einleuchtende und handfeste Art beschrieben: »Wir können uns
also die centralen Endigungsstellen der motorischen Nervenfasern gleichsam
als eine Claviatur im Gehirn denken; der Anschlag
ist, abgesehen von der Stärke, immer derselbe, nur die angeschlagenen Tasten
sind verschieden.« - Eduard von Hartmann, nach: Dolf Sternberger,
Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1974 (st
179, zuerst 1938)
Wille (3) Unregelmäßig in seinen Mahlzeiten,
aß Napoleon schnell und schlecht. Auch hier findet man diesen
absoluten Willen, den er überall kundgetan. Kaum spürte er Appetit, sofort
mußte er gestillt werden, und seine Leute waren darauf dressiert, an jedem
Ort und zu jeder Stunde ihm sofort beim ersten Befehl Geflügel, Koteletten
und Kaffee vorzusetzen. - (
bri
)
Wille (4) Der Wille hat seinen Sitz
nicht im Gehirn, und überdies ist er, als das
Metaphysische, das prius des Gehirns, wie des ganzen Leibes, daher
nicht durch Verletzungen des Gehirns veränderlich. - Nach einem von Spallanzani
gemachten und von Voltaire wiederholten Versuch bleibt eine Schnecke,
der man den Kopf abgeschnitten, am Leben, und nach einigen Wochen wächst
ihr ein neuer Kopf, nebst Fühlhörnern: mit diesem
stellt sich Bewußtseyn und Vorstellung wieder ein; während bis dahin das
Thier, durch ungeregelte Bewegungen, bloßen, blinden Willen zu erkennen
gab. - (
wv
)
Wille (5) Auf eine ganz großartige
Weise kann man zu einer intuitiven Erkennmiß vom Daseyn und Wirken des
Willens in der unorganischen Natur gelangen, wenn man sich in das Problem
der drei Körper hineinstudirt
und also den Lauf des Mondes um die Erde etwas genauer
und specieller kennen lernt. Durch die verschiedenen Kombinationen, welche
der beständige Wechsel der Stellung dieser drei Weltkörper gegen einander
herbeiführt, wird der Gang des Mondes bald beschleunigt, bald verlangsamt,
und tritt er der Erde bald näher, bald ferner: dieses nun aber wieder anders
im Perihelio [Sonnennähe], als im Aphelio [Sonnenferne] der Erde; welches
Alles zusammen in seinen Lauf eine solche Unregelmäßigkeit bringt, daß
derselbe ein wirklich kapriciöses Ansehn erhält, indem sogar das zweite
Keplerische Gesetz nicht mehr unwandelbar gültig bleibt, sondern er in
gleichen Zeiten ungleiche Flächen umschreibt. Die Betrachtung dieses Laufes
ist ein kleines und abgeschlossenes Kapitel der himmlischen Mechanik, welche
von der irdischen sich durch die Abwesenheit alles Stoßes und Druckes,
also der uns so faßlich scheinenden vis a tergo [von hinten treibenden
Kraft], und sogar des wirklich vollbrachten Falles, auf erhabene Weise
unterscheidet, indem sie neben der vis inertiae [Kraft der Trägheit] keine
andere bewegende und lenkende Kraft kennt, als bloß die Gravitation,
diese aus dem eigenen Innern der Körper hervortretende Sehnsucht
derselben nach Vereinigung. Wenn man nun, an
diesem gegebenen Fall, sich ihr Wirken bis ins Einzelne veranschaulicht;
so erkennt man deutlich und unmittelbar in der hier bewegenden Kraft eben
Das, was im Selbstbewußtseyn uns als Wille gegeben ist. Denn die Aenderungen
im Laufe der Erde und des Mondes, je nachdem eines derselben, durch seine
Stellung, dem Einfluß der Sonne bald mehr, bald
weniger ausgesetzt ist, haben augenfällige Analogie mit dem Einfluß neu
eintretender Motive auf unsern Willen und mit den Modifikationen unsers
Handelns danach. - (
wv
)
Wille (6) »Das Wollen ist auch nur eine Erfahrung«, möchte man sagen (der ‹Wille‹ auch nur ›Vorstellung‹). Er kommt, wenn er kommt, und ich kann ihn nicht herbeiführen.
Nicht herbeiführen? - Wie was? Was kann ich denn herbeiführen?
Womit vergleiche ich das Wollen, wenn ich dies sage? - (
wit
)
Wille (7) »Kein Mensch
seiner Zeit und vielleicht überhaupt keiner Zelt«, sagt Carpenter
(zitiert von M. Ribot in seinem schönen Buch über die Krankheiten
des Willens), »hat mehr als Coleridge die Kraft des Verstandes eines
Philosophen und die Phantasie eines Dichters
in sich vereint. . . Und doch gibt es niemand, der bei Begabung mit so
hervorragenden Talenten weniger Nutzen daraus gezogen hätte: der große
Mangel seines Charakters war, daß ihm der
Wille fehlte, um seine natürlichen Gaben zu nutzen, so daß er, obwohl ihm
ständig gigantische Projekte vorschwebten, niemals
ernsthaft versucht hat, auch nur ein einziges auszuführen. Er fand zum
Beispiel zu Beginn seiner Laufbahn einen großzügigen Verleger, der ihm
dreißig Guineen für Gedichte versprach, die er vorgetragen hatte,... doch
kam er lieber jede Woche betteln, als eine einzige Zeile des Gedichts zu
liefern, das er nur hätte aufzuschreiben brauchen, um sich zu befreien.«
- Marcel Proust, Tage des Lesens. Frankfurt am Main 1967 (es 37,
zuerst 1925)
Wille (8)
Wille (9) »Er willens und sie gewillt«,
wie Homer sagt, entfernten sie sich rasch
außer Sicht des Landhauses. - (cowp)
Wille (10) Der Wille gibt dem
Werke Wärme, die Seele nimmt es auf, die Vernunft führt es aus, und der
Intellekt zeigt, ob es gut oder böse ist. Der Wille besitzt eine große
Seelenkraft. Wieso? Die Seele steht im Herzensgründe, wie der Mensch an
einer Ecke seines Hauses, um es ganz zu überschauen, alle Werkzeuge des
Hauses zu leiten und sich nach Osten kehrend mit erhobenem rechten Arme
Zeichen zu geben, was man zum Wohle des Hauses erledigen soll. So macht
er die Seele gegen Sonnenaufgang gewendet durch die Straßen des ganzen
Körpers hin. Sie legt den Willen gleichsam als den rechten Arm auf den
Grund der Adern und des Markes, um den ganzen Körper zu bewegen; denn
der Wille tut alles, das Gute und das Böse.
Wie das Feuer im
Ofen, so kocht der Wille jedes Werk. Das Brot wird gebacken, damit es
die Menschen verzehren, davon Kraft bekommen und also leben können. So
ist auch der Wille die Starke des ganzen Werkes. Er zermahlt es in der
Überlegung, gibt in seiner Stärke den Sauerteig hinein und zermürbt es
in seiner Härte. So bereitet er das Werk in dessen Prüfung zu, kocht es
in seiner Hitze und gibt auf diese Weise dem Menschen eine kräftigere
Nahrung als im Brote. Denn während die Speise manchmal im Menschen
aufhört, währt das Werk des Willens bis zur Trennung von Leib und Seele
fort. Ist auch das Wirken des Kindes, des jungen Menschen, dessen, der
in der Vollkraft steht, und des vom Alter Niedergebeugten sehr
verschieden, immer schreitet es im Willen einher und zeigt in ihm seine
Vollendung. Der Wille hat in der Brust des Menschen ein Gezelt, das Gemüt. - (bin)
Wille (11) Und darin leit der
Wille, der stirbet nimmer. Wer kennet die mysteria des Willens sampt
seiner Macht? Ist doch GOtt selbst nur ein großer Wille, der durchdringt
alle Ding ob seines hohen Elferns. Der Mensch stehet den Engeln nach,
ja letztlich dem Tode selbst, nur kraft der Schwäche seines so matten
Willens. - Joseph Glanvill, nach: Edgar Allan Poe, Ligeia. Nach E. A. P., Werke I. Olten 1966
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