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Meine älteste Schnecke ist heute gestorben. Geboren Ende September 1964, verstorben am 25. Juli 1967. Sie reiste von England nach Amerika und zurück, war fünf- oder sechsmal in Paris, auf Mallorca und in Tunesien. Sie legte rund fünfhundert Eier, obschon sie selbst einem verformten Gelege von achtzig Eiern entstammt, das wegen zu nassen Untergrunds beinahe einging und von dem ich nur gerade sechzig retten konnte. Die älteste Schnecke, die ich je hatte. |
- Patricia Highsmith,
Notizbuch 29, 26.7.1967
Schnecke (2) Was Träume bedeuten, in denen S. vorkommen, ist weitgehend ungeklärt. Hingegen sehen wir uns in der erfreulichen Lage, erstmals darüber berichten zu können, was S. selbst träumen. Untersucht wurden je 30 Exemplare der Weinbergs. (Helix pomatia L.), der Gartenschnirkels. (Cepaea hortensis), der schwarzen Kellers. (Limax maximus) sowie je 10 Streusel- und Zuckers. War das Traumerleben letzterer überraschend trocken und unentwickelt, so erwiesen sich demgegenüber die echten S. als sehr intensive Träumer. Wie nicht anders zu erwarten, wurden vor allem Wunschträume registriert, die eine grundlegende Veränderung der Fortbewegungsweise zum Gegenstand hatten. Durchschnittlich 63% der S. würden es begrüßen, wenn ihnen Beine wüchsen; die meisten sehen als ihr Vorbild den Tausendfüßler an, doch gäben sich einige auch mit 2 ... 3 Beinen zufrieden. 17,5% sehnen sich nach Flügeln, 9% nach Schwimmflossen; 6,3% möchten eine Eisenbahn sein, 3,2% ein Dreirad und 0,8% eine Rakete.
Lediglich 0,2% der S. erklärten, sie seien nun einmal an das
Kriechen gewöhnt, und es würde ihnen nichts ausmachen, diese
gemächliche Fortbewegungsweise beizubehalten. Relevante Abweichungen
vom Durchschnitt waren nur bei der Achats, zu beobachten. Ihr
schwebt als ideale Fortbewegungsweise in 81,4% der Fälle die
eines Bumerangs und in 18,6% die eines Marathonläufers vor. Fast
alle S. gaben zu verstehen, daß sie kaum Hoffnung haben, ihre
diesbezüglichen Wünsche jemals verwirklicht zu sehen. Weitere
Trauminhalte waren: Veränderung bzw. eindeutige Festlegung
des Geschlechts (typischer Zwittertraum),
Überwindung der beengten Wohnverhältnisse durch großzügige Förderung
des S.hausbaus, Gründung einer Gesellschaft der S.förderer als
Interessenvertretung und Überwindung der menschlichen Unsitte,
S. zu verzehren. Letztgenannter Wunsch ist bereits so stark in
das S.bewußtsein eingedrungen, daß unlängst einem aus 72 Weinbergs,
bestehenden Todeskommando ein sensationelles Attentat auf den
Weltmeister im S.essen, Marc Quinquandon aus Bouillonville in
Frankreich, gelang; er starb, nachdem er sie innerhalb von drei
Minuten verschlungen hatte. - (
ski
)
Schnecke (3) Seit dem Krieg suchte
Karl mindestens einmal in der Woche ein Tanzlokal auf. Er konnte sehr gut
tanzen und äußerst einschmeichelnd Swingmusik auf dem Klavier spielen. Meinen
Eltern gefiel diese Musik nicht, ihnen gefielen auch seine Besuche in den Tanzlokalen
nicht, und dieses Mädchen gefiel ihnen am allerwenigsten. Sie war Halbjüdin,
und ihr Körper war so weich, daß man sich fragte, ob sie überhaupt Knochen im
Leibe hatte. Ihr Gesicht war blaß, leicht aufgedunsen und wirkte ungesund, die
Augenlider waren schwer und ihr Mund unförmig. Ihre Stimme klang schleppend
und gewöhnlich, und ihr Akzent war eindeutig nicht der unserer Klasse. Karl,
der gegenüber diesen Merkmalen nicht blind war, nannte sie selbst »die Schnecke«,
aber mit dem dahinschmelzenden Unterton der Verliebtheit. Die Schnecke wurde
uns vorgestellt. Mich schloß sie sofort ins Herz, spürte aber deutlich den Widerstand
der restlichen Familie. Karl hatte die Verletzungen, die er im Kriege erlitten
hatte, nie ganz überwunden. Das Schrapnell, das ihn im Rücken traf, als er noch
Rekrut in Posen war, hatte bleibende Schäden hinterlassen; seine Nieren waren
dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Gleichermaßen beunruhigend waren die Nachwirkungen
seines Nervenzusammenbruchs, den er erlitten hatte, als er in jenem Schützengraben
in Frankreich verschüttet worden war. Er hatte immer noch Probleme mit den Nerven,
wenngleich er nicht zuließ, daß sie seine Arbeit beeinträchtigten, der er sich
mit einer ebenso grimmigen wie schonungslosen Energie gegenüber sich selbst
widmete wie Ludwig der seinen. Aber sein Sexualleben hatte sich nicht vollkommen
normal entwickelt, so daß er noch im Alter von weit über zwanzig keine Erfahrungen
mit Frauen hatte. Mit einer Geduld und einem Verständnis, die unseren Respekt
verdient hätten, hatte »die Schnecke« ihn in die Lehre genommen und tatsächlich
vollständig kuriert. - Julius Posener, Heimliche Erinnerungen. München 2004
Schnecke (4) Im Gegensatz zu den glühenden
Kohlen, den Gästen der heißen Asche, lieben die Schnecken die feuchte Erde.
Go on, sie bewegen sich voran, den ganzen Körper an sie geklebt. Sie
tragen sie mit sich fort, sie verzehren sie, sie scheiden sie wieder aus. Sie
geht durch sie hindurch. Sie gehen durch sie hindurch. Es ist ln gegenseitiges
Durchdringen im besten Geschmack, weil sozusagen innerhalb desselben Farbtons,
- mit einem passiven Element ein aktives; das passive nährt und umgibt zugleich
das aktive, das sich fortbewegt, indem es verzehrt. (Es gibt noch andre Dinge
von den Schnecken zu berichten. Da ist ihre eigene Feuchtigkeit. Ihr kaltes
Blut. Ihre Dehnbarkeit.) Festzustellen wäre ferner, daß man sich keine Schnecke
vorstellen kann, die ihr Haus verlassen hätte und sich nicht bewegte. Ruht sie
sich aus, kehrt sie sogleich tief in sich selbst zurück. Im Gegensatz dazu treibt
sie ihr Schamgefühl, sich zu bewegen, sobald sie ihre Nacktheit
zeigt, sobald sie ihre verwundbare Gestalt preisgibt. Sobald sie sich der Gefahr
aussetzt, läuft sie. In Dürrezeiten ziehen sie sich in Gräben zurück, deren
Feuchtigkeit übrigens zum Teil durch die Anwesenheit ihrer Körper festgehalten
zu werden scheint. Ohne Zweifel leben sie dort mit anderen Kaltblütlern, Kröten
und Fröschen, gutnachbarlich zusammen. Kommen sie wieder
zum Vorschein, so nicht im gleichen Schritt. Es ist ihnen um so höher anzurechnen,
wenn sie dort hinunterklettern, als es ihnen gar nicht leicht fällt, wieder
herauszukommen. - (
frp
)
Schnecken (5) sind zwar der Erdengüter höchstes
nicht, doch aber zur Erregung angenehmer Empfindungen geeignet. Als Füllsel
für einen saftigen Kapaun gebraten, vermögen sie sogar weniger empfängliche
Gemüter mit stiller Sehnsucht zu erfüllen, und in der Gestalt von Tartarin-Schnecken,
die mit gemessenen Zwiebeln, Schalotten und Tomaten in Butter gedünstet,
mit Bratensauce getränkt, mit gehackten Knoblauchzehen und Feinkräutern gewürzt
und mit frischer Butter serviert werden, bereiten sie unstreitig beinahe ebensoviel
Vergnügen wie die Aufschneiderei ihres unvergeßlichen Paten, des großen Tartarin
von Tarascon. Auch mit Kapern und Sardellen in legierter Buttersauce gedünstet
oder mit Knoblauchbutter geröstet und auf duftiges Sauerkraut gebettet
oder gefüllt mit Essig und Öl gegeben, verfehlen sie eines angenehmen Eindrucks
nicht. Die deutsche Küche des 18. Jahrhunderts schwang sich sogar zu Schneckenklößen,
Schnecken-Pasteten, gebackenen Schnecken und endlich auch zu gespickten
Schnecken auf, die sie mit rührender Sorgfalt am Spieße briet; der Neuzeit
dagegen genügt schon der einfache Schneckensalat und die schlichte Schneckensuppe,
die als angenehme Abwechslung sogar von verhärteten Fastenbrechern geschätzt
wird. - (
ap
)
Schnecke (6)
DIE SCHNECKE BETRACHTEND Die Schnecke schiebt sich durch eine grüne die blassen Hörner rühren sich kaum die Grashalme über dem Tunnel |
- Thom Gunn, nach
(frach)
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