enschheit   Taine gab Flaubert wiederholt zu verstehen, der Gegenstand seines Romans erfordere eine Feder des achtzehnten Jahrhunderts, die knappe Schärfe und die Bissigkeit (le mordant) eines Jonathan Swift. Möglicherweise sprach er von Swift, weil er irgendwie die innere Verwandtschaft zwischen den beiden großen und traurigen Schriftstellern herausspürte. Beide haßten mit eingehendem Grimm die menschliche Dummheit; beide dokumentierten diesen Haß, indem sie im Laufe der Jahre platte Redensarten und blöde Ansichten sammelten; beide wollten das ehrgeizige Streben der Wissenschaft niedermachen. Im dritten Teil von Gulliver beschreibt Swift eine verehrte und umfassende Akademie, deren Mitglieder den Antrag stellen, die Menschheit solle sich mündlicher Rede enthalten, um die Lungen zu schonen. Andere erweichen den Marmor, um aus ihm Decken und Kopfkissen herzustellen; andere setzen sich für die Züchtung einer Art Schafe ein, die keine Wolle haben; andere glauben die Rätsel des Universums mittels eines Holzgestells mit eisernen Zeigern zu lösen, das wahllos Wörter kombiniert. Diese Erfindung zielt gegen die Ars magna von Raimundus Lullus ...

René Descharmes hat die Chronologie von Bouvard et Pécuchet nachgeprüft und verworfen. Die Handlung nimmt rund vierzig Jahre in Anspruch; die Protagonisten sind achtundsechzig Jahre alt, als sie sich der Gymnastik zuwenden, im selben Jahr, in dem Pécuchet die Liebe entdeckt. In einem Buch, das mit Umstandsschilderungen derart vollgestopft ist, verharrt gleichwohl die Zeit in Bewegungslosigkeit; außer den Experimenten und Fehlschlägen der beiden faustischen Helden (oder des doppelköpfigen Faust) geschieht nichts; es fehlen die gewöhnlichen Wechselfälle, die Fatalitat und der Zufall. »Die Komparsen der Auflösung sind die Komparsen des Vorspiels; niemand ist unterwegs, niemand stirbt«, bemerkt Claude Digeon. An einer anderen Stelle schließt er mit dem Satz: »Die intellektuelle Redlichkeit spielte Flaubert einen schrecklichen Streich: Sie trieb ihn dazu, seine philosophische Erzählung zu überladen, damit er, um sie zu schreiben, am Stil des Romanciers festhalten konnte.«

Die lässigen oder unachtsamen Verstöße oder Freiheiten des späten Flaubert haben die Kritiker konsterniert; ich glaube, in ihnen ein Symbol zu erblicken. Der Mann, der mit Madame Bovary den realistischen Roman schuf war auch der erste, der mit ihm brach. Vor nicht allzu langer Zeit schrieb Chesterton: »Der Roman kann sehr wohl mit uns aussterben.« Flauberts Instinkt sah diesen Tod voraus, der sich heute vollzieht — ist nicht der Ulysses mit seinen Plänen und Zeittafeln und Präzisionen die strahlende Agonie einer Gattung? —, und verdammte im fünften Kapitel seines Werks die »statistischen oder ethnographischen Romane« Balzacs und damit auch die Zolas. Deshalb neigt sich in Bouvard et Pécuchet die Zeit der Ewigkeit zu; deshalb sterben die beiden Helden nicht, sondern kopieren nahe bei Caën fernerhin ihren anachronistischen Sottisier, 1914 ebenso unwissend wie 1870; deshalb blickt das Werk zurück auf die Parabeln Voltaires und Swifts und der orientalischen Erzähler und voraus auf die Parabeln Kafkas.

Vielleicht gibt es noch einen anderen Schlüssel. Um das Trachten der Menschheit zu verspotten, schrieb Swift es Pygmäen oder Affen zu, Flaubert zwei grotesken Individuen. Wahrlich, wenn die Weltgeschichte die Geschichte Bouvards und Pécuchets ist, dann ist alles, woraus sie besteht, lächerlich und hinfällig. - (bo2)

Menschheit (2) Man kann sich das Menschengeschlecht bildlich als ein animal compositum [zusammengesetztes Lebewesen] vorstellen, eine Lebensform, von welcher viele Polypen, besonders die schwimmenden, wie Veretillum, Funiculina [Schwimmpolyp, Seefedern] und andere Beispiele darbieten. Wie bei diesen der Kopftheil jedes einzelne Thier isolirt, der untere Theil hingegen, mit dem gemeinschaftlichen Magen, sie alle zur Einheit eines Lebensprocesses verbindet; so isolirt das Gehirn mit seinem Bewußtseyn die menschlichen Individuen: hingegen der unbewußte Theil, das vegetative Leben, mit seinem Gangliensystem, darin im Schlaf das Gehirnbewußtseyn, gleich einem Lotus, der sich nächtlich in die Fluth versenkt, untergeht, ist ein gemeinsames Leben Aller, mittelst dessen sie sogar ausnahmsweise kom-municiren können, welches z. B. Statt hat, wann Träume sich unmittelbar mittheilen, die Gedanken des Magnetiseurs in die Somnambule übergehn, endlich auch in der vom absichtlichen Wollen ausgehenden magnetischen, oder überhaupt magischen Einwirkung. - (wv)

Menschheit (3)

Menschheit (4)  August Ludwig Schlözer, der weltweit gelehrte Schwabe, Petersburger Geschichtsprofessor, Göttinger Professor der Philosophie, Herausgeber der köstlich zeitkritischen „Staatsanzeigen" (die 1793 nach einem Zusammenstoß mit einem Zollbeamten verboten wurden) und des „Versuchs einer Geschichte der Seefahrt und Handlung", kam zu dem Schluß, die „lumpigte Menschheit* bestehe aus lauter Tyrannen, Feiglingen, Räubern und Dummköpfen".  - Nach (bord)

Menschheit (5)

Menschheit (6)

Menschen (psychisch)
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