- Michel Leiris, Spiegel der Tauromachie, eingeleitet durch
Tauromachien. Mit Zeichnungen von André Masson. München 1982
(entstanden 1937)
Riß (2) Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, das er noch nicht einmal als Vorahnung hätte bezeichnen können. Es war vielmehr eine seiner Theorien, die er übrigens nie weiterentwickelt hatte und die auch in seiner Vorstellung unscharf blieb. Für sich nannte er sie die Theorie vom Riß.
In jedem Missetäter, in jedem Banditen steckt ein Mensch, aber auch und vor allem ein Spieler, ein Gegner, und auf ihn hat es die Polizei abgesehen, er ist es, den sie im allgemeinen bekämpft.
Wird ein Verbrechen begangen oder irgendein Delikt? Der Kampf gilt den mehr oder weniger objektiven Gegebenheiten. Dem Problem mit einer oder mehreren Unbekannten, das der Verstand zu lösen versucht.
Maigret handelte wie die anderen. Und wie jene bediente er sich ungewöhnlicher Hilfsmittel, die die Bertillon, die Reiss oder Locard in die Hände der Polizei lieferten und die eine Wissenschaft für sich darstellen.
Aber er suchte, erwartete, belauerte vor allem den Riß. Mit
anderen Worten: den Augenblick, in
dem hinter dem Spieler der Mensch
erscheint. - Georges Simenon, Maigret und Pietr der Lette.
Zürich 1978 (detebe 155/2, zuerst 1929)
Riß (3) Der Sturm ging noch immer um in all
seiner Wut, als ich mich auf dem alten Fahrdamm wieder fand. Plötzlich schoß
Wildlicht grell über meinen Weg, und ich fuhr herum, um zu sehen, von wo solch
seltsamer Schimmer ausgehen könne; waren doch hinter mir einzig das Haus &
seine weitläufigen Schatten. Die Strahlung entstammte dem blutrot seinem Untergang
zusinkenden Vollmond, der nunmehr satt durch jenen kaum sichtbaren Riß schimmerte,
welcher im Zickzackzug vom Dach des Gebäudes bis hinab zur Grundmauer
verlief. Während ich noch so hinstarrte, klaffte der Riß rapid weiter auf -
rasend fauchte ein Windstoß heran - der volle Kreis des Satelliten brach auf
einmal hervor - mir schwindelte der Kopf, als die Mauern wie Vorhänge
auseinander flogen - da erscholl ein langes tumultuarisches Gegröhl, wie die
Stimme von tausend Wassern - und der unergründliche klamme Pfuhl zu meinen Füßen
schloß sich mürrisch & schweigend über den Trümmern des HAUSES ASCHER. - E. A. Poe, Der Fall des Hauses Ascher. In: E.A.P.,
Werke Bd. 1. Olten u. Freiburg i.Br. 1966 (Übs.
Arno Schmidt, zuerst 1839)
Riß (4) Ohne die geringste Vorwarnung tat sich in Erde, Wasser und Dunkelheit ein Riß auf ... Woher er kam, ob aus eigenem Antrieb und ob es die gleiche Umwandlung der Materie war, die ihn in jüngster Zeit so ergriffen hatte, nur einen Schritt weitergetrieben, erfuhr Sam nie; doch er wußte, wie ihm. geschah, und wußte es, ohne im Geringsten zu zweifeln oder zu fragen.
Was er sah, war zuerst von einem krachenden Schmerz begleitet. Das war das Wort, das Sam einfiel, als er einen Ausdruck dafür suchte - das Wort krachend. Doch als vor ihm die Sicht klar und deutlich wurde, verflog dieser Schmerz. Doch zuerst machte er benommen, tat weh und blendete und war in seinem Gedächtnis mit dem Eindruck eines scharfen, länglich geformten Dings verknüpft, das durch seine Eingeweide schnitt. Der Schmerz war so überwältigend, daß Sams ganzes Bewußtsein gleichsam zur verborgenen Dunkelheit seines innersten Organismus wurde, und als diese Dunkelheit durchschnitten wurde, die ganze Atmosphäre aufriß, Erde und Himmel sich teilten, wurde seinem Gefühl nach ein riesenhafter Speer in sein Gedärm gestoßen, und zwar von unten gestoßen.
Er hatte aufgehört, ein Mann zu sein, der im Heck eines Kahns auf einem Kohlensack saß. Er war zu einer blutenden Masse aus Finsternis geworden. Sein Bewußtsein war eine dunkle Wasseroberfläche; und durch dieses Wasser, es zerteilend, es zerschlitzend, es zerfetzend und es in Blut verwandelnd, zitterte dieser krachende Hieb, dieser Schlag, der ihm aus den Abgründen der Erde, weit tiefer als der Grund des Brue, versetzt wurde.
Was auch immer dieser »Speer« war, der ihn so getroffen hatte, daß sein ganzes animalisches Wesen darunter erbebte, es war ebensosehr der unerwartete Schrecken von etwas vollkommen Unbekanntem, der menschlichen Erfahrung Neuem, greulich in seiner Fremdartigkcit, das so an seinen Eingeweiden zerrte wie der krachende Schmerz, der damit einherging.
Doch als die Vision auftauchte - und sie kam
mitten in diese blutende Finsternis gesegelt, die Sanis Bewußtsein war, alles
heilend, alles ändernd -, sah er jede Einzelheit dessen, was er erblickte, mit
einer Klarheit, die sich auf ewig seinem Gedächtnis einbrannte. Er sah einen
kugelförmigen Kelch mit zwei kreisrunden Griffen. Das Material, aus dem er gemacht
war, war klarer als Kristall; darinnen war dunkles Wasser mit Blutspuren und
im Wasser ein glänzender Fisch. - (cowp)
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