chmerz Im
höchsten Schmerz tritt zuweilen eine Paralysis der Empfindsamkeit ein. Die Seele
zersetzt sich. Daher der tödtliche Frost, die freye Denkkraft, der schmetternde
unaufhörliche Witz dieser Art von Verzweiflung.
Keine Neigung ist mehr vorhanden; der Mensch steht wie eine verderbliche Macht
allein. Unverbunden mit der übrigen Welt verzehrt er sich allmählig selbst,
und ist seinem Princip nach Misanthrop und Misotheos.
- Novalis, Blüthenstaub
(1798)
Schmerz (2) Wenn
ich Rentner wäre, mit einer Rente von fünfzigtausend Francs, versteht sich,
dann dächte ich vielleicht anders. Vorläufig aber bin ich der Meinung, der Mensch
sei eine Maschine, die eigens dafür geschaffen worden ist, Schmerz zu empfinden;
der Mensch hat nur fünf Sinne, um das Wohlbefinden wahrzunehmen, für den Schmerz
dagegen ist er an der ganzen Oberfläche seines Körpers empfänglich; wo man ihn
sticht, blutet er; wo man ihn brennt, bildet sich eine Blase: Die Lungen, die
Leber, die Eingeweide vermögen ihm keinerlei Genuß zu verschaffen; und dennoch
entzündet sich die Lunge und macht ihn husten; die Leber schwillt an und läßt
ihn fiebern; die Därme verschlingen sich und verursachen Koliken. Ihr habt nicht
einen Nerv, nicht einen Muskel, nicht eine Sehne unter der Haut, die euch nicht
vor Schmerz schreien lassen könnten. - Clauder Tillier, Mein Ohkel
Benjamin, nach (
enc
)
Schmerz (3)
Schmerz (4) ›Der Schmerz,
logisch betrachtet, ist nichts anderes als ein Gefühl der Abneigung,
das die Seele gegenüber irgendwelchen Bewegungen empfindet, die ihrer eigenen
Beschaffenheit entgegengesetzt sind und die sie von dem Körper empfängt, den
sie belebt.‹ So jedenfalls sagt Nicole, der im Menschen eine luftförmigc
Substanz ausfindig machte, die er Seele nannte und die
sich von der materiellen Substanz, die wir Körper
nennen, unterscheidet. Was mich betrifft, der ich diese vermessene Belehrung
nicht akzeptiere, sondern im Menschen nur eine absolut materielle Pflanzenart
sehe, so sage ich nur, daß der Schmerz eine Folge der geringen Beziehung des
fremden Gegenstandes zu den uns zusammensetzenden Molekülen ist; die von den
fremden Gegenständen ausströmenden Atome verbinden sich hierbei nicht mit denen
unseres Nervenlaufs, wie es bei der Erregung der Freude
der Fall ist, sondern sie stellen ihnen statt dessen nur Hindernisse entgegen,
sie bedrängen sie, stoßen sie zurück, verketten sich aber niemals. Aber obwohl
es abweisende Wirkungen sind, bleiben es doch Wirkungen. Ob es nun Freude oder
Schmerz ist, was uns geboten wird, immer findet eine gewisse Erregung der Nervenströmung
statt. - Marquis de Sade, Juliette. Nach: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996
Schmerz (5) Krankheit
ist eine Entwurzelung des Lebens, mehr oder weniger ein reduziertes Äquivalent
des Todes, der Seele unausweichlich
durch den Angriff oder die unmittelbare Vorahnung des physischen Schmerzes präsent
gemacht. Bei völliger Abwesenheit physischer Schmerzen gibt es keine Erkrankung
der Seele, weil unsere Gedanken sich zu jedem Gegenstand hinzuwenden vermögen.
Das Denken flieht die Krankheit ebenso schnell und unausweichlich wie ein Tier
den Tod flieht. Hier unten hat nur der physische Schmerz und nur er die Macht,
unsere Gedanken an die Kette zu legen. - Simone Weil, nach: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996
Schmerz (6) Es
gibt keinen anderen Weg, die Wahrheit zu erkennen. So erkennt mich die Seele
und brennt vor unsagbarer Liebe, was wiederum dauernde Schmerzen verursacht.
Und weil sie wirklich meine Wahrheit ebenso kennt wie ihre eigenen Sünden und
die Undankbarkeit und Blindheit ihres Nachbarn, leidet die Seele unerträglich.
Und doch läßt dieser Schmerz die Seele nicht schrumpfen. Im Gegenteil sie wächst
und gedeiht. Denn sie leidet, weil sie mich liebt... - Katharina von Siena,
nach: David B. Morris, Geschichte des Schmerzes. Frankfurt am Main 1996
Schmerz (7) Der
Schmerz verweilt nicht lange im Fleische, vielmehr hält er auf seinem Höhepunkt
nur ganz kurze Zeit im Fleische an; aber auch wenn er bloß im Übergewicht gegen
die Lust im Fleische ist, währt seine Dauer nicht viele Tage. Langandauernde
Kränklichkeit aber zeigt immer noch ein Übergewicht der Lust im Fleische über
den Schmerz. - Epikur, nach
(diol)
Schmerz (8) Der
Schmerz ist ein unvernünftiges Verzagen; als Arten sind ihm untergeordnet:
Mitleid, Neid, Mißgunst, Eifersucht,
Beschwerde, Bedrängnis, Betrübnis, Wehleid, Bestürzung. Mitleid sei Schmerz
über das unverdiente Leiden eines andern, Neid der Schmerz über fremdes Glück,
Mißgunst Schmerz darüber, daß ein anderer besitzt, was man selbst erstrebt,
Eifersucht Schmerz darüber, daß auch ein anderer besitzt, was man selbst hat,
Be- l schwerde ein drückender Schmerz, Bedrängnis ein beengender und Verlegenheit
bereitender Schmerz, Betrübnis ein infolge von Grübeleien sich festsetzender
und sich steigernder Schmerz, Wehleid ein bekümmernder Schmerz, Bestürzung ein
unvernünftiger Schmerz, der einen gewaltig packt und blind macht gegenüber der
augenblicklichen Sachlage. - Stoiker,
nach
(diol)
Schmerz (9)
Los nueve monstruos Y, desgraciadamente, Jamás, hombres humanos, Crece la desdicha, hermanos hombres, El dolor nos agarra, hermanos hombres, Cómo, hermanos humanos, |
Die neun Ungeheuer Und es nimmt zu, als ein Verhängnis, Niemals, Menschen von Menschenart, Es nimmt zu das Elend, Menschen, Geschwister, Der Schmerz fällt uns an, Menschen, Geschwister, Wie soll ich, Menschen, Geschwister, |
- César Vallejo, Gedichte. Frankfurt am Main 1963 (zuerst
1939)
Schmerz (10)
Es fiel ihm Barbara ein, und in der verkürzten Art des Denkens, die dem
geschmerzten Körper nur übrigbleibt, stellte er sich Barbara als Hauptschuldige
vor. Wenn sie da gewesen wäre, hätte er sie vielleicht niedergeschlagen, zu
einem blutigen Klumpen hätte er sie geschlagen und sie dann hinter die Bratwurstbude
geworfen. Er hätte dann eine Art Beute gemacht und hätte sich etwas zurückholen
können von dem, was ihm der Schmerz weggefressen hatte. Es regnete nicht mehr
so stark, und er trat unter dem Vordach der Bratwurstbude hervor. Es war ihm
schlecht, und er spuckte mehrfach aus. Immer noch trug er den Plastikbeutel
mit den neuen Sandalen. Er hatte das Gefühl, den Mund voller Unrat zu haben,
und im Augenblick war er sogar davon überzeugt, aus dem Mund zu riechen. Noch
einmal machte er im Mundinnenraum einige absaugende Bewegungen und spuckte alles
aus. Nachdem ihn der Schmerz leergemacht hatte, ging er dazu über, ihn zu betäuben.
Eine unerhörte Müdigkeit kam über ihn. Abschaffel wollte sich einschläfern,
und es fiel ihm auch gleich ein, wie er sich auf einfache Weise einschläfern
konnte. Wenn er gewußt hätte wie man heult, hätte er es jetzt getan. Er wollte
in ein Lokal gehen, das ihm nicht gefiel, dort irgend etwas essen, was ihm nicht
schmeckte und zuviel für ihn war, ein oder zwei große Biere dazu trinken, die
seine Augenlider von alleine niederzogen, und dazu in einer Zeitung zwei oder
drei Artikel lesen, die ihn nicht interessierten. Nach höchstens einer Dreiviertelstunde
würde er dann so weit sein, daß er sogar auf einem harten Stuhl sitzend einschlafen
konnte. - (absch)
Schmerz (11) Vater
Goltschalk, dieser Friedlichste, war durch seine Schmerzen rabiat
geworden. Er mußte allein in ein Zimmer gelegt werden, biß Schwestern,
die ihn waschen oder füttern wollten, in die Hände, warf Ärzten, sobald
sie ins Zimmer kamen, an den Kopf, was er an Werfbarem erreichen konnte,
nur Sabine ertrug er noch. Auch sie beschimpfte er, aber er biß und
bewarf sie nicht. Sabine nahm seine Beschimpfungen ernst, litt, was er
litt, mit. Wie es dieses Jahr Weihnachten werden solle, sagte Sabine,
könne sie sich nicht vorstellen.
- Martin Walser, Brandung. Frankfurt am Main 1987
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