Moses sah Gott von hinten (2. Mose 33,23).
Jakob träumte: .... »und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.« (1. Mose 28,12). Oben an der Leiter stand der Herr, aber beschrieben wird er nicht.
Micha sah »den Herrn sitzen auf seinem Thron, und das ganze himmlische Heer stand zu seiner Rechten und zu seiner Linken« (2. Chronik 18,18).
Viele sahen Throne:
Jesaja sah »den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron« (Jesaja 6,1).
Hesekiel sah etwas, das aussah »wie ein Saphir, einem Thron gleich, und auf dem Thron saß einer, der aussah wie ein Mensch« (Hesekiel 1,26).
Johannes bleibt im Neuen Testament ebenfalls vage: »Alsbald kam der Geist über mich. Und siehe, ein Thron war gesetzt im Himmel, und auf dem Thron saß einer ... « (Offenbarung 4,4)
Selbst Jesus beschreibt im Laufe von vier detailreichen Evangelien
seinen Vater an keiner Stelle. - (pan
)
Sichtbarkeit (2) Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder,
sondern macht sichtbar. - Formelemente der Graphik sind: Punkte, lineare, flächige
und räumliche Energien. — Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen
Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt
hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem
zu holen. (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick,
wie weit wir schon sind. (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin
erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes
(Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke
gewesen (Bogenreihe) ... Wir durchqueren einen umgepflügten Acker (Fläche von
Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt
einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes ... Ich habe Elemente
der graphischen Darstellung genannt, die dem Werk sichtbar zugehören sollen.
Diese Forderung ist nicht etwa so zu verstehen, daß ein Werk aus lauter Elementen
bestehen müsse. Die Elemente sollen Formen ergeben, nur ohne sich dabei selber
zu opfern. Sich selber bewahrend ... Durch solche Bereicherung der formalen
Symphonie wachsen die Variationsmöglichkeiten und damit die ideellen Ausdrucksmöglichkeiten
ins Ungezählte . . . Bewegung liegt allem Werden zu
Grunde . . . Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit.
Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung
von Flächen zu Räumen. Auch im Weltraum ist Bewegung
das Gegebene .. . Die Genesis der ‹Schrift› ist ein
sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis,
niemals wird es als Produkt erlebt. Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf,
leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt
als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge weiter. — Dem
gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk
Wege eingerichtet. - Paul Klee, nach: Walter Hess (Hg.): dokumente zum verständnis
der modernen malerei. Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 19)
Sichtbarkeit (3) Ein angehender Philosoph schreibt 1930 in seiner Habilitationsschrift: Es hat vielleicht niemand recht verstanden, was ich will, der nicht einsieht, daß die Sichtbarkeit der Dinge nur vor dem absolut Negativen eigentlich zu erleben ist.
Es mag sein, daß man dies im Jahre 1930 seinen Lesern nicht zutrauen konnte. Ein halbes Jahrhundert später weiß jeder, was gemeint sein könnte, der nur flüchtig Notiz genommen hat von den Anblicken, die die Erde aus dem Weltraum bietet. Sie war für ihre Bewohner immer das Unsichtbare schlechthin. Man hatte sie unter den Füßen, nicht vor den Augen, als das Selbstverständliche und Unauffällige. Da eben fehlte es an Negation als Bedingung von Auffälligkeit.
Der Blick aus dem Raum läßt die Erde, wenn es so zu sagen erlaubt ist, in
einem Meer von Negativität erscheinen: eine Insel
im Nichts. Das macht sie sichtbar in einem eminenten
Sinne: schmerzhaft deutlich. - (
blum
)
Sichtbarkeit (4) Seit dem Beginn der Szene hatte sich
für meine Augen, von denen es wie Schuppen fiel, eine unerhörte Wandlung
in Monsieur de Charlus vollzogen, und zwar ebenso umfassend und plötzlich, als
habe ihn ein Zauberstab berührt. Bis dahin hatte ich nicht begriffen, und aus
diesem Grunde sah ich auch nichts. Das Laster (wenn
man es der Bequemlichkeit halber so nennen will) eines Jeden einzelnen begleitet
diesen nach Art der Genien, die für die Menschen unsichtbar waren, solange diese
von ihrer Anwesenheit keine Kenntnis hatten. Güte, Betrug, Name, gesellschaftliche
Beziehungen lassen sich nicht erkennen, man trägt sie verborgen mit sich umher.
Odysseus sogar vermochte zunächst Athene nicht zu erkennen. Doch sind die Götter
unmittelbar den Göttern offenbart, der Gleichgesinnte ebenso rasch einem Gleichgesinnten,
und so auch Monsieur de Charlus von vornherein kenntlich für Jupien. Bislang
hatte ich mich Monsieur de Charlus gegenüber in der Lage des Zerstreuten befunden,
der beharrlich einer schwangeren Frau, deren schwerer gewordenen Leib er nicht
konstatiert und die ihm lächelnd immer wieder sagt: ›0h, ich bin im Augenblick
etwas angegriffen‹, die indiskrete Frage stellt: ›Aber was haben Sie denn?‹
Wenn dann jemand ihm sagt: ›Sie ist in andern Umständem, bemerkt er ihren starken
Leib und sieht nun nichts anderes mehr. Der Verstand
öffnet ihm den Blick; ein behobener
Irrtum beschenkt uns mit einem neuen Sinn. - Marcel Proust, Sodom
und Gomorra (Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit, Frankfurt am Main 1965, zuerst 1913 ff.)
Sichtbarkeit (5) Ob es seine getrockneten Pilze waren, von denen er noch abbiß, oder nicht: Jedenfalls hatte er in der Nacht zwei ohne ihn, jenseits seiner Person, spielende Träume. In dem einen grenzten an den kleinen Keller im Haus Fluchten von unterirdischen Räumen, ein Saal übergehend in den andern, prunkvollst eingerichtet, feierlichst beleuchtet, dabei allesamt leer, wie in Erwartung, bereit für ein herrliches, vielleicht auch schreckliches Ereignis, und das aber nicht erst seit kurzem gerade, vielmehr seit Menschengedenken.
In dem zweiten Traum waren plötzlich die Hecken zu den Nachbargrundstücken
nicht mehr da, mit Gewalt entfernt oder einfach weggefallen, und man sah einander
in die Gärten und auf die Terrassen, und nicht bloß darauf, sondern in jeden
Winkel der auf einmal völlig entblößten Häuser hinein, und ebenso auch ein Nachbar
den andern, in den ersten Augenblicken zu einer ungeheuren gegenseitigen Scham
und Schande, allmählich dann aber mit einer Art von Erleichterung, ja beinah
Freude. (Zu bemerken noch, daß alle diese unumheckten Häuser sich als Pfahl-
oder Moorbauten zeigten, ein jedes mit einem unten da angepflockten Boot.) - Peter Handke,
In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt am Main 1999
(st 2946, zuerst 1997)
Sichtbarkeit (6) Ich hörte Morgan schreien
wie in Todesangst, und zugleich mit seinen Schreien erklangen jene heiseren,
wütenden Töne, wie man sie bei Hundebeißereien hört. Maßlos erschrocken stand
ich auf und sah in die Richtung, in die Morgan gelaufen war, und der Himmel
möge mich gnädig davor bewahren, daß ich noch einmal einen solchen Anblick habe!
Mein Freund war kaum dreißig Schritt entfernt, auf einem Bein kniend, sein Kopf
war erschreckend weit zurückgebogen, ohne Hut, sein langes Haar zerrauft, und
sein ganzer Körper bewegte sich wild von einer Seite zur anderen, rückwärts
und vorwärts. Der rechte Arm war ausgestreckt und schien
ohne Hand - wenigstens konnte ich sie nicht entdecken.
Der andere Arm war unsichtbar. Für Augenblicke
- und jedenfalls ist mir diese ausgefallene Szene so in Erinnerung — konnte
ich nur einen Teil seines Körpers wahrnehmen; es schien, als ob er teilweise
ausgelöscht wäre, anders kann ich es nicht ausdrücken. Dann wieder machte ein
Wechsel seiner Stellung von neuem alles sichtbar.
- Ambrose Bierce, Das verfluchte Ding. In: A.B., Mein Lieblingsmord. Frankfurt
am Main 1974 (it 39)
Sichtbarkeit (7) Obwohl sie ohne Scheu und ohne Scham zusammengewesen waren, wie
zwei nur zusammensein konnten, offen und am hellichten Tag und inmitten all
der übrigen Festleute, hatte niemand Augen für sie gehabt, geschweige denn etwas
bemerkt und gesehen; jenes andere Zeitsystem, welches durch ihrer beider Ineinanderübergehen,
wie auch immer das geschah, in Kraft gesetzt wurde, machte, daß sie nicht mehr
wahrnehmbar waren, entsprechend vielleicht jenen sich vorbeibewegenden Körpern,
angesichts deren das menschliche Auge nicht schnell und andererseits auch nicht
langsam genug ist, zu erkennen, daß die Körper da in einer Bewegung sind. - Peter Handke, Don Juan (erzählt von ihm selbst)
Frankfurt am Main 2006 (st 3739, zuerst 2004)
Sichtbarkeit (8) Die Menschenseele ist an und für sich
selbst unsichtbar, sie fällt natürlicher Weise nicht in die Sinnen; aber sie
kann sich auf zweyerley Weise sichtbar machen: erstlich wenn sie aus dem Dunstkreiß
Materien an sich zieht, und sich daraus einen Körper bildet, der dem Ihrigen
ähnlich ist; und zweytens, wenn sie sich mit dem, dem sie erscheinen will, in
Rapport sezt. Im ersten Fall kann sie von vielen Menschen gesehen werden, aber
jeder merkt alsdann, daß diese Erscheinung kehl natürlicher Mensch sondern ein
Geist ist; im zweyten Fall aber sieht sie nur der mit dem sie in Rapport steht,
indem sie auf dessen Seele und durch sie auf die sinnlichen Organe so lebhaft
würkt, daß er die Person so deutlich vor sich sieht, als wenn sie in ihrem Körper
gegenwärtig wäre, er hört sie reden, und sie hört ihn. -
(
still
)
Sichtbarkeit (9) Der größte Teil des Universums entzieht sich unserer
Beobachtung: Nur vier Prozent seines Energie- beziehungsweise
Massegehalts besteht aus Materie in der uns bekannten Form. Dazu kommen
23 Prozent Dunkle Materie und 73 Prozent Dunkle Energie. -
Matthias Matting, Telepolis vom 3. Januar 2014
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