inn  Aus keinem besonderen Grund, der ihm bewußt war, schlug Quinn eine leere Seite des roten Notizbuchs auf und skizzierte eine kleine Karte des Gebietes, in dem Stillman umhergegangen war.

Dann begann er, während er sorgfältig seine Aufzeichnungen prüfte, mit seinem Kugelschreiber den Weg nachzuzeichnen, den Stillman an einem einzigen Tag — am ersten Tag, an dem er die Wanderung des alten Mannes notiert hatte — gegangen war. Das Ergebnis sah so aus:

  Quinn fiel auf, daß sich Stillman immer an den Rand dieses Gebietes gehalten und sich nicht ein einziges Mal in Richtung der Mitte bewegt hatte. Die Zeichnung sah ein wenig wie die Karte eines imaginären Staates im Mittelwesten aus. Abgesehen von den elf Häuserblocks längs des Broadways am Anfang und der Reihe von Schnörkeln, die Stillmans Mäander durch den Riverside Park darstellten, glich das Bild auch einem Rechteck. Andererseits konnte es mit Rücksicht auf die rechteckige Anlage der Straßen New Yorks auch als eine Null oder als der Buchstabe «D» gedeutet werden.

Quinn ging weiter zum nächsten Tag, um zu sehen, was geschah. Das Ergebnis sah keineswegs gleich aus.

Das Bild erinnerte Quinn an einen Vogel, vielleicht einen Raubvogel mit ausgebreiteten Schwingen, der hoch oben in der Luft schwebte. Einen Augenblick später erschien ihm diese Deutung zu weit hergeholt. Der Vogel verschwand, und an seiner Stelle blieben nur zwei abstrakte Formen übrig, verbunden durch einen kleinen Steg, den Stillman gebildet hatte, indem er in der 83rd Street nach Westen gegangen war. Quinn hielt einen Augenblick inne, um darüber nachzudenken, was er da tat. Schrieb er Unsinn nieder? Vertrödelte er schwachsinnig den Abend, oder versuchte er, etwas zu finden? Jede Antwort, erkannte er, war unannehmbar. Warum, wenn er lediglich die Zeit totschlug, hatte er sich eine so mühsame Methode dafür ausgesucht? War er so verwirrt, daß er nicht mehr den Mut aufbrachte zu denken? Andererseits, was hatte er tatsächlich vor, wenn er sich nicht nur zerstreuen wollte? Es schien ihm, daß er nach einem Zeichen suchte. Er durchsuchte das Chaos der Bewegungen Stillmans nach einem Ansatz von zwingender Notwendigkeit. Das setzte eines voraus: daß er noch immer nicht an die bloße Willkürlichkeit der Handlungen Stillmans glaubte. Er wollte, daß sie einen Sinn hatten, so dunkel er auch sein mochte. Das war an sich unannehmbar. Denn es bedeutete, daß Quinn sich gestattete, die Tatsachen zu leugnen, und das war, wie er sehr wohl wußte, das Schlimmste, was ein Detektiv tun konnte.

Dennoch beschloß er weiterzumachen. Es war noch nicht spät, noch nicht einmal elf Uhr, und im Grunde konnte es nicht schaden. Die dritte Karte hatte keine Ähnlichkeit mit den beiden anderen.

Was sich aus all dem ergab, schien außer Frage zu stehen. Wenn er von den Schnörkeln im Park absah, hatte Quinn zweifellos den Buchstaben «E» vor sich. Nahm man an, daß die erste Zeichnung den Buchstaben «D» darstellte, so schien es auch legitim zu sein anzunehmen, daß die Vogelschwingen der zweiten den Buchstaben «W» bildeten. Quinn war jedoch noch nicht bereit, Schlüsse zu ziehen. Er hatte seine genaue Untersuchung erst am fünften Tag der Wanderungen Stillmans begonnen, und die ersten vier Buchstaben konnte man nur erraten. Er bedauerte, nicht früher angefangen zu haben, denn er wußte nun, daß das Geheimnis dieser vier Tage unwiederbringlich verloren war. Aber vielleicht konnte er die Versäumnisse der Vergangenheit wiedergutmachen, indem er weiter vorstieß. Wenn er am Ende ankam, konnte er vielleicht den Anfang erahnen.

Die Zeichnung des nächsten Tages schien eine Form zu ergeben, die dem Buchstaben «R» ähnelte. Wie die anderen war sie ein wenig schwer zu erkennen durch zahllose Unregelmäßigkeiten, kleine Abweichungen und schmückende Schnörkel im Park. Quinn, der sich noch an einen Anschein von Objektivität klammerte, versuchte sie so zu betrachten, als hätte er nicht einen Buchstaben des Alphabets erwartet. Er mußte zugeben, daß nichts sicher war: alles konnte ganz bedeutungslos sein. Vielleicht suchte er Bilder in den Wolken, wie er es als kleiner Junge getan hatte. Dennoch, die Übereinstimmung war zu auffällig. Wenn eine Zeichnung einem Buchstaben geähnelt hätte, vielleicht zwei, hätte er es als eine Laune des Zufalls abtun können. Aber vier hintereinander, das war zuviel.

Der nächste Tag lieferte ihm ein schiefes «D», einen auf  einer Seite eingedrückten Kringel mit drei oder vier Zacken, die auf der anderen Seite hinausstanden. Dann kam ein sauberes «F» mit den üblichen Rokokoschnörkeln auf der Seite. Danach zeigte sich ein «B», das aussah wie zwei nachlässig aufeinandergestellte Kisten, über deren Ränder die Holzwolle der Verpackung quoll. Darauf folgte ein wackeliges «A», das ein wenig einer Stehleiter mit Tritten auf beiden Seiten glich. Und schließlich kam ein zweites «B», gefährlich schräg auf einen einzigen Punkt gestellt, wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide.

Quinn schrieb die Buchstaben der Reihe nach auf:

OWEROFBAB. Nachdem er eine Viertelstunde mit ihnen herumgespielt, sie immer wieder auseinandergerissen und in anderer Reihenfolge zusammengestellt hatte, kehrte er zu der ursprünglichen Anordnung zurück und schrieb sie so: OWER OF BAB. Die Lösung erschien ihm so grotesk, daß ihn beinahe die Nerven im Stich ließen. Auch wenn man berücksichtigte, daß er die ersten vier Tage versäumt hatte und daß Stillman noch nicht fertig war, schien die Antwort unausweichlich «Der Turm zu Babel» zu lauten:

THE TOWER OF BABEL.

Quinns Gedanken schweiften einen Augenblick ab zu den letzten Seiten von A. Gordon Pym und der Entdeckung der seltsamen Hieroglyphen auf der inneren Wand der Schlucht — Buchstaben, die in die Erde selbst eingeschrieben waren, als versuchten sie etwas zu sagen, was nicht mehr verstanden werden konnte. Aber wenn man länger darüber nachdachte, schien dieser Vergleich nicht zuzutreffen. Denn Stillman hatte seine Botschaft nirgends hinterlassen. Zwar hatte er die Buchstaben durch die Bewegung seiner Schritte geformt, aber sie waren nicht niedergeschrieben worden. Es war so, als zeichnete man mit dem Finger ein Bild in die Luft. Das Bild vergeht, während man es schafft. Es gibt kein Ergebnis, keine Spur, die zeigt, was man gemacht hat.

Und doch existieren Bilder — nicht auf den Straßen, wo sie gezeichnet worden waren, wohl aber in Quinns rotem Notizbuch. Er fragte sich, ob sich Stillman jeden Abend in seinem Zimmer hingesetzt und seine Route für den nächsten Tag entworfen oder ob er beim Gehen improvisiert hatte. Unmöglich, es zu wissen. Er fragte sich auch, welchem Zweck dieses Schreiben in Stillmans Vorstellung diente. War es nur eine Art von Notiz, die er für sich selbst machte, oder war es als Botschaft für andere gedacht? Zumindest, folgerte Quinn, bedeutete es, daß Stillman Henry Dark nicht vergessen hatte.

Quinn wollte nicht die Nerven verlieren, In dem Bemühen, seine Gefühle zu bezähmen, versuchte er, sich alles in einem möglichst schlechten Licht vorzustellen. Wenn er das Schlimmste voraussah, würde es vielleicht nicht so schlimm kommen, wie er dachte. Er argumentierte folgendermaßen. Erstens: Stillman führte tatsächlich etwas gegen Peter im Schilde. Antwort: Das war in jedem Fall die Prämisse gewesen. Zweitens: Stillman hatte gewußt, daß man ihn verfolgen werde, er hatte gewußt, daß man seine Schritte aufzeichnen und schließlich seine Botschaft entziffern werde. Antwort: Das änderte nichts an der wesentlichen Tatsache, daß Peter beschützt werden mußte. Drittens: Stillman war bei weitem gefährlicher, als man sich ursprünglich vorgestellt hatte. Antwort: Das bedeutete nicht, daß er ungeschoren davonkommen konnte. Das half ein wenig. Aber die Buchstaben entsetzten Quinn noch immer. Das Ganze war so verschlagen, so teuflisch in seinen Umständlichkeiten, daß er es nicht akzeptieren mochte. Dann kamen wie auf Befehl die Zweifel und füllten seinen Kopf mit spöttischen, eintönigen Stimmen. Er hatte sich das Ganze nur eingebildet. Die Buchstaben waren gar keine Buchstaben. Er hatte sie gesehen, weil er sie sehen wollte. Und selbst wenn die Zeichnungen Buchstaben darstellten, so war das reiner Zufall. Stillman hatte nichts damit zu tun. Alles war nichts als Zufall, ein Streich, den er sich selber gespielt hatte.

Er beschloß, zu Bett zu gehen, schlief tief und fest, wachte auf, schrieb eine halbe Stunde in seinem roten Notizbuch, legte sich wieder ins Bett. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, daß er wahrscheinlich noch zwei Tage Zeit hatte, denn Stillman hatte seine Botschaft noch nicht beendet. Die letzten beiden Buchstaben fehlten noch — das «E» und das «L». Quinns Gedanken irrten ab. Er geriet in ein Niemandsland von Fragmenten, an einen Ort von wortlosen Dingen und dinglosen Worten. Dann, als er sich ein letztes Mal aus seiner Trägheit aufraffte, sagte er sich, daß EL das alte hebräische Wort für Gott war.

In seinem Traum, den er später vergaß, befand er sich auf der städtischen Müllhalde seiner Kindheit und siebte einen Berg von Abfällen durch. - Paul Auster, Die New York-Trilogie (Stadt aus Glas), Reinbek bei Hamburg 1991 (zuerst 1985)

Sinn (2)

und nimmt sinn, und gibt sinn, und nimmt und gibt sinn; denn sinn gibt auch was sinn nimmt und sinn gibt was auch sinn nimmt; sinn und und sind wie nimmt und gibt und wie als und wie; und macht wau und wau; mal als wie mal als als mal als gibt mal als nimmt; und nimmt als mal gibt als mal als als mal wie als mal wau; und wau macht und wie und als wie; und gibt und nimmt wie sind und und sinn; nimmt sinn auch was gibt sinn und nimmt sinn was auch gibt sinn; denn sinn gibt und nimmt und sinn gibt und sinn nimmt und

- (palin)

Sinn (3)   DER SINN DES LEBENS  Wenn wir viele Kirschpaprikas auf einen Faden auffädeln, bekommen wir einen Paprikakranz.

Wenn wir sie allerdings nicht auffädeln, bekommen wir keinen Kranz.

Dabei sind es genauso viele Paprikas, sie sind genauso rot, genauso scharf. Und trotzdem sind sie kein Kranz. Sollte es nur der Faden sein, der den Ausschlag gibt? Es ist nicht der Faden. Dieser Faden ist, wie wir wissen, ein nebensächliches, drittklassiges Ding. Was ist es dann?

Wer sich darüber Gedanken macht und darauf achtet, daß seine Gedanken nicht in alle Richtungen abschweifen, sondern in die richtige Richtung voranschreiten, kann großen Wahrheiten auf die Spur kommen. - (min)

Sinn (4)  (Der Sinn ist nichts, er kommt hinterher) Nein ungenau.

Doch der Sinn ist das Wort, das Wort an seinem Ort, der Ort, und die Anordnung der Orte. Der Sinn ist die Form und die Form ist der Grund. Jedoch der Künstler bearbeitet die Wörter der Idee so wie der Logiker die Idee der Wörter bearbeitet. Der Logiker läßt es zu daß in Blitzesschnelle brauchbare Ideen auftauchen. Ebenso läßt der Künstler entsprechend auftauchende Wörter zu. Beim Schminken hat er die Vision von einer Grimasse die durch einen einzigen Bleistiftstrich real werden kann; seine Rolle wird sich verändern, er wird den Hahnrei geben anstelle des Stutzers, aber er zieht den Bleistiftstrich. Darin liegt das Genie, die Erfindung. Die Rolle zählt nicht. Es gibt so vieles zu sagen. Wozu im voraus wählen und es schlecht sagen (das heißt es nicht sagen, nicht ausdrücken). Was man nämlich gut sagen (das heißt ausdrücken . . .) kann das sagt man.

Die Furcht vor der Lächerlichkeit ist eine gesellschaftliche Tugend. Gefallsucht (darin liegt die ganze Kunst). Und der Befreite, befreit sich durch Ironie von sich selbst. Das ist es was die Befreiung ausmacht: klare Sicht auch auf sich selbst - oder jedenfalls sich möglichst viele Gelegenheiten zur Klarsicht offenhalten. Die Leute werden es Ihnen zu danken wissen wenn Sie sich selber nicht ernstnehmen. Denn ihrerseits schaffen sie das nicht. Sie werden rasch rückfällig. Die Leute halten Sie für kalt. Um die Wärme einer nahen Person zu verspüren muß man hinfassen. Und sogleich beginnt der geschlechtliche Instinkt mitzureden: das ist dann Instinkt als Liebesbesessenheit, das ist dann nicht mehr Kunst als ästhetische Besessenheit. Die Kunst muß kalt sein (großes klassisches Prinzip). Der Winter als Jahreszeit der nüchternen Kunst usw. Es drängt sich ganz entschieden auf daß ich meinen Essay über den Ernst endlich schreibe. - Francis Ponge, Schreibpraktiken oder Die stetige Unfertigkeit. München 1988 (Edition Akzente, zuerst 1984)

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