elbstberauschung
Auch als Marcel längst über seine Homosexualität Bescheid
weiß, erscheint ihm der Baron als Träger einer undurchdringlichen Maske,
hinter der er die Blicke seiner »Argusaugen« wie aus
»Schießscharten« aussendet, oder wie ein Musikinstrument, das in unzähligen
Tonarten gleichzeitig spielt. Weder die Schimpftiraden noch die feinen mondänen
und gesellschaftlichen Beobachtungen des Barons, noch die zahllosen von ihm
in Gang gesetzten und verfolgten Intrigen lassen sich vollständig einer bestimmten
Logik oder einer bestimmten Zielsetzung unterordnen. Es entsteht immer der Eindruck,
der Baron betreibe all seine Geschäfte - seien es nun die Liebe, der Haß,
das Kunstsammeln, die Konversation, die Mode, das
Schimpfen, das Lügen ... - mehr aus einer Lust am Exzeß, einer Lust an der zweckfreien
Selbstberauschung, die bis zur Selbstzerstörung gehen kann. In seinen kunstvollen
Beschimpfungen zum Beispiel geht die Lust am ordinären Bild mit ihm durch; sein
Sprachaufwand steht in keinem Verhältnis mehr zu der bezweckten Absicht: »Eine
törichte Frage, die ich ihm stellte, gab ihm die Gelegenheit zu einem übermütigen
Extempore, von dem die arme Saint-Euverte, die hinter uns stand und sich nicht
rühren konnte, bestimmt kein Wort verlor. ›Können Sie sich vorstellen, daß dieser
unverfrorene junge Mensch hier‹, sagte er, ohne das geringste Gefühl dafür,
daß man von dieser Art von Bedürfnissen nicht spricht, mich fragt, ob ich zu
Madame de Saint-Euverte gehe, das heißt, wie ich annehmen muß, ob ich an Kolikanfällen
leide? Was mich daran hindern würde, sie Madame de Saint-Euverte über die aufwühlenden
Epochen ihrer Vergangenheit zu befragen, ist die Empfindlichkeit meines Geruchsapparates.
Die Nähe dieser Dame genügt, damit ich mir plötzlich sage: ›Ja, zum Kuckuck,
sollte meine Abortgrube schadhaft geworden sein?‹ Statt dessen aber hat einfach
die Marquise in irgendeiner gästeentbietenden Absicht ihren Mund aufgetan. Sie
begreifen, daß, wenn ich das Pech hätte, bei ihr zu verkehren, diese Abortgrube
sich zu einem überlebensgroßen Jauchefaß ausweiten würde.« - Ulrike
Sprenger, Proust-ABC. Leipzig 1997