- Berliner Zeitung vom 2./3. Oktober
2006
Ablenkung (2) FREITAG, 9. SEPTEMBER 1904 Ich
habe einen großen und schwerwiegenden Mangel ...: ich bereite den Frauen keine
Lust und kann nie ein zweites Mal anfangen. Warte ich dagegen, dann gute Nacht!
Innerhalb kürzester Zeit habe ich mich von meinen Gedanken völlig ablenken lassen.
An der Liebe sagt mir nur das Schamlose zu. Zum schmachtenden Liebhaber fehlt
mir alles. Die Geduld, die dazu gehört, einer Frau den Hof zu machen, geht mir
völlig ab. Nichts wäre mir verdrießlicher. Frauen betrachte ich in den meisten
Fällen als ein sinnliches Vergnügen. Bin ich mit einer Frau etwas näher bekannt
geworden, und hat es den Anschein, als wolle sie auf eine ganz bestimmte Sache
hinaus, dann werde ich verlegen, unschlüssig, durchdenke alle Möglichkeiten
und komme am Ende zu nichts. Lust habe ich mehr als.einmal mit einer Frau empfunden.
Zur Schamlosigkeit bedarf es einer gewissen Vertrautheit. Oder aber man darf
einander gar nicht kennen und muß das Gefühl haben, daß man sich nur um der
körperlichen Lust willen zusammengetan hat. - (
leau
)
Ablenkung (3) Coitus
prolongatus interruptus. Gehört zu den heute unter den kultivierteren Schichten
Europas und Amerikas weitest verbreiteten antikonzeptionellen Methoden. Man
versteht darunter einen lange, oft 30, ja 45 Minuten ausgedehnten, normalen
Coitus ohne Anwendung mechanischer oder chemischer Antikonzeptionsmittel, aber
mit ejaculatio extra vaginam. Um den Akt so lange durchführen zu können, ist
es bei normaler Erregbarkeit des Mannes notwendig, sich psychisch auf eine oder
die andere Weise abzulenken, zum Beispiel durch Kopfrechnen, Rätselraten u.dgl.
- (
erot
)
Ablenkung (4)
Ablenkung (5) Medeia
hatte einen Bruder mit dem Namen Apsyrtos oder Phaethon
besaß. Dessen Mutter hieß Asterodeia, »die auf der Sternenbahn« - ein Name für
die Mondgöttin. Ein kleines Kind war nach den älteren Erzählern Apsyrtos und
vielleicht den Sternen ähnlich, die am Himmel immer wieder verlöschen.
Medeia hob ihn aus der Wiege und nahm ihn auf die Argo mit. Es wurde auch behauptet,
daß sie den Bruder noch zu Hause, im Palast des Aietes, schlachtete und nicht
erst unterwegs, als die Verfolgung begann. Denn dazu diente hier das Opfer
des Kindes: es wurde zerstückelt und die Glieder
vor die Füße der Verfolger oder in den Phasis geworfen. Bis Aietes sie auflas
und zusammenfügte, waren die Argonauten entkommen.
- (
kere
)
Ablenkung (6) Schon nach den ersten Novellen
Hoffmanns war ich völlig im Banne dieses Meisters
des Unheimlichen. Ich fraß die Geschichten geradezu in mich hinein, was zur
Folge hatte, daß die ohnedies schon in bedenklichem Maße vorhandene, nervöse
Schreckhaftigkeit und Gespensterfurcht aufs ungesundeste gesteigert wurde. Überall
sah ich Geister, spürte ich mit entsetzenerregender
Deutlichkeit das Walten teuflischer Kräfte, nachts glaubte ich oft leibhaftig
den Teufel zu sehen; es war, als ob plötzlich von einer
bisher schlummernden Unterwelt die Decke weggezogen würde. Diese intensive Beschäftigung
mit dem literarischen Geisterbeschwörer hatte aber immerhin den einen Erfolg,
mich eine Zeitlang von den quälenden, aussichtslosen Grübeleien über die Möglichkeiten
einer sittlichen und sozialen Regeneration unseres Zeitalters abzulenken. -
Rudolf Schlichter, Das widerspenstige Fleisch. Berlin 1991 (zuerst 1932)
Ablenkung (7)
Ablenkung (8) Es gibt für jede Seele Augenblicke, da versachlicht sie sich inmitten ihrer Leidenschaften, wendet sich innehaltend gegen sie und legt sich Rechenschaft ab. Sie wägt und mißt klaren Sinnes, man weiß gar nicht mit welchen Maßstäben; sie leidet nicht mehr, sie freut sich nicht mehr, sondern greift unvermittelt zu einem Richtmaß.
Mitten in der größten Lust geschieht es wohl, daß ein glasklarer Gedanke
sie durchzuckt, sie abtrennt von ihrem augenblicklichen Höchsten Gut, — und
ich möchte meinen, diesem Gedanken geht seinerseits ein ganz beliebiger Gedanke
voraus, und gerade dank diesem Gedanken, der in sich gänzlich belanglos, aber
Anlaß zu Ablenkung und damit Ausweis von Freiheit ist, können wir Atem schöpfen
und ein Urteil über den Augenblick gewinnen. -
(pval2)
Ablenkung (9) Sie hört mir nicht zu, da sie aufmerksam
das Treiben eines Mannes beobachtet, der wiederholt vor uns vorübergeht und
den sie zu kennen meint, denn sie hält sich nicht das erstemal zu solcher Stunde
in diesem Garten auf. Dieser Mann, wenn er es ist, hat ihr angeboten, sie zu
heiraten. Das lenkt ihre Gedanken auf ihre kleine Tochter, ein Kind, dessen
Existenz sie mir mit unendlicher Vorsicht mitgeteilt hat und das sie anbetet,
hauptsächlich, weil es nicht wie die anderen Kinder ist, »mit dieser Idee, den
Puppen immer die Augen herauszunehmen, um zu sehen, was es gibt hinter
den Augen.« - (nad)
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