erwertung   Ein wenig unsicher auf den Füßen betraten wir die riesige Anlage der Abdeckerei, über der ein bläulicher Dunst lag und einige bleiche Sterne nur mühsam durchdrangen. Es war noch immer Nacht und würde es mindestens eine weitere Stunde sein. Auf einmal vernahmen wir das polternde, rasch sich nähernde Gerumpel eines windschiefen Vehikels. Es kreischte, schwankte, stampfte, verrenkte sich über seinen Achsen. Ums Haar hätte es einen der beiden Türpfosten von Montfaucon umgerissen. Dann wendete es, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern, und humpelte in den Hof hinein. Es war bis hinauf zur Rampe mit Schmutz besudelt. Auf diesem Wagen sah man durch ein Gitter zwei Männer stehen, in Hammelfelle gehüllt, wobei der eine das Fell nach innen trug, der andere, vielleicht ein wenig eitlere, nach außen. Der Jüngere trug eine brennende Fackel, die er auf und ab schwenkte, um die Durchfahrt zu erleuchten, so daß Funkengarben und Flammenzungen umhersprühten; der andere lenkte die Pferde, in der einen Faust die Zügel, in der anderen die Peitsche. In dem über diesem düsteren Karren hin und her zuckenden rötlichen Licht gewahrten wir vier lange Pfähle, die den Beinen eines Tieres glichen. Dann jedoch wichen wir zurück, um all die spuckenden Flammen und den Lärm an uns vorbeizulassen. Endlich hielt der Wagen an, und zu den beiden absteigenden Männern gesellten sich zwei andere, die aus dem Dunkel des Hofes auftauchten; sie zogen ohne besondere Umstände jene vier hängenden Beine herab und stellten sie in leidlichem Gleichgewicht aufrecht. Eine nahezu leblose Gestalt schwankte auf diesen vier zittrigen Pfählen: ein Pferd!

M. Brissot-Thivars hatte uns für einen Augenblick verlassen, um seine Leute anzuweisen und sie auch von der Ankunft der Gäste zu verständigen, für die ja eine Überraschung vorbereitet wurde.

 »Das arme Tier!« rief Balzac seufzend aus, als er dies Phantom von einem Pferd erblickte. »So also ist das Ende jener herrlichen Geschöpfe, die uns ihr Lebtag so nahe verbunden und so ergeben sind. Was für ein trauriges Ende!«

»Oh, das ist noch keine Ende«, sagte der Mann, der das Hammelfell nach innen trug.

»Wieso, kein Ende? Ich sehe nicht, was man da noch.. .«

»Nein, lieber Mann, zu Ende ist es damit nicht. Rechnen Sie denn das Fleisch für nichts?«

»Welches Fleisch?«

»Nun, das Pferdefleisch!«

»Wollen Sie etwa dieses Fleisch essen?«

»Aber ja! Zuerst nehmen wir für uns und unsere Familien das Filet; mit kleinen Zwiebeln zubereitet, gibt es ein feines Essen! Sie würden es, Ehrenwort, für Rebhuhn mit Rotkohl halten. Und was wir nicht brauchen können, zum Beispiel das Rippenstück, das verkaufen wir an andere, die daraus köstliche Sachen braten, Beefsteaks etwa. . . und was für Beefsteaks, meine Herren! Und danach . . .«

»Was, es gibt noch ein Danach?« unterbrach Balzac.

Der Mann, der das Hammelfell nach außen trug, schwieg; der andere aber redete weiter:

»Nun ja, ich meine die Restaurants von Paris und alle die kleinen Vorstadtkneipen. Die setzen natürlich ihren Gästen auch mal Pferdefleisch vor. Wir versorgen sie das ganze Jahr über damit! Wo das Ochsenfleisch heutzutage so teuer ist, wo käme man da ohne Montfaucon hin? Montfaucon ist ihr Markt von Poissy, ihre Markthalle!«

»Pferdefleisch kaufen! Pferdefleisch essen!« murmelte Balzac kopfschüttelnd. »Welch grauenvolle Verirrung der Menschheit! Womöglich wird sie noch vom Pferdefleischessen zur Menschenfresserei zurückkehren! Heute ißt man das Pferd und morgen den Reiter! Die eine Mahlzeit ist von der anderen nur durch den Sattel getrennt!«

»Wir verkaufen übrigens außer dem Fleisch noch andere Teile des Pferdes«, bemerkte der Mann, der das Hammelfell nach innen trug.

»Was verkaufen Sie denn noch?«

»Nun, die Haut, die Mähne, die Knochen, die Gedärme und die Hufe des Pferdes! Meinen Sie, das soll alles verloren-gehn?«

»Ja«, sagte Balzac, »jedermann weiß ja, daß die Haut eines Pferdes an den Gerber verkauft wird, der sie verarbeitet und dann an den Schuster und Sattler weitergibt.. .«

»Und wissen Sie auch, was mit den Knochen geschieht?«

»Ja, daraus macht man Knöpfe.«

»Und Zucker, Monsieur, Zucker! Aus den Knochen dieses Pferdes, das wir nachher vor Ihren Augen abmurksen werden, zapfen wir nächste Woche den Zucker für Ihren Kaffee ab!«

Der arme Gaul zitterte während dieser seltsamen Leichenrede.

Balzac blickte melancholisch, und auch wir anderen beiden wurden nachdenklich.

Der Mann schwenkte seine Pechfackel über der kahlen Kruppe des unglücklichen Tieres, in dessen glasigen Blicken man bereits die Totenstarre ahnte. »Ja, ein totes Pferd ist ein großer Segen; es ist hundertmal mehr wert als ein lebendes Pferd. Aber wir haben noch gar nicht von den Gedärmen gesprochen!«

»Die Gedärme! Essen Sie die etwa auch?«

»O nein, wir nicht - aber Sie!«

»Was, wir?«

»Wird etwa nicht das Fleisch jener so sehr begehrten Würstchen in Pferdedärme gestopft, Würstchen, die als Saucissons de Boulogne, Saucissons d'Espagne oder Mortadella bekannt sind?«

Wir sahen einander stirnrunzelnd an.

»Sie können es drehn und wenden, wie Sie wollen«, fuhr der Schinder von Montfaucon fort: »Sie genießen alles vom Pferd, ob nun in der oder jener Form.«

»Pferdewürstchen kenne ich nicht«, sagte Balzac. »Das heißt man wirklich, alles bis ins letzte ausschlachten.«

»Das ist immer noch nicht alles, Monsieur; vergessen wir nicht die ganz feinen Därme: Aus denen werden die schönsten Saiten für Instrumente gemacht.«

Balzac hob den Kopf nach oben: »Und wir tanzen zum Klang jener Saiten!«

»Stimmt, Monsieur!« rief der Mann munter und versetzte dem Gaul einen Fußtritt in den Bauch. - Léon Gozlan, Balzac in Pantoffeln. München 1969 (dtv 602, zuerst ca. 1860)

Verwertung (2)  Dr. Paul Kammerer ersucht, ihn nicht nach Hause zu überbringen, weil seiner Familie der Anblick erspart bleiben soll. Am einfachsten und wohlfeilsten wäre vielleicht die Verwertung im Seziersaal eines der akademischen Universitätsinstitute. Mir auch am sympathischesten, weil ich der Wissenschaft wenigstens auf solche Weise einen kleinen Dienst erweise. Vielleicht finden die werten Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an den lebendigen Äußerungen meiner geistigen Tätigkeit vermißten. Was immer mit dem Kadaver geschieht, eingegraben, verbrannt oder seziert, sein Träger ist konfessionslos gewesen und wünscht, von religiösen Zeremonien verschont zu bleiben, die ihm wahrscheinlich ohnedies verweigert worden wären. Das ist keine Feindseligkeit gegen den individuellen Priester, der ebenso ein Mensch ist wie alle anderen und oft ein guter und edler Mensch. - Paul Kammerer, nach: Karl Corino (Hg.): Gefälscht! Betrug in Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft und Politik. Frankfurt am Main 1990

Verwertung (3)  Wie ich höre, spielt die Dundalkin-Papierfabrik mit dem Gedanken, eine begrenzte Anzahl der Abbey-Theatre-Abonnenten zu Papierbrei zu verarbeiten. Techniker sind der Ansicht, daß Papier, welches aus dieser Pulpe hergestellt wird, ob-schon etwas rauh für Halbton-IUustrationen, der Beanspruchung durch moderne Druckmaschinen standhalten wird.

»Naturgemäß können wir den Papierfabriken zu Beginn nur geringe Quoten überlassen, das ist ja klar«, sagte mir gestern ein bekannter Direktor des Abbey Theatre. »Sie können davon ausgehen, daß die ganze Idee zur Zeit noch im Experimentierstadium ist. Wir haben noch nicht mit den für die Versorgung der Bevölkerung zuständigen Stellen gesprochen. Einer Verbreiung unseres Publikums in größerem Rahmen, einer verantwortungslosen Verbreiung gar würde nur in äußersten Notstandssituationen zugestimmt werden können. Sie können davon ausgehen, daß wir die Situation einer ständigen Überprüfung unterziehen.«

Letzte Woche wurden als Experiment fünfzehn kleine Staatsbeamte verbreit. Das Ergebnis war graue, grobe Pappe, die für die Herstellung von Ersatz-Bienenstöcken als geeignet angesehen wird. - (myl)

Verwertung (4)  Als die Frau des Kesselflickers drei Ordensdukaten erblickte, die ihr zeternd und schweifwedelnd ins Gesicht sprangen, da erschrak sie so sehr, daß sie flüchten wollte. Sie sprang auf den Einstieg des Dachbodens zu. Aber Diopterich schwamm immerfort über ihr und drohte und fluchte, was das Zeug hielt. Da stolperte sie über die oberste Leitersprosse, fiel vom Dachboden und brach sich das Genick. Die Leiter rumpelte hinterdrein, und die Falltür des Dachbodens fiel zu, weil sie nicht mehr von der Leiter gestützt wurde. So war nun Diopterich in der Bodenkammer eingesperrt. Er schwamm von Wand zu Wand und rief vergebens um Hilfe.

Am Abend kam Froton heim; er wunderte sich, weil ihn die Frau nicht mit der Brechstange auf der Schwelle erwartete. Doch er ging in die Wohnung, und dort erblickte er die Frau und härmte sich sogar ein bißchen, denn er war ungemein gutmütig. Doch bald bedachte er die guten Seiten dieses Unglücksfalles. Er konnte die Frau zu Ersatzteilen verarbeiten, was sich sehr gut lohnte. Also setzte er sich auf den Fußboden, griff zum Schraubenzieher und begann die Verblichene zu zerlegen.  - Stanislaw Lem, Robotermärchen. Frankfurt am Main 1973 (st 2673, zuerst 1964)

Verwertung (5)  

Verwertung (6)  1961 starb sein Großvater. In unserem Klima zieht der Kadaver eines Säugetiers oder eines Vogels zunächst gewisse Fliegen (Musca, Curtonevra) an; sobald die Verwesung einsetzt, kommen augenblicklich andere Arten ins Spiel, insbesondere die Calliphora und die Lucilia. Unter der gemeinsamen Einwirkung von Bakterien und Verdauungssäften, die von den Larven ausgeschieden werden, verflüssigt sich der Kadaver mehr oder weniger, und durch Vergärung und Zersetzung wird Ammoniak und Buttersäure produziert. Nach drei Monaten haben die Fliegen ihr Werk vollendet und werden durch ein Heer von Käfern der Gattung Dermestes und den Schmetterling Aglossa pinguinalis ersetzt, die sich vor allem von den Fetten ernähren. Die im Gärungsprozeß befindlichen Eiweißstoffe werden von den Larven der Piophila petasionis und den Käfern der Gattung Corynetes verwertet. Der verweste Kadaver, der noch etwas Feuchtigkeit enthält, wird anschließend zum Revier der Milben, die dessen letzte Jauche aufsaugen. Aber auch wenn er ausgetrocknet und mumifiziert ist, beherbergt er noch Nutznießer: die Larven der Pelzkäfer und Kabinettkäfer, die Raupen der Aglossa cuprealis und der Tineola bisellelia. Sie vollenden den Zyklus.

Bruno sah den schönen, tief schwarzen, mit einem silbernen Kreuz verzierten Sarg seines Großvaters wieder vor sich. Es war ein beruhigendes, ja beglückendes Bild; sein Großvater dürfte sich in so einem herrlichen Sarg bestimmt wohl fühlen. Später sollte Bruno von der Existenz der Milben und all dieser Larven mit den Namen italienischer Starlets erfahren. Doch auch heute noch blieb das Bild vom Sarg seines Großvaters ein beglückendes Bild.  - Michel Houellebecq, Elementarteilchen. München 2001 (zuerst 1998)

 

Ökonomie

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme