Indien   Namentlich ist Indien und das Land der Äthiopier voll von wunderbaren Begebenheiten. In Indien leben die größten Tiere, so z. B. sind die Hunde dort weit größer als anderswo. Auch die Bäume sollen von solcher Höhe sein, daß die Pfeile nicht über sie hinausfliegen.

Die Fruchtbarkeit des Bodens, das milde Klima und der Überfluß an Wasser wirken so bedeutend ein, daß, wenn man es glauben will, ganze Reiterabteilungen sich unter einem einzigen Feigenbaume verbergen können. Das Rohr aber erreicht eine solche Höhe, daß ein Schuß zwischen 2 Knoten einen Kahn abgibt, der 3 Menschen tragen kann.

Viele Menschen werden dort über 5 Cubitus groß, spucken nicht aus, leiden weder an Kopf-, Zahnweh noch an Augenübeln und fühlen selten Schmerzen an den übrigen Teilen des Körpers; sie erlangen diese Dauerhaftigkeit durch die so milde Wärme der Sonne.

Ihre Philosophen, welche Gymnosophisten heißen, schauen vom frühen Morgen bis zum Abend unverwandten Blicks die Sonne an und stehen den ganzen Tag über in dem heißen Sande abwechselnd auf einem Fuße. Auf einem Berge, der Nulo heißt, soll es, nach Megasthenes, Menschen mit verkehrten Fußsohlen und 8 Zehen an jedem Fuße geben. - (pli)

Indien (2) Es gäbe in den Bergen Indiens Menschen mit Hundeköpfen, die bellen können und die sich von erjagten Vögeln und wildem Getier ernähren. Und dann auch noch andere Wunder bei den Menschen in den äußersten Ostländern, den sogenannten ›Einbeinern‹, die auf einem Bein einherhüpfen und dabei von beweglichster Schnelligkeit sind; einige von diesen hätten keine Hälse und trügen die Augen auf den Schultern. Aber das überschreitet nun jedes Maß an Glaubwürdigkeit, daß es — nach eben jenen Schriftstellern — im äußersten Indien ein Volk mit struppigen und nach Vogelart befiederten Leibern gäbe, das keine feste Nahrung zu sich nimmt, sondern vom Blütenduft lebt, den es durch die Nasen einzieht; nicht weit davon kämen auch die Pygmäen zur Welt, deren größte nicht höher sind als zweieinviertel Fuß.

Dies und vieles andere dieser Art bekam ich zu lesen, beim Niederschreiben ekelte mich aber dann dieses unwürdige Geschreibsel an, das überhaupt nichts zur Verschönerung und Bereicherung unseres Lebens beiträgt. - (gel)

Indien (3)  Der in der Ferne gesuchte christliche König, den man sich gerne als Verbündeten im Kampf gegen den Islam dachte, war der sagenhafte Priester Johannes, dessen Gestalt im Mittelalter aus dem Dunkel der Überlieferung auftauchte. Man stellte sich ihn als einen christlichen Herrscher von gewaltiger Macht vor, dessen Reich in »Indien«, irgendwo tief im Innern Asiens lag. Wolfram von Eschenbach und Albrecht von Scharffenberg ließen ihn in ihren Gralsepen aufleben, und man suchte ihn auch bald in der geschichtlichen Wirklichkeit.

So hatte der heldenhafte König Dawith II. von Georgien, das ja in der Tat eine urchristliche Tradition Asiens verkörpert, 1121 im Verband mit 1000 fränkischen Rittern bei Didgori eine gewaltige mohammedanische Übermacht geschlagen. Schnell wurde er in Westeuropa mit dem Priesterkönig gleichgesetzt. Als dann die Nachrichten von ersten Siegen der aus Innerasien herandrängenden Mongolen eintrafen, wurde Dschingis Khan als »König David« und »Priester Johannes« gefeiert. Dieser Irrtum klärte sich bald auf. - (meer)

Indien (4) In Indien leben 844 Millionen Menschen, 180 Millionen Rinder und mehr Heilige als in jedem anderen Land der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 500 DM im Jahr, die offizielle Säuglingssterblichkeit bei 10 %, die Lebenserwartung beträgt für Besserverdienende 6o Jahre. Weit über 500 Millionen Inder sind Analphabeten, jeder zweite ist unterernährt und arbeitslos, jeder dritte lebt unterhalb der Armutsgrenze, eine unbekannte Zahl stirbt alljährlich den Hungertod. 15 Millionen Inder, Erwachsene wie Kinder, leben in Schuldknechtschaft und müssen lebenslänglich Zwangsarbeit leisten. 30 Millionen wohnen in Slums, ohne Wasserversorgung und Kanalisation. Von 4000 Städten verfügen 217 über ein mehr oder minder funktionierendes Abwassersystem, 93 % der ländlichen Haushalte sind ohne Latrinen, 700 Millionen Inder verrichten ihre Notdurft auf dem freien Feld. Die medizinische Versorgung ist unzureichend: Für 80000 Menschen stehen durchschnittlich 17 Krankenschwestern, 66 Krankenhausbetten und 1 Zahnarzt zur Verfügung. Jeder 3. Mediziner emigriert nach seiner Ausbildung ins Ausland. Seit 1974 besitzt Indien die Atombombe. - Gregor Eisenhauer, Scharlatane. Frankfurt am Main 1994 (Die Andere Bibliothek 112)

Indien (5) Es würde zwanzig Bände füllen, wollte ich meine Erlebnisse schildern. Ich kam durch unglaublich herrliche Landschaften; ich wurde bei Fürsten von übernatürlicher Schönheit, die in unfaßlicher Pracht lebten, empfangen. Zwei Monate fühlte ich mich, als ginge ich in einer Dichtung um, als durchquerte ich auf dem Rücken von Zauberelefanten ein Feenreich. Mitten in phantastischen Wäldern traf ich auf wunderbare Ruinen; ich fand in Städten, die einem Märchen entstiegen schienen, Bauwerke, zierlich und ziseliert wie Kleinode, zart wie Spitzen und riesig wie Gebirge, göttliche Bauwerke von solcher Anmut, daß man sich in ihre Formen wie in eine Frau verlieben konnte und bei ihrem Anblick eine körperliche, eine sensuelle Lust empfand. Kurz, ich bewegte mich, wie Victor Hugo sagt, hellwach in einem Traum. - (nov)

Indien (6)  Hier gibt es keine Wahrheit, existiert keine unveränderliche Maßeinheit, man kann wohl niemals genau wissen, wie groß eine Gestalt ist, die man nur flüchtig im Traum gesehen hat; in einer lockeren Spannung mimt etwas Pflanzliches ein Tier, der Stein strebt nach dem Weichen des Blattes, der Baum studiert Architektur, hat eine Schwäche fürs Barocke. Indien greift überall um sich, dringt ein in alle Vertiefungen wie das unschuldige Wasser: in aller Stille weicht es auf und zerfrißt, läßt versumpfen und nährt. - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Indien (7)  

Asien Orient
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
{?}
VB
Synonyme