- (
cane
)
Wald (2)
Der Wald ist
heimlich. Das Wort gehört zu jenen unserer Sprache, in denen sich zugleich
ihr Gegensatz verbirgt. Das Heimliche ist das Trauliche, das wohlgeborgene
Zuhause, der Hort der Sicherheit. Es ist nicht minder das Verborgen-Heimliche
und rückt in diesem Sinne an das Unheimliche heran. Wo wir auf solche Stämme
stoßen, dürfen wir gewiß sein, daß in ihnen der große Gegensatz und die
noch größere Gleichung Leben und Tod anklingen, mit deren Lösung sich die
Mysterien beschäftigen.
In diesem Lichte ist der Wald das große Todeshaus, der Sitz vernichtender
Gefahr. Es ist die Aufgabe des Seelenführers, den von ihm Geführten an
der Hand dorthin zu leiten, damit er die Furcht verliert. Er läßt ihn symbolisch
sterben und auferstehen. Hart an der Vernichtung liegt der Triumph. Aus
diesem Wissen ergibt sich die Erhöhung über die zeitliche Gewalt. Der Mensch
erfährt, daß sie ihm im Grunde nichts anhaben kann, ja nur dazu bestimmt
ist, ihn im höchsten Range zu bestätigen. Das Schreckensarsenal, bereit,
ihn zu verschlingen, ist um den Menschen aufgestellt. Das ist kein neues
Bild. Die »neuen« Welten sind immer nur Abzüge ein und derselben Welt.
Sie war den Gnostikern bekannt, den Einsiedlern der Wüste, den Vätern und
wahren Theologen seit Anbeginn. Sie kannten das Wort, das die Erscheinung
fällen kann. Die Todesschlange wird zum Stab,
zum Szepter dem Wissenden, der sie ergreift. - Ernst Jünger,
Der Waldgang. Stuttgart
1992 (zuerst 1951)
Wald
(3)
Er kniet von oben über den Rücken, seine Hände sind um ihren Hals,
die Daumen im Nacken, ihr Körper zieht sich zusammen, zieht sich zusammen,
ihr Körper zieht sich zusammen. Seine Zeit, geboren werden und sterben,
geboren werden und sterben, jegliches.
Mörder sagst du, und mir lockst du her, und willst mir vielleicht an der Nase rumziehen, Stücke, da kennste Reinholden gut.
Gewalt, Gewalt, ist ein Schnitter, vom höchsten Gott hat er die Gewalt. Laß mir los. Sie wirft sich noch, sie zappelt, sie schlägt hinten aus. Das Kind werden wir schon schaukeln, da können Hunde kommen und können fressen, was von dir übrig ist.
Ihr Körper zusammen, zusammen zieht sich ihr Körper, Miezes Körper. Mörder sagt sie, das soll sie erleben, das hat er dir wohl aufgetragen, dein süßer Franz.
Darauf schlägt man mit der Holzkeule dem Tier in den Nacken und öffnet mit dem Messer an beiden Halsseiten die Schlagadern. Das Blut fängt man in Metallbecken auf.
Es ist acht Uhr, der Wald ist mäßig dunkel. Die Bäume schaukeln, schwanken. War eine schwere Arbeit. Sagt die noch wat? Die japst nicht mehr, das Luder. Das hat man davon, wenn man mit son Aas ein Ausflug macht.
Gestrüpp rübergeworfen, Taschentuch an den nächsten Baum, damit man es wieder findet, mit die bin ick fertig, wo ist Karl, muß den herkriegen. Nach einer guten Stunde mit Karl zurück, was das fürn Schlappier ist, zittert der Kerl, hat weiche Knie, mit sone Anfänger soll man arbeiten. Es ist ganz finster, sie suchen mit Taschenlampen, da ist das Taschentuch. Sie haben Spaten aus dem Auto. Der Körper wird eingebuddelt, Sand drauf, Gestrüpp rauf, bloß keene Fußspuren, Mensch, immer wegwischen, na halt dir senkrecht, Karl, tust ja so, als ob du selber schon dran bist.
»Also, da hast du meinn Paß, einen guten Paß, Karle, und hier ist Geld und du machst dir dünne, solange wie dicke Luft ist. Geld kriegst du, keene Sorge. Adresse immer an Pums. Ich fahr wieder retour. Mir hat keener gesehen und dir kann keener wat tun, du hast dein Alibi. Gemacht, los.«
Die Bäume schaukeln, schwanken. Jegliches, jegliches.
Es ist stockfinster. Ihr Gesicht ist erschlagen, ihre Zähne erschlagen, ihre Augen erschlagen, ihr Mund, ihre Lippen, ihre Zunge, ihr Hals, ihr Leib, ihre Beine, ihr Schoß, ich bin deine, du sollst mir trösten, Polizeirevier Stettiner Bahn, Aschinger, mir wird schlecht, komm doch, wir sind gleich zu Hause, ich bin deine.
Die Bäume schaukeln, es fängt an zu blasen. Huh, hua, huh —uu — uh. Die Nacht geht weiter. Ihr Leib erschlagen, ihre Augen, ihre Zunge, ihr Mund, komm doch, wir sind gleich zu Hause, ich bin deine. Ein Baum kracht, der steht am Rand. Huh, hua, huh, uu, uh, das ist der Sturm, der kommt mit Trommeln und Flöten, jetzt liegt er oben über dem Wald, jetzt läßt er sich runter, wenn es heult, is er unten. Das Wimmern kommt vom Gestrüpp. Das ist, als wenn etwas geritzt wird, das heult wie ein eingesperrter Hund und quiekt und winselt, hör mal wie das winselt, den muß einer getreten haben, aber mitm Absatz, jetzt hörts schon wieder auf.
Huh, hua, huh-uu-uh, der Sturm kommt wieder an, es ist Nacht, der Wald steht ruhig, Baum neben Baum. Sie sind in Ruhe hochgewachsen, sie stehen wie eine Herde beisammen, wenn sie so dicht beisammen stehen, kommt der Sturm nicht so leicht an sie ran, nur die außen müssen dran glauben und die Schwachen. Aber halten wir zusammen, jetzt stillgestanden, es ist Nacht, die Sonne ist weg, huh, huah, uu, huh, es fängt wieder an, er ist da, er ist jetzt unten und oben und ringsherum. Gelbrotes Licht am Himmel und wieder Nacht, gelbrotes Licht, Nacht, das Winseln und Pfeifen wird stärker. Die am Rand sind, wissen was ihnen bevorsteht, die winseln, und die Gräser, aber die können sich biegen, die können flattern, aber was können die dicken Bäume. Und plötzlich weht der Wind nicht mehr, das hat er aufgegeben, das tut er nicht mehr, sie quieken noch von ihm, was will er jetzt tun.
Wenn man ein Haus umschmeißen will, kann man es nicht mit der Hand machen, man muß eine Ramme nehmen oder unten Dynamit eingraben. Der Wind macht nichts weiter als seine Brust ein bißchen weit. Paßt mal auf, er zieht den Atem ein, dann bläst er aus, huh, huah, uh-uu-huh, dann zieht er ein, dann bläst er aus, huh, huah, uu-uh-huh. Jeder Atem ist schwer wie ein Berg, bläst er aus, huh, huah, uu-huh, der Berg wird angerollt, zurückgerollt, bläst er aus, huh, huah, uu-huh. Hin und zurück. Der Atem ist ein Gewicht, eine Kugel, die stößt und fährt gegen den Wald. Und wenn der Wald auf den Hügeln wie eine Herde steht, der Wind umrennt die Herde und braust durch.
Jetzt geht das: Wumm-wumm, ohne Trommel und ohne Flöten. Die Bäume schwingen rechts und links. Wumm-wumm. links sind, geht es dazu wumm nach links über, sie knicken um, Aber sie können den Takt nicht halten. Wenn die Bäume grade knacken, knastern, knattern, bersten, prasseln, dumpfen um. Wumm macht der Sturm, nach links mußt du. Huhhuah, uu, huh, zurück, das ist vorbei, er ist weg, man muß nur den rechten Moment abpassen. Wumm, da kommt er wieder, Achtung, wumm, wumm, wumm, das sind Fliegerbomben, er will den Wald abreißen, er will den ganzen Wald erdrücken.
Die Bäume heulen und schaukeln sich, es prasselt, sie brechen, es knattert, wumm, es geht ans Leben, wumm, wumm, die Sonne ist weg, stürzende Gewichte, Nacht, wumm wumm.
Ich bin deine, komm doch, wir sind bald da, ich bin deine. Wumm wumm.
- Aus: Alfred
Döblin
,
Berlin Alexanderplatz (1929)
Wald
(4)
Binäre
Bäume besitzen zwei Verkettungen unterhalb jedes
inneren Knotens, so daß die oben für sie benutzte Darstellung sich unmittelbar
realisieren läßt. Doch wie verfahren wir bei allgemeinen Bäumen, oder Wäldern,
in denen ein Knoten eine beliebige Anzahl von Verkettungen zu den Knoten
weiter unten erfordern kann? Es zeigt sich, daß es zwei recht einfache
Auswege aus diesem Dilemma gibt.
Erstens brauchen wir uns in vielen Anwendungen nicht im Baum abwärts zu bewegen, sondern nur aufwärts! In solchen Fällen benötigen wir nur eine Verkettung für jeden Knoten zu seinem direkten Vorgänger. Abbildung 4.6 zeigt diese Darstellung für den Baum in Abbildung 4.1: Das Feld a enthält die Information, die mit jedem Datensatz verknüpft ist, und das Feld dad enthält die Verkettungen zu den direkten Vorgängern. Folglich ist die Information, die mit dem direkten Vorgänger von a [i] verknüpft ist, in a [dad [i]] enthalten. Es wird vereinbart, daß die Wurzel auf sich selbst zeigt. Dies ist eine sehr kompakte Darstellung, die unbedingt zu empfehlen ist, wenn eine Bewegung im Baum aufwärts geeignet ist.
Um einen Wald für die Top-Down-Verarbeitung darzustellen, brauchen wir einen Weg zur Behandlung der direkten Nachfolger jedes Knotens ohne vorherige Zuweisung einer speziellen Zahl zu jedem Knoten. Doch dies ist gerade der Typ von Einschränkungen, für deren Beseitigung verkettete Listen geeignet sind. Es ist klar, daß wir für die direkten Nachfolger eines jeden Knotens eine verkettete Liste verwenden sollten. Dann umfaßt jeder Knoten zwei Verkettungen, eine für die verkettete Liste, die ihn mit seinen »Geschwistern« verbindet, und eine für die verkettete Liste seiner direkten Nachfolger. Abbildung 4.7 zeigt diese Darstellung für den Baum von Abbildung 4.1. Anstatt zum Beenden jeder Liste einen Pseudoknoten zu benutzen, lassen wir den letzten Knoten einfach zurück auf den direkten Vorgänger zeigen; dadurch ergibt sich eine Möglichkeit, sich im Baum ebenso aufwärts wie abwärts zu bewegen. (Diese Verkettungen können markiert werden, um sie von »Geschwister«-Verkettungen zu unterscheiden; alternativ kann auch der Vorgänger markiert oder sein Name abgespeichert werden, so daß, wenn seine direkten Nachfolger bearbeitet werden, die Bearbeitung abgebrochen wird, wenn dieser Vorgänger erreicht wurde.)
Abb. 4.7 Darstellung eines Baumes mit Hilfe der Verkettungen zum linken direkten Nachfolger und zum rechten "Bruder"
In dieser Darstellung hat jedoch jeder Knoten genau zwei Verkettungen (eine zu seinem »Bruder« auf der rechten Seite und eine zu seinem direkten Nachfolger, der sich am weitesten links befindet). Man könnte daher fragen, ob ein Unterschied zwischen dieser Datenstruktur und einem binären Baum besteht. Die Antwort lautet »nein«, wie aus der Abbildung 4.8 (der Darstellung des Baumes von Abbildung 4.1 als binärer Baum) ersichtlich ist. Das bedeutet, daß jeder Wald als ein binärer Baum dargestellt werden kann, indem man die linke Verkettung jedes Knotens auf den am weitesten links befindlichen direkten Nachfolger und die rechte Verkettung jedes Knotens auf seinen rechts von ihm angeordneten »Bruder« zeigen läßt. (Diese Tatsache ist anfangs oft überraschend.)
Daher können wir bei der Entwicklung von Algorithmen immer, wenn dies angemessen ist, auch Wälder benutzen. Wenn wir uns von unten aufwärts bewegen, lassen sich Wälder durch die Darstellung mit Verkettungen zum direkten Vorgänger einfacher behandeln als die meisten anderen Arten von Bäumen, und wenn wir uns von oben nach unten bewegen, sind sie dem Wesen nach äquivalent zu binären Bäumen.
Abb. 4.8 Dartellung eines Baumes als binärer Baum
- Aus: Robert Sedgwick, Algorithmen in C++. Bonn u.a 1999,
zuerst 1992
Wald (5)
Ein Bote kommt.
MACBETH
Du hast was auf der Zunge: schnell heraus!
BOTE
Mein königlicher Herr,
Ich sollte melden das, was, wie ich glaube,
Ich
sah; doch wie ichs tun soll, weiß ich nicht.
MACBETH Nun, sags nur,
Mensch!
BOTE Als ich den Wachtdienst auf dem Hügel tat —
Ich schau
nach Birnam zu, und sieh, mir deucht,
Der Wald fängt an zu gehn.
MACBETH Lügner
und Sklav!
BOTE Laßt Euren Zorn mich fühlen, ists nicht so:
Drei
Meilen weit könnt Ihr ihn kommen sehn;
Ein gehnder Wald — wahrhaftig!
MACBETH Sprichst
du falsch,
Sollst du am nächsten Baum lebendig
hangen,
Bis Hunger dich verschrumpft hat; sprichst du wahr,
Magst
du mir meinethalb dasselbe tun. —
Einzieh ich die Entschlossenheit,
beginne
Den Doppelsinn des bösen Feinds zu merken,
Der Lüge
spricht wie Wahrheit: Fürchte nichts,
Bis
Birnams Wald anrückt auf Dunsinan! —
Und nunmehr kommt ein Wald nach
Dunsinan!
Waffen nun, Waffen, und hinaus! —
Ist Wahrheit das, was
seine Meldung spricht,
So ist kein Fliehn
von hier, ist Bleiben nicht.
Das Sonnenlicht will schon verhaßt mir
werden;
O fiel in Trümmer jetzt der Bau der Erden!
Auf, läutet
Sturm! Wind, blas! Heran, Verderben!
Den Harnisch
auf dem Rücken will ich sterben.
-
Shakespeare
,
Macbeth
Wald (6)
Wenn
er am Abend um halb zehn zur Arbeit kam, setzte er sich sofort an den schmalen
länglichen Tisch im Kesselhaus und begann zu schreiben. Langsam dachten
sich seine Gedanken durch den Anfang einer Geschichte,
um dann immer schneller auszugreifen. Es waren immer die gleichen Geschichten,
die er schrieb, mit nur wenigen Abweichungen, und diese hatten nur für
ihn selbst einen Wert. Es waren meist Geschichten, die in den Wäldern spielten
... in den Wäldern seiner Kindheit, die ihm
unendlich erschienen waren, und ihre Unendlichkeit suchte er in diesen
Geschichten zu wiederholen. Man sah eine einzelne Gestalt, durch die Wälder
gehend, die Hügel hinauf, die Hügel streckten sich wie in einem unguten
Traum.
Wie in den Gedichten von Nikolaus Lenau
- ein Dichter, den er in seiner Jugend, die noch
nicht lange vorbei war, oft gelesen hatte: irritiert, gefesselt, abgestoßen,
doch dann wieder ergriffen, und ohne ihn beiseite legen und vergessen zu
können - spielten die Jahreszeiten eine Hauptrolle in seinen Texten, die
keiner Einordnung zu unterwerfen waren. Eine losgelöste Gestalt irrte durch
die stehengebliebenen Jahreszeiten der Wälder; man wußte nicht, wovor sie
sich geflüchtet hatte, denn die Welt war nicht darstellbar, vor der sie
floh; die reale Welt war dieser Gestalt so fremd geworden, daß jede Wahrnehmung
an ihr scheiterte, sie war hinter einem Gelände aus Schatten versunken,
der Flüchtling wußte nicht mehr genau, aus welcher Welt er stammte. Und
nun war er bestrebt, der Verlorenheit der Wälder zu entkommen. Es waren
unheimliche Geschichten, die nicht zu begründen waren und in denen die
reglosen Wälder feindselig und abweisend atmeten.
- Wolfgang Hilbig, Das Provisorium. Frankfurt am Main 2001 (Fischer-Tb.
15099, zuerst 2000)
Wald (7) Dieser Wald unterscheidet
sich vom unsrigen durch den Gegensatz zwischen Laub und Stamm. Die Blätter
sind dunkler, ihre Grüntöne wirken mehr mineralisch als pflanzlich, wobei
Jade und Turmalin stärker vertreten sind als Smaragd und Chrysolith. Die
Stämme dagegen, weiß oder blaßgrau, heben sich wie Knochen vom dunklen
Hintergrund des Laubs ab. Da ich der Felswand zu nahe war, um das Ganze
überblicken zu können, vertiefte ich mich in die Einzelheiten. Pflanzen,
weit üppiger als die europäischen, richten Stengel und Blüten auf, die
wie aus Metall gegossen wirken, so fest ist ihr Wuchs und so sinnvoll ihre
Form, der die Zeit nichts anzuhaben scheint. Von außen gesehen, gehört
diese Natur einer anderen Ordnung an als die unsrige; sie läßt einen höheren
Grad an Präsenz und Dauer erkennen. Wie in den exotischen Landschaften
von Henri Rousseau gelangen auch hier die Lebewesen zur Würde von
Objekten. - (
str2
)
Wald
(8)
Von
außen gesehen, gleicht der amazonische Urwald einer Anhäufung erstarrter
Blasen, einem Turm grüner Schwellungen; es hat den Anschein, als litte
die Flußlandschaft allenthalben unter einer pathologischen Störung.
Doch sobald man die Haut durchsticht und ins Innere
dringt, verändert sich alles: von hier aus gesehen, erscheint diese wirre
Masse als ein monumentales Universum. Der Wald ist keine irdische Unordnung
mehr; eher könnte man ihn für die neue Welt irgendeines Planeten halten,
ebenso reich wie die unsrige, die an ihre Stelle getreten wäre.
Sobald sich das Auge an die nahen Kulissen gewöhnt und der Geist das erste Gefühl des Erdrücktwerdens überwunden hat, beginnt sich ein kompliziertes System zu enthüllen. Langsam erkennt man übereinanderliegende Etagen, die trotz Unterbrechungen und wechselndem Astegewirr ein und dieselbe Konstruktion aufweisen: zunächst sieht man die Spitzen der Pflanzen und Gräser, die sich in Augenhöhe befinden; darüber die fahlen Stämme der Bäume und die Lianen, die sich für kurze Zeit eines von jeder Vegetation befreiten Raums erfreuen; etwas höher verschwinden diese Stämme, verdeckt vom Laub der Stauden oder den scharlachroten Blüten der pacova, der wilden Bananen; aus diesem Schaum sieht man sie von neuem kurz herausschießen, bis sie sich abermals in den Blättern der Palmen verlieren; an einem noch höheren Punkt tauchen sie wieder auf, dort, wo sich ihre ersten Äste horizontal ausbreiten, Äste ohne Blätter, aber beladen mit Parasiten - Orchideen und Bromeliazeen - wie Schiffe mit ihrer Takelung; und dort, wo das Auge kaum noch hinreicht, schließt sich dieses Universum mit weiten Kuppeln aus grünen Blättern oder weißen, gelben, orangenen, purpurroten oder malvenfarbenen Blüten; der europäische Beobachter sieht dann mit Entzücken die Frische seines heimatlichen Frühlings, jedoch in so überproportionalem Maßstab, daß ihm als Vergleich nur die majestätische Farbenpracht des Herbstes einfällt.
Diesen luftigen Stockwerken entsprechen andere unmittelbar zu Füßen
des Reisenden. Denn man darf nicht glauben, daß man hier direkt auf dem
Boden geht; dieser ist vielmehr unter einem schwankenden Geflecht von Wurzeln,
Ablegern, Büscheln und Moos versunken, und jedesmal, wenn der Fuß keinen
festen Halt findet, läuft man Gefahr, in zuweilen unberechenbare Tiefen
zu stürzen. - (
str2
)
Wald
(9)
Oder
Majakowski, als Kind mit dem Vater auf Forstinspektion,
erfährt er den Wald als feindliches Wesen, ein Monstrum aus Wildwuchs,
Dornen und Nebel. Beim Erreichen einer Fabrik hinter
den sieben Bergen am Waldrand die Rettung. Es ist ein Anblick, den er nie
wieder vergessen wird. »Seit der Elektrizität verlor ich jedes Interesse
an der Natur. Eine unvollkommene Angelegenheit.« Der Ingenieur der Seele,
wie Stalin den neuen Künstler genannt hat, tritt auf den Plan.
- (
gr
)
Wald
(10)
In
einem Wald gehe ich mit einem Freund spazieren
(dessen Identität nicht eindeutig auszumachen
ist: seinem Wesen nach jedenfalls ein »Freund«).
An einer Wegbiegung sehen wir einen Kometen vorüberziehen,
sehr langsam und so dicht über der Erde, daß ich fürchte, sein Schweif
könnte die Wipfel der Bäume entzünden. Der Komet
verschwindet. Ich höre eine ungewöhnlich zarte und zugleich hellklingende
Stimme, die durch das Geäst dringt und allmählich den ganzen Wald mit ihrem
Gesang erfüllt. Mein Weggefährte sagt mir, daß
alle Vögel des Waldes nun
sterben werden. In diesem Augenblick verstummt die
Stimme, und dies bedeutet, daß im Unterholz kein einziges gefiedertes
Wesen mehr am Leben ist.
Wir gelangen an das Ufer eines Teichs, auf dessen Grund, wie ich ahne,
sich, schlafend, Nixen oder andere Fabelwesen aufhalten.
Noch einmal erscheint der Komet, schwebt einen Augenblick lang über unsern
Häuptern, fallt und verschwindet, mit einem langgezogenen Schrei, hinter
dem Horizont. Da wird das Wasser des Teichs durchsichtiger,
und auf seinem Grund sehe ich Türme und Paläste, über deren Freitreppen
Scharen von Menschen und Tieren herabkommen, von denen ich weiß, daß sie
imaginäre Gestalten und nicht wirkliche Wesen sind. Ich erkenne unter ihnen
Märchenfiguren wie der, wie den Bärenhäuter, Eselshaut oder den Gestiefelten
Kater. Sie steigen aus dem Wasser und fangen an, alle miteinander zu tanzen;
sie ziehen mich in ihren Reigen, dem ich, so scheint es, nie wieder entkommen
soll. - (
leiris
)
Wald
(11)
wie wieland schmied in der waldhütte zu leben |
- (
artm
)
Wald
(12) Es war einmal ein altes
Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau
ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze
oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein
Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann
schlachtete sies, kochte und briet es. Wenn Jemand auf hundert Schritte
dem Schloß nahekam, so mußte er stille stehen und konnte sich nicht von
der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach: wenn aber eine keusche Jungfrau
in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel,
und sperrte sie dann in einen Korb ein, und trug den Korb in eine Kammer
des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren
Vögeln im Schlosse. - (
grim
)
Wald
(13) Ich bin im Zentrum
des Waldes, und ich weiß, daß der Wald mich annimmt. Blätter, Moos, Pilze
und Gräser, riesige Baumstämme und schlanke Sträucher haben meinen Weg
gesäumt, meine Wunden gezählt, die Farbe meines Blutes erörtert und die
unzweifelhafte Feierlichkeit meines Begräbnisses
gewürdigt. Der stilvoll zur Schau gestellte Schmerz meiner Knappen hat
ihn vorteilhaft beeindruckt. Die mustergültige Katastrophe, mein Fluchttod
und der Leichenpomp haben mir das Recht zur Flucht verliehen. Erhabener
Ort, Freund aber nicht Kumpan, Kumpan aber nicht Mittäter: der Wald. Ihn
beleuchtet die Phosphoreszenz des Zerfalls; riesige
Blätter stellen in anmutigem Stolz das leuchtende Sumpffieber zur Schau.
Der Wald nimmt mich an; ich habe das Haus, in dem Du träumst, endgültig
verloren, und stattdessen den Tod, die Schande, die Flucht gewählt. Ich
habe gut daran getan, jegliche Zukunft zu verlieren. Mein Wappen ist die
Schande, und mein Tod dient mir als unversehrte Rüstung.
Der gastfreundliche, würdevolle, vornehm theatralische Wald veranstaltet
Darbietungen mit illusionistischen Trugbildern zur Zerstreuung meiner gemarterten
Seele. Ein Mann zu Pferd
verfolgt ein weinendes Mädchen, fängt es, krönt
es, kniet vor ihm nieder, schlägt ihm unvermittelt mit glattem Hieb den
Kopf ab, zerreißt, zertrampelt und verstreut seine Glieder und schluchzt
verzweifelt ob der verlorenen Königin. Eine junge Frau mit einem Kopf und
drei Gesichtern bietet sich dem mordenden Ritter an, doch die drei Gesichter
haben nur einen Mund und Krallen anstelle von Zähnen; und dieser Mund lächelt.
Zwei schweigsame Schatten verfolgen sich im Kreis, und als sie sich berühren,
zerfließen sie zu Schlamm, auf dem viele Augen schwimmen, jedes anders
als die anderen. Tausend blutige abgehauene Köpfe streiten sich um das
Gold einer Krone und zerfleischen sich gegenseitig mit den Zähnen.
Regenpaläste entstehen und zerfließen, und mein
Herz klopft, denn nur so könnte Deine Behausung beschaffen sein. Ich weine,
und mein Weinen ist der Regen, der den Wald erquickt. Der Wald schätzt
meine Tränen, die er - vermutlich nicht zu Unrecht - als Ehrfurchtsbezeugung
ansieht. Ich gehe auf einen Wasserpalast zu, verschwommene Schatten schweigsamer
Tiere, Gespenster, vielleicht menschliche. Er löst sich auf, erscheint
wieder, verschwindet - vielleicht zu seinem eigenen Leidwesen. Der Wald
gestattet mir weiterzugehen. - Giorgio Manganelli, Amore. Berlin
1982 (Wagenbach Quartheft 118, zuerst 1981)
Wald
(14) Ich lebe zusammen mit meinen
drei Händen und meinem Zahnfleisch in dem schönen
Haus, das jemand im Herzen des Waldes erbaut hat.
Bei diesem Satz muß ich erklären, was das Herz des Waldes eigentlich bedeutet.
Vielleicht ist es eine ungeschliffene Metapher; aber wahrscheinlich eher
eine rohe sachliche Angabe, die nur darauf hinweisen soll, daß ich es,
wie ich mich auch bewege, immer mit Eingeweiden
zu tun habe. Ich weiß wahrhaftig nicht, wer eigentlich, wenn überhaupt
irgendwer, dieses schöne fest gefügte und verschwiegene, einsame und lebenslustige
Holzhaus mit seinen bräutlichen Gerüchen und Geräuschen
gebaut hat, in dem ich in gewissem Sinn wohne. Ich kann mich weder an Eltern
noch an Vorfahren entsinnen, die an diesen Bau hätten Hand anlegen können:
Meiner Ansicht nach ist er vollkommen, von einer sich selbst nicht bewußten,
hartnäckigen, immerwährenden Vollkommenheit. Das Haus besetzt einen Raum,
den der Wald, jenes unreine, ängstliche Herz, seit undenklichen Zeiten
nicht mehr für sich beansprucht. Das Haus, vermute ich, entstand erst nach
einer archaischen Vereinbarung, kraft derer der Wald darauf verzichtet
hat, in diesem Teil seiner selbst zu existieren. Da das Haus aus Holz ist,
besteht es aus Wald, ist sogar Wald, aber ein Wald, der darauf verzichtet
hat, als wildes Tier, Hund, Marder, Blume, Sumpf zu existieren, ein Wald,
der auf die tödlichen Rasereien der Jahreszeiten, auf seinen Tod
und seine Auferstehung verzichtet hat. Also ist
mein schönes Haus der Mittelpunkt des Waldes
und vielleicht ein Ort, den der Wald aus der Ferne verehrt. Ich würde nicht
sagen, daß mein Haus von den Jahreszeiten keine Ahnung hat; es läßt sie
über sich ergehen und mißversteht weder den Frühling als einen Aufruf,
auf schönere und fruchtbarere Weise zu existieren, noch den Sommer als
Nahrung, noch kuschelt es sich im weisen Verfall des herbstlichen Schoßes
zusammen, noch verwandelt es sich in einen winterlichen Grabstein. Die
Jahreszeiten berühren es leicht und schenken ihm nicht mehr als ein Amulett,
ein Schmuckstück, ein symbolisches und nicht verpflichtendes Spielzeug,
mit dem sich das Haus in stürmischer Heiterkeit und Freude schmückt: ein
gerundeter Harztropfen, die Kerbe einer betrunkenen Hummel, die ruhige
und liebkosende Hand eines Regens und zuletzt die
schneeige Anspielung auf einen nächtlichen Ball. Ich weiß, daß das Haus
lacht, und darum mag ich das Haus. - Aus: Giorgio Manganelli, Kometinnen
und andere Abschweifungen. Berlin 1997 (zuerst 1996)
Wald
(15) Um Mitternacht und bey sehr
ruhiger See fuhren wir unwissender Weise gegen ein ungeheures Eisvogelnest
an, das ungefähr sechzig Stadien im Umkreis haben mochte. Der Eisvogel,
der eben über den Eyren saß und brütete, gab seinem Nest an Größe nicht
viel nach; und da er aufflog, fehlte wenig daß er unser Schiff mit dem
Winde, den seine Flügel machten, nicht umgeworfen hätte. Indem er davon
flog, ließ er eine sonderbare klägliche Stimme von sich hören. Als es Tag
wurde, stiegen wir aus, um das Nest zu besehen, das aus lauter Bäumen zusammengefügt
war und einem Ungeheuern Flosse ähnlich sah. Es lagen fünfzig Eyer darin,
jedes größer als eine Chiische Tonne, und die Jungen darin waren bereits
sichtbar und piepten. Wir hieben eines von diesen Eyern mit einer Zimmeraxt
auf, und zogen ein unbefiedertes Küchelchen heraus, das stärker war als
zwanzig Geyer.
Kaum hatten wir uns wieder auf zweyhundert Stadien vom Nest entfernt, als uns verschiedene höchst erstaunliche Wunderdinge begegneten. Die Gans auf dem Vordertheile unsers Schiffes fieng auf einmal an mit den Flügeln zu schlagen und laut zu schnattern; unser Steuermann Skintharus, der so kahl war wie die flache Hand, bekam plötzlich seine Haare wieder; und, was noch das wunderbarste war, unser Mastbaum fieng an zu sprossen, Äste zu treiben, und oben im Wipfel Feigen und Weintrauben zu tragen, wiewohl noch nicht völlig zeitige. Man kann sich vorstellen, wie bestürzt wir über alle diese Wunderzeichen wurden, und wie eifrig wir die Götter baten, die Übel von uns abzuwenden, die etwa dadurch bedeutet werden könnten.
Wir hatten noch nicht fünfhundert Stadien zurück gelegt, so erblickten
wir einen sehr großen und dichten Wald von Fichten und Cypressen. Anfangs
hielten wir es für festes Land; aber es war ein tiefes Meer, das mit Bäumen
ohne Wurzeln bepflanzt war. Demungeachtet standen die Bäume gerade und
unbeweglich, oder schienen uns vielmehr so entgegen zu schwimmen. Wie wir
ihnen nun nahe genug waren, um alles genau zu erkundigen, geriethen wir
in großen Zweifel was wir anfangen sollten. Durch die Bäume durch zu kommen,
war keine Möglichkeit, denn sie standen in geschloßnen Reyhen dicht an
einander; und wieder umzukehren, schien uns auch nicht rathsam. Ich erstieg
also den größten dieser Bäume um mich auf allen Seiten umzusehen, was es
eigentlich für eine Bewandtniß mit der Sache hätte; und da sah ich, daß
der Wald sich gegen fünfzig Stadien und drüber erstrecke, und dann wieder
ein neues Meer angehe. Ich kam also auf den Einfall, unser Schiff auf die
Wipfel der Bäume, die ungemein dicht waren, zu versetzen, und es, wo möglich,
über sie weg in das jenseitige Meer zu ziehen. Wie gedacht, so gethan.
Wir machten unser Schiff an ein großes Tau fest, stiegen auf die Bäume,
und zogen es, wiewohl mit unendlicher Mühe, zu uns herauf; setzten es dann
auf die obersten Äste, spannten alle Segel auf, und segelten, mit einem
guten frischen Winde hinter uns, so leicht darüber weg, als ob wir noch
auf dem Wasser wären. Wie wir endlich diesen Wald zurückgelegt hatten,
kamen wir wieder an die See, ließen unser Schiff wieder herab, und fuhren
durch ein crystallhelles durchsichtiges Wasser so lange fort, bis wir bey
einer großen Wasserkluft still zu halten genöthigt waren, die dadurch entstanden
war, daß das Wasser sich von einander gespalten, und in seiner Art etwas
dem, was man zu Lande einen Erdfall nennt, ähnliches hervorgebracht hatte.
Es hätte wenig gefehlt, daß unser Schiff in diesen Abgrund hinabgezogen
worden wäre, wenn wir nicht noch zu rechter Zeit alle Segel eingerafft
hätten. Wie wir nun die Köpfe hervorstreckten und hinunter guckten, sahen
wir eine Tieffe von tausend Stadien wenigstens, vor der uns Sinne und Verstand
still stunden. Wie wir uns aber besser umsahen, wurden wir in der Ferne
einer wässernen Brücke gewahr, die über diesen Abgrund geworfen war, und
die Oberfläche des dieß- und jenseitigen Meeres mit einander vereinigte.
Wir ruderten nun mit solcher Macht, bis wir unser Schiff auf diese Brücke
brachten, und kamen solcher Gestalt, was wir nicht hatten hoffen dürfen,
glücklich, wiewohl mit unsäglicher Arbeit, hinüber. - (
luege
)
Wald
(16) »Die Dinge haben sich geändert,
aber in manchen Gegenden ist es noch wahr.«
»Was meint Ihr?« fragte Pippin. »Was ist wahr?«
»Die Bäume und die Ents«, sagte Baumbart. »Ich verstehe selbst nicht alles, was vorgeht, deshalb kann ich es euch nicht erklären. Einige von uns sind immer noch wahre Ents und auf unsere Weise lebendig genug, aber viele werden schläfrig, werden baumisch, könnte man sagen. Die meisten Bäume sind natürlich einfach Bäume; aber viele sind halb wach. Manche sind hellwach, und ein paar, nun ja, werden richtig Entisch. Das geschieht immer.
Wenn das einem Baum widerfährt, stellt man fest, daß einige schlechte Herzen haben. Das hat nichts mit ihrem Holz zu tun: das meine ich nicht. Nun ja, ich kannte ein paar gute alte Weiden unten an der Entwasser, sie sind schon lange tot, leider! Sie waren ganz hohl, sie brachen tatsächlich auseinander, aber sie waren so friedlich und gutartig wie ein junges Blatt. Und dann gibt es einige Bäume in den Tälern unter dem Gebirge, gesund wie ein Fisch im Wasser und dennoch durch und durch schlecht. Diese Sache scheint sich auszubreiten. Früher gab es einige sehr gefährliche Gegenden in diesem Land. Noch immer gibt es ein paar sehr finstere Stellen.«
»Wie der Alte Wald im Norden, meint Ihr das?« fragte Merry.
»Freilich, freilich, so ähnlich, aber viel schlimmer. Ich zweifle nicht, daß irgendein Schatten der Großen Dunkelheit noch da oben im Norden liegt; und schlechte Erinnerungen sind überliefert. Doch gibt es enge Täler in diesem Land, von denen die Dunkelheit niemals hinweggezogen wurde, und die Bäume sind älter als ich. Immerhin, wir tun, was wir können. Wir halten Fremde und die Waghalsigen fern. Und wir lehren und unterrichten, wir wandern und sehen nach dem Rechten.
Wir sind Baumhirten, wir alten Ents. Wenig genug sind heute von uns noch übrig. Schafe werden wie Schafhirten und Schafhirten wie Schafe, heißt es; aber langsam, und beide weilen nicht ränge auf dieser Welt. Es geht schneller und gründlicher bei Bäumen und Ents, und gemeinsam wandeln sie durch die Zeitalter. Denn Ents sind mehr wie Elben: weniger auf sich selbst bezogen als Menschen, und sie vermögen sich besser in andere hineinzuversetzen. Und dennoch sind Ents wiederum den Menschen ähnlicher, wandelbarer als Elben, und nehmen rascher, könnte man sagen, die Farbe der Außenwelt an. Oder besser als beide: denn sie sind standhafter und verfolgen ihre Ziele länger.
Manche von meiner Sippe sehen jetzt genau wie Bäume aus und brauchen etwas Großes, um sie aufzurütteln; und wenn sie sprechen, flüstern sie nur. Aber manche von meinen Bäumen sind astgeschmeidig, und viele können mit mir reden. Natürlich begannen die Elben damit, die Bäume aufzuwecken und sie das Sprechen zu lehren und ihre Baumsprache zu lernen. Sie wollten immer mit allem reden, die alten Elben. Aber dann kam die Große Dunkelheit, und sie zogen über das Meer oder flohen in ferne Täler und verbargen sich und machten Gedichte über die Tage, die niemals wiederkommen werden. Niemals wieder. Freilich, freilich, einstmalen war alles ein Wald von hier bis zu den Bergen von Luhn, und dies hier war einfach das Ostende.
Das waren damals helle Tage! Die Zeit ist vorbei, da ich den ganzen
Tag wandern und singen konnte und nichts hörte als den Widerhall meiner
eigenen Stimme in den schluchtenreichen Bergen. Die Wälder waren wie die
Wälder von Lothlórien, nur dichter, kräftiger, jünger. Und wie die Luft
duftete! Ich verbrachte manchmal eine ganze Woche nur mit Atmen.« -
J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe. Stuttgart 1972 (zuerst 1966)
Wald
(17) In alten zeiten treffen sich
leute, die einander lange nicht gesehen haben, in tiefen wäldern.
Sie begegnen einander immer wieder in immensen forsten, wie der wald Celyddon einer ist.
Oder im walde Brecheliant oder im walde des Bro Mee an der gallischen grenze.
Oder an der versteinerten waldöde Numidiens, wo der regen seit tausenden jahren tot ist.
Nicht minder auf den inseln, die nur selten auftauchen oder zu sehen sind (ausgenommen I Bhreasail, das spitze eiland, das nur von roten, salzigen tarnen überwachsen ist).
Oder in den ungeheuren wäldern Scythiens, Transilvanias oder Böhmens (dem ort der prinzen und könige: Sigismunde und Ferdinandos unter ihnen).
Wer sich in diesen wäldern trifft, der riecht nach laub und waben, nach beeren und nasser haut: seine abendmahlzeiten bestehen aus Sonnenuntergängen und aus Waschungen in unbekannten bächen.
Wer sich in wäldern trifft, der schläft in den gabelungen der bäume (der wilden wesen wegen); Suibhne war der berühmteste baumschläfer von Macha Emain; träumer in grünen hemden zwischen mond und moos ...
In wäldern trifft man nicht nur verlorengeglaubte freunde und brüder, man trifft wolfsmänner, von bären aufgezogene mädchen, von luchsen in zartem alter entführte zwerge oder seit langem verwilderte damen ohne sinn für schöne rede oder menschlichen kuß.
Die lichtungen in diesen wäldern sind orte der idyllen: ein weißer hirsch streift über sie, eine nachtigall durchsingt ihre mittlere luft, der westwind fällt warm in den wehenden schierling oder auf hahnenfuß . . .
Oh, ihr interjektionen, wenn nach kurzen augenblicken des unglaubens
sich bruder dem bruder oder freund dem freund in die arme wirft, welch
austausch ehrlicher phrasen beim kargen mahl des jahrlangen jägers und
sammlers, welch fröhlicheres atmen im vierfüßigen rascheln des schneckenzerfressenen
sommerfarns! - H.C.
Artmann, Sich
in Wäldern treffen. In:
Unter der Bedeckung eines Hutes. Montagen und Sequenzen. Frankfurt am Main
1976 (st 337, zuerst 1974)
Wald
(18) Von Frau von Esquevilly erzählte
man eine Geschichte. Als sie durch den Bois de Boulogne kam, hieß es, sei
ihre Kutsche zerbrochen, und der Herr Prinz, welcher betrunken aus Saint-Cloud
zurückkehrte, habe sie für die hübscheste gehalten - es waren noch andere
bei ihr -, sie gepackt und in den Wald geführt. Die Stutzer ließen es sich
wohl ergehen mit den anderen. Es war eine Frau von Seve dabei, von der
Insel Saint-Louis, die Frau von Coquerel und eine Witwe, auch von der Insel,
namens Frau von Bourneuf. Um der Geschichte Würze zu geben, sagte man,
Frau von Esquevilly habe nach Le Prestre, ihrem Liebhaber
gerufen: «Mein Vetter» - er ist ihr Vetter ersten Grades -:
«Mein Vetter, mein Vetter, rette mich, ich bitte dich,
Aus dem Unglück,
in dem ich bin.»
(Verse von Malherbe) und daß Frau von Bourneuf danach gesagt habe: «Ihr,
Ihr habt Ehemänner, aber ich, was wäre das für
ein Skandal!» - (
tal
)
Wald
(19)
Die Schar der Edlen überschritt sodann |
- Beowulf (Übs. und Hg. Martin Lehnert, Insel
Verlag Leipzig 1986, zuerst ca. 650)
Wald
(20) Bald kam sie an ein weites
Feld, hinter dem sich ein dunkler Wald erhob — der sah viel dunkler aus
als der vorige, und Alice bekam es bei seinem Anblick nun doch ein wenig
mit der Angst zu tun. Aber dann ging sie mit sich zu Rate und entschloß
sich, trotz allem hindurchzugehen: »Denn umgekehrt wird auf keinen Fall!«
dachte sie im stillen, und einen anderen Weg zum achten Feld gab es ja
nicht.
»Das muß der Wald sein, in dem nichts einen Namen hat«, sagte sie sich nachdenklich. »Was wohl aus meinem Namen wird, wenn ich hineingehe? Verlieren möchte ich ihn gar nicht gern - denn dann müßten sie mir einen anderen geben, und der wäre aller Wahrscheinlichkeit nach häßlich. Das Lustige wäre dann nur, nach dem Wesen zu suchen, das meinen alten Namen bekommen hat! Wie in einer Suchanzeige, nicht wahr, wenn ein Hund entlaufen ist: ›Hört auf den Namen Schwupp und trägt ein Messinghalsband.‹ - Stell dir nur vor, man müßte alles mit ›Alice‹ anreden, bis man schließlich einmal die Antwort bekommt: ›Ja bitte?‹ Und wenn sie dann noch klug wären, würden sie überhaupt nicht antworten.«
So schwatzte sie vor sich hin, bis sie an den Wald gekommen war; von draußen sah er sehr kühl und schattig aus. »Nun, einen Vorteil hat es wenigstens«, sagte sie, während sie zwi«chen die ersten Bäume trat, »man kommt dabei von der Hitze in den — in den - in den Was?« fragte sie, ganz überrascht, daß ihr das Wort nicht einfallen wollte. »Ich meine, zwischen die - die — nun, das da eben!« und faßte dabei einen Baumstamm an. »Wie heißt das nur? Ich glaube fast, es hat gar keinen Namen — nein, tatsächlich, es hat keinen!«
Eine Zeitlang blieb sie wortlos stehen und dachte nach. Dann sprach
sie plötzlich weiter: »Dann ist es also wirklich eingetroffen! Und nun,
wer bin ich? Daran will ich mich unbedingt erinnern, wenn es irgendwie
geht. Ich bin fest entschlossen dazu!« Aber ihre Entschlossenheit half
ihr nicht viel, und nachdem sie lange vergeblich herumgeraten hatte, konnte
sie nur noch sagen: »L! Ich weiß, daß ich mit L angehe.« - Lewis
Carroll,
Alice hinter den Spiegeln (it 97, zuerst 1872)
Wald
(21) Ein deutscher
Wald ist seiner Pflicht bewußt, daß man von ihm singen könne: Wer hat dich,
du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben? Wohl den Meister will ich loben,
solang' noch meine Stimm' erschallt! Der Meister ist ein Forstmeister, Oberforstmeister
oder Forstrat, und hat den Wald so aufgebaut, daß er mit Recht sehr böse wäre,
wenn man darin seine sachkundige Hand nicht sofort bemerken wollte. Er hat für
Licht, Luft, Auswahl der Bäume, für Zufahrtswege, Lage der Schlagplätze und
Entfernung des Unterholzes gesorgt und hat den Bäumen jene schöne, reihenförmige,
gekämmte Anordnung gegeben, die uns so entzückt, wenn
wir aus der wilden Unregelmäßigkeit der Großstädte
kommen. - (
nach
)
Wald
(22) Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem betäubend
warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien und die Bäume wie
Schlangen bewegte, in der immer gleichen Dämmerung der kaum sichtbaren
Blutspur auf dem gleichmäßig schwankenden Boden nach, allein in die
Schlacht mit dem Tier. In den ersten Tagen und Nächten, oder waren es
nur Stunden, wie konnte er die Zeit messen ohne Himmel, fragte er sich
noch manchmal, was unter dem Boden sein mochte, der unter seinen
Schritten Wellen schlug so daß er zu atmen schien, wie dünn die Haut
über dem unbekannten Unten und wie lange sie ihn heraushalten würde aus
den Eingeweiden der Welt. Wenn er vorsichtiger auftrat, schien es ihm,
als ob der Boden, von dem er geglaubt hatte, daß er seinem Gewicht
nachgäbe, seinem Fuß entgegenkam, ihn sogar, mit einer saugenden
Bewegung, anzog. Auch hatte er das deutliche Gefühl, daß seine Füße
schwerer wurden. Er zählte die Möglichkeiten, 1) Seine Füße wurden
schwerer und der Boden saugte seine Füße an. 2) Er fühlte seine Füße
schwerer werden, weil der Boden sie ansaugte. 3) Er hatte den Eindruck,
daß der Boden seine Füße ansaugte, weil sie schwerer wurden. Die Fragen
beschäftigten ihn eine Zeit (Jahre Stunden Minuten) lang. Er fand die
Antwort in dem zunehmenden Schwindelgefühl, das der konzentrisch
wehende Wind ihm verursachte: Seine Füße wurden nicht schwerer, der
Boden saugte seine Füße nicht an. Das eine wie das andere war eine
Sinnestäuschung, durch seinen fallenden Blutdruck bedingt. Das
beruhigte ihn und er ging schneller. Oder glaubte er nur schneller zu
gehn. Als der Wind zunahm, wurde er häufiger an Gesicht Hals Händen von
Bäumen und Ästen gestreift. Die Berührung war zunächst eher angenehm,
ein Streicheln oder als prüften sie, wenn auch oberflächlich und ohne
besonderes Interesse, die Beschaffenheit seiner Haut. Dann schien
der Wald dichter zu wachsen, die Art der Berührung änderte sich, aus
dem Streicheln wurde ein Abmessen. Wie beim Schneider, dachte er, als
die Aste seinen Kopf umspannten, dann den Hals, die Brust, die Taille
usw., sogar an seinem Schritt schien der Wald interessiert zu sein, bis
sie ihn von Kopf bis Fuß Maß genommen hatten. Das Automatische des
Ablaufs irritierte ihn. Wer oder was lenkte die Bewegungen dieser
Bäume, Äste oder was immer da an seiner Hutnummer Kragenweite
Schuhgröße interessiert war. Konnte dieser Wald, der keinem der Wälder
glich, die er gekannt, »durchschritten« hatte, überhaupt noch ein Wald
genannt werden. Vielleicht war er selber schon zu lange unterwegs, eine
Erdzeit zu lange, und Wälder überhaupt waren nur mehr was dieser Wald
war. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus und alle
andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden,
auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte
Gegebenheit durchschritt, das zu tötende Monstrum, das die Zeit in ein
Exkrement im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benennung von
etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur
er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen
schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen
Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein
andrer als er. Er dachte noch darüber nach, als der Wald ihn wieder in
den Griff nahm. Die Gegebenheit studierte sein Skelett, Zahl, Stärke,
Anordnung, Funktion der Knochen, die Verbindung der Gelenke. Die
Operation war schmerzhaft. Er hatte Mühe, nicht zu schreien. Er warf
sich nach vorn in einen schnellen Spurt aus der Umklammerung. Er wußte,
nie war er schneller gelaufen. Er kam keinen Schritt weit, der Wald
hielt das Tempo, er blieb in der Klammer, die sich jetzt um ihn [96]
zusammenzog und seine Eingeweide aufeinanderpreßte seine Knochen
aneinanderrieb, wie lange konnte er den Druck aushalten, und begriff,
in der aufsteigenden Panik: der Wald war das Tier, lange schon war der
Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte, das Tier gewesen, das
ihn trug im Tempo seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und
der Wind sein Atem, die Spur, der er gefolgt war, sein eigenes Blut,
von dem der Wald, der das Tier war. -
Aus
:
Heiner Müller: Werke 2: Die Prosa. Frankfurt am Main 1999
Wald
(23) Der Waldspaziergang besteht
in einer langen Wanderung bergauf, allerdings bei nur geringer Steigung. Der
Weg wird von mehreren Wasserläufen durchschnitten, die man durchwaten muß. Wie
ich es schon bei einem getan habe, schicke ich mich an, den letzten zu durchschwimmen
und versuche einige Schwimmzüge, die um so ungeschickter sind, als ich in meiner
Landkleidung und in meinem schweren Regenmantel stecke, dessen dickes Futter
fest eingenäht ist. Ein Junge aus der Umgegend sagt mir, daß man an dieser Stelle
stehen kann und daß das Wasser, wenn ich aufrecht gehe, mir nur halb bis zu
den Schenkeln reicht. Aber als ich den Versuch mache, merke ich, daß es mir
bis in Brusthöhe steht und daß meine neue Stellung gar nicht so günstig ist,
um gegen die Strömung anzukommen.
Einige Zeit vorher, in etwa auf halbem Weg, waren wir auf einen halbtoten Hund gestoßen, eine Art deutschen Schäferhund, auf den wir erst aufmerksam wurden, als wir ihn schon zwanzig Meter hinter uns gelassen hatten, und dessen hübsches, einfarbiges Fell ein etwas falb schimmerndes Beige aufweist. Wahrscheinlich halb verhungert, weil er sich vermutlich wegen der Überschwemmung, die die Flüsse hat anschwellen lassen, verlaufen hat, liegt er mit dem Bauch auf dem Boden und scheint ohne einen Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, in das Dickicht hineinkriechen zu wollen, dem seine Schnauze zugewandt ist. Wir haben Mitleid mit dem armen Tier, aber was kann man für es tun!
Ich für mein Teil empfinde eine ganz leichte Unruhe : kann es nicht, wenn wir es auf dem Rückweg wiedersehen (was wahrscheinlich ist, so mitgenommen ist es), tollwütig geworden sein?
Schließlich bemerke ich - durch eine Art Mast gekennzeichnet (der zu einer Wetterwarte oder einer Funkstation gehört oder einfach ein Signal ist) - die nur wenig erhöhte, zu einer kahlen Kuppe sanft aufgewölbte Anhöhe, die jenseits des Waldes das Ziel des Ausflugs sein muß oder zumindest ihr logischer Abschluß sein könnte: ist dieser Gipfelpunkt einmal erreicht, so besteht kein Grund, weiter zu gehen. So bin ich denn auch erfreut bei dem Gedanken, daß wir uns bald nicht mehr abmühen müssen, sondern nur mehr den Weg zurückzugehen brauchen.
Von da an sehe ich das Abenteuer als beendet an... Gerade in diesem Augenblick klopft es sachte an die Tür. Es ist der Morgentee, der wie jeden Tag um acht von der Frau unseres sympathischen marokkanischen Faktotums gebracht wird; das kündigt an, daß der Moment gekommen ist, den Drang zu befriedigen, der mir vage bewußt war und meinen sich seinem Ende zuneigenden Schlaf gestört und unter der Hand jenes Problem gestellt hatte, von dem ich aus Erfahrung weiß, daß es die heuchlerischsten Verkleidungen annehmen kann: werde ich gleich urinieren gehen oder werde ich noch warten?
Ganz unmittelbar ist meine Genugtuung groß genug festzustellen, daß das Ende
des Spaziergangs und das Erwachen völlig übereinstimmen. Daß das Leben in dem
Augenblick wieder anfängt, in dem ein Traum, anstatt sinnlos abzubrechen, ordentlich
zu Ende geht, das scheint mir ein Erfolg. (
leiris2
)
Wald
(24) Ich stieß mich leicht
ab und landete in tiefer Kniebeuge auf Händen und Füßen. Ich richtete mich auf
und drehte mich mit dem Rücken zur Wand: Vor mir stand der Tote Wald, wie ich
diese eigenartige Landschaft nun einmal getauft hatte.
Er wirkte von hier aus ganz anders als aus der Höhe. Es waren tatsächlich eine Art gläserne Stämme, die sich oben in spitze Seitenäste gabelten. Überall starrten nadeiförmige Dornen hervor, die wiederum mit feineren Nadeln - halb Blättern, halb Hörnern - bedeckt waren. Und überall spielten schillernde Regenbogen.
Bevor ich den Wald betrat, richtete ich den Girokompaß nach einer in der Ferne sichtbaren Vertiefung aus und stellte danach die Richtung fest. Dann drang ich in den Wald ein. Die Füße fanden kaum Halt in der dicken Schicht knackender und knirschender Bruchstücke. Unter den eisenbeschlagenen Schuhen zersplitterten bürstenförmige violette Kristalle. Die Stämme der toten Bäume waren schraubenartig gewunden, wie aus dicken, gläsernen Seilen geflochten. Alle Stämme waren nach rechts gedreht. Ich bemühte mich, die Richtung beizubehalten; aber es war nicht einfach. Alle paar Schritte mußte ich auf den Kompaß blicken. Einige Male blieb ich zwischen Reihen von dicht zusammenrückenden »Hirschgeweihen« stecken und mußte mir einen anderen Weg suchen. Nach vielen Umwegen näherte ich mich allmählich doch meinem Ziel. Die runden, ineinander verschmelzenden Formen tauchten immer häufiger auf, die nadel-, degen- und strahlenförmigen wurden seltener. Überall flimmerten farbensprühende Gebilde: sie erinnerten an gefrorene Springbrunnen, die sich mit ihren armstarken Wasserstrahlen auf den Boden stützten. Als ich mich zwischen ihnen hindurchzwängte, mußte ich zeitweise die Augen schließen vor dem Glitzern, dem jähen Aufstrahlen und Wiederdunkelwerden. Ein flak-kerndes Brillantfeuerwerk - blau, gelb, violett und karminrot - flammte in diesem Kristalldickicht. Manchmal erlosch, wie mit Asche bestreut, eine gewölbte Fläche, die von weitem wie reines Silber gegleißt hatte. Plötzlich klemmte ich mich in dem engen Durchgang zwischen den Strahlen einer der versteinerten Fontänen fest. Ich riß mich los, und das Hindernis zerbarst mit einem so heftigen Knall, daß ich zusammenschrak und glaubte, der Helm sei geborsten.
Je weiter ich kam, um so flacher wurden die baumähnlichen Gebilde, neigten
sich zur Erde, flochten die nach allen Seiten strebenden Äste ineinander, als
drückte sie eine unsichtbare Kraft zu Boden. Schon seit längerer Zeit zuckten
rötliche Blitze vor meinen Augen. In der Farbenglut, die von allen Seiten auf
mich einströmte, hatte ich es anfangs nicht beachtet, in der Meinung, daß sich
das Licht von draußen im Glasfenster des Helmes brach. Doch der rötliche Schein
verstärkte sich plötzlich, und ich bemerkte, daß er aus dem Innern des Helmes
kam. Über dem Radarschirm befand sich eine matte, kleine Kugel, die radioaktive
Strahlungen anzeigte. Auf der Erde hatten wir uns mit den Skaphandern in eine
Versuchskammer begeben, in deren Mitte ein Gefäß mit radioaktiven Stoffen stand.
Wenn man sich näherte, begann in dem matten Kügelchen ein roter Punkt aufzuleuchten
und vergrößerte sich im Maße der Annäherung an die Strahlungsquelle wie die
Glut eines glimmenden Kohlenstückchens, auf das man bläst. Hier aber glomm diese
Alarmvorrichtung nicht, sondern glühte wie ein blutigrotes Auge und erfüllte
das Innere des Helmes mit flammender Röte. Ich blieb stehen. Der Glanz war so
stark geworden, daß mir das Sehen schwerfiel. Also herrschte hier eine außerordentlich
dichte Strahlung. Es war ratsam, diesen gefährlichen Ort schleunigst zu verlassen.
Ich senkte den Kopf vor den herabhängenden Stalaktiten und ging einige Schritte
seitwärts. Der rote Glanz wurde schwächer. Ich stieg über die Adern der blinkenden
Masse, die sich wie Wurzeln am Boden hinwanden, und drang weiter vor. Wieder
glühte die Kugel auf. Ich nahm meinen Handindikator, der die Radioaktivität
angab, aus der Tasche. Er sah wie eine kleine Pistole aus und besaß eine Leuchtskala
an der Stelle, wo sich bei einer gewöhnlichen Pistole der Hahn befindet. Indem
ich den Lauf hob, bemerkte ich, daß der Tote Wald keineswegs eine so idyllische
Einöde war, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte. Der Zeiger tanzte wie
irr über die Skala und schlug mit solcher Stärke aus, als wollte er das hemmende
Schräubchen zerbrechen. - Stanislaw Lem, Die Astronauten. Frankfurt am
Main 1996 (zuerst 1951)
Wald
(25) Der kleine Gotthelf
hatte schöne Kinderjahre. In der Hoffnungs-trunknen Jahrszeit, im Frühling,
nahm der alte Vogler stets ihn und einen Stechfinken mit in den helldunklen
Wald, um etwas zu fangen. Während der Alte zusah, wie sein mit Leimruten bestecktes
Finken-Er die eifersüchtigen Männchen auf sich lockte: so schauete der Kleine
auch mit hin und lief zuerst dazu, sobald sich einer an dem singenden
Häscher oder am lebendigen Schwanenhals gefangen
hatte; zuweilen ging er aber den hellen Waldstreifen nach und zog fußhohe Bäumchen
aus, um sie einige Schritte davon wieder elend einzupflanzen zu einem Gärtchen.
Bald schnitzte er dem Baum die Wurzel ab und steckte ihn als einen artigen Strauß
auf seinen Wachshut, um ihn nachher der Mutter anzustecken, in Ermanglung von
Blumen und Erdbeeren. Zuweilen wußt' er eine dicke Fichtenborke mit dem Einlegmesser
auszubrechen und sie phelloplastisch zu behandeln, indem er bald eine Kuh, bald
einen Vogel oder einen Menschen aus dem Blocke der Rinde bildete und erlösete.
Mit einer vom langen Morgenlichte ganz durchleuchteten Seele folgte er voll
hörbarer Selbstgespräche seinem stummen Vater nach, der unter allen Sprachen
die menschliche am wenigsten verbrauchte, dafür aber selber ein organisierter
Wild- und Vogelruf war; es gab wenige Vögel im Walde, mit denen er nicht in
ihrer Muttersprache hätte pfeifend reden können. Überhaupt gibts viele Staats-Bürger,
die lieber pfeifen als sprechen. -
(
fibel
)
Wald
(26) Und als er immer tiefer
in diesen finsteren wald lief kam er an zwei holzhackern vorbei aber die sprachen
kein wort und es mag sein daß sie ungutes mit sich hatten und sie trugen ihre
äxte nicht über der schulter. Als er noch eine weile gegangen
war auf diesem dunklen weg traf er mit einem alten zusammen und der hatte nur
ein äuge und um die leere höhle eine binde und er war ein wenig ausgefallen
gekleidet. Doch man hätte auch denken können: vielleicht ist er ein jäger oder
sonst jemand der sich wohl auf waffen versteht ohne dadurch unehrlich zu sein.
- H. C. ARTMANN: VON EINEM RIESENTÖTER, nach (
dru
)
Wald
(27)
In einem unwahrscheinlich stacheligen Verhau von Bäumen, Dickicht und Gehölz, das die Formen von Dämonen und Gespenstern angenommen hat und zwischen das sich Vogelphantome mit Rattenköpfen und pflanzlichen Schwänzen mischten, auf einem Boden, der mit Rippen, Wirbelknochen und Schädeln besät war, richten sich knorrige, gespaltene Weiden in die Höhe, von Skeletten überragt, die die Arme in die Luft bewegen; ein Strauch stimmt einen Siegesgesang an, - während Christus in den mit Wölkchen bedeckten Himmel flieht, ein Einsiedler im Hintergrund vor einer Grotte, den Kopf in den Händen vergraben, nachdenkend sitzt und ein Bettler, durch Entbehrungen und Hunger ausgezehrt, auf den Rücken zurücksinkt und, während die Füße in einen Pfuhl gleiten, der Entkräftung erliegt.
Rodolphe Bresdin: Die Komödie vom Tod (1854)
Das faulige Wasser, die Verwesung, zeugen geflügelte Seelen; zwischen dem Blick der Seelen und dem menschlichen Auge besteht eine entsetzliche Verwandtschaft. Die Wurzeln sind kriechende Monstren.
- Joris Karl Huysmans und Théodore de Banville über Rodolphe Bresdins
'Komödie', nach: Wieland Schmied, Zweihundert Jahre
phantastische Malerei. München 1980
Wald
(28) Vor dem Hintergrund
eines dunklen Waldes oder im Walde selbst auf einer Lichtung
kommt es zu seltsamen Verwandlungen, deren Ergebnis
schwer definierbare Figuren sind; aber die Verwandlung scheint oft noch im Gange
und noch nicht vollendet zu sein, Vögel entwachsen den Zweigen, Raubkatzen dem
Gebüsch, Hunde dem Erdboden, indes die Frauengestalt in Strauchwerk und Baum
übergeht. - Wieland Schmied, Zweihundert Jahre
phantastische Malerei. München 1980
Wald
(29)
- Fritz Lang, Die Nibelungen. Aus: F. L. - Leben und Werk. Bilder und Dokumente.
Hg. Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen und Cornelius Schnauber u. a. Berlin 2001
(Filmmuseum Berlin - Deutsche Kinemathek)
Wald
(30)
EINE NEUE BALLADE, GEDICHTET FÜR MIRA L'YDOLE Die Bäume standen alle grau und krank Die Bäume wuchsen in den Mai hinein Ich bin nach deinem Mutter-Mal so krank, |
- Die lasterhaften Balladen des François Villon. Nachdichtung
von Paul Zech. München 1962 (dtv 43, zuerst ca. 1460)
Wald
(31)
- Maurice Sendak, nach: Tintenfaß 15, Zürich 1986
Wald
(32) Wald ist überall.
Wald ist in den Einöden wie in den Städten, wo der Waldgänger verborgen oder
unter der Maske von Berufen lebt. Wald ist in der Wüste und im maquis. Wald
ist im Vaterlande wie auf jedem anderen Boden, auf dem der Widerstand sich führen
läßt. Wald ist vor allem im Hinterland des Feindes
selbst. Der Waldgänger steht nicht im Banne der optischen Täuschung, die den
Angreifer als Nationalfeind sieht. Er kennt seine Zwangslager, die Schlupfwinkel
der Unterdrückten, die Minderheiten, die ihrer Stunde entgegenharren. Er führt
den kleinen Krieg entlang der Schienenstränge und Nachschubstraßen, bedroht
die Brücken, Kabel und Depots. Seinetwegen muß man die Truppen zur Sicherung
verzetteln, die Posten vervielfachen. Der Waldgänger besorgt die Ausspähung,
die Sabotage, die Verbreitung von Nachrichten in der Bevölkerung. Er schlägt
sich ins Unwegsame, ins Anonyme, um wieder zu erscheinen, wenn der Feind Zeichen
von Schwäche zeigt. Er verbreitet eine ständige Unruhe, erregt nächtliche Paniken.
- Ernst Jünger, Der Waldgang. Stuttgart
1992 (zuerst 1951)
Wald
(33) Eines Tages
war Mallolwchs Schweinehirt an der Küste, und was er entdeckte, ließ ihn eilig
zum König laufen.
«Herr», sagte er, «Gott sei uns gnädig. Zuvor aber grüße ich Euch, wie es Sitte ist.»
«Was für Neuigkeiten bringst du?»
«Herr, große Wunder sind zu berichten. Wir haben einen Wald auf See gesehen, wo sich zuvor nie auch nur ein Baum gezeigt hat.»
«Das ist wirklich seltsam. Habt ihr sonst noch etwas beobachtet?»
«Ja, Herr. Wir sahen ein großes Gebirge nahe dem Wald, und es bewegte sich auch noch. Auf dem Gebirge war ein hoher Kamm und daneben ein Teich auf beiden Seiten, und Waldgebirge.»
«Nun», sagte Mallolwch, «mit so etwas kennt sich hier keiner aus. Vielleicht kann Branwen uns helfen. Geh und frage sie.»
Die Männer suchten Branwen in der Küche und befragten sie.
«Wenn ihr mich auch zu einer Dienstmagd gemacht habt, so weiß ich wohl, was das bedeutet», war ihre Antwort, «was ihr gesehen habt, sind die Männer von der Insel der Mächtigen, die von meinem traurigen Schicksal gehört haben und nun herbeikommen.»
«Aber was hat es nur mit diesem Wald auf sich, den man auf See sieht?»
« Das sind die Masten und das Tauwerk der Schiffe.»
«Tatsächlich. Aber was ist das dann für ein Gebirge?»
«Das ist mein Bruder Brân, der an Land watet. Es gibt nämlich kein Schiff, das fest und groß genug wäre, ihn zu tragen.»
« Und der hohe Kamm und die beiden Teiche rechts und links?»
«Das sind seine Augen, und was ihr für einen Gebirgskamm haltet, ist seine
Nase.» - (
wal
)
Wald
(34) Auch
an sonnigen Tagen schien die Atmosphäre über und rings um den Tagebau von einer
fiebrigen Unruhe erfaßt und ließ jedes Bild, auf das
der Blick fiel, verzerrt erscheinen. Die Luft über dem ganzen Gelände war bläulich
eingefärbt, und es war, als müsse jeder Blick auf die andere Seite hinüber eine
ungleichmäßige Glaswand durchdringen, hinter der alles verzogen, verdoppelt
und gebrochen wirkte. Der Wald, der auf den jenseitigen Hügeln begann, war verschleiert
und schien in andauernde Bewegung gebracht, ein Gespensterwald, der immerfort
zuckte und zaudernd hin und her lief, und vom Rand
des kleinen Sees, der den tiefsten Grund des Tagebaus bildete, schossen blaue
Wasserzungen über den schmalen Strand und hinauf bis in das Unterholz des Waldes,
das aussah wie eine Schicht von graublauem Moder, in dem jedes Leben erstickt
war. -
Wolfgang Hilbig, Ort der Gewitter. In: W.H., Der Schlaf der Gerechten.
Frankfurt am Main 2003
Wald
(35) Im Luftmeer
wachsen die Korallentiere unverändert weiter und sind die Blätter der Bäume,
Sträucher, Büsche und Gräser oder Krauter.
Von unten her haben sich diese Korallentiere in ihrem Grün entfaltend ausgebreitet.
Sie haben Fläche in alle Richtungen gestellt, sie haben Schicht um Schicht der
Fläche mit den Zweigen der Bäume ausgebreitet. Sie sind die grünen Korallentiere
des leichten Wassers, die immer weiterbauen, während unten im Grunde wiederum
die Gesteine weiterwachsen. Wenn man sieht, daß der Wald ein neues Meer ist,
das Meer des leichten Wassers, daß die Korallentiere mit ihren kleinen Armen
immer die gleichen blieben, rote Korallen, grüne Korallen, dann kann man beginnen,
den Wald zu sehen. Die zahllosen grünen Korallenkörper, im Herbst abfallend
und neuen Stein bauend - das ist Wald. Wenn aber die Luft schwer und feucht
wird, dann verwandelt sich der Wald wieder in das
Meer. -
Ernst Fuhrmann, Wald. Nach (
fuhr
)
Wald
(36, der Selbstmörder)
-
Gustave Doré (für Dantes Göttliche Komödie, Inferno)
Wald
(37) Auf der
Erde wird man Geschöpfe sich unaufhörlich bekämpfen sehen, mit sehr schweren
Verlusten und zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Ihre Arglist kennt keine
Grenzen. In den riesigen Wäldern auf der Welt fällen ihre grausamen Mitglieder
eine riesige Zahl an Bäumen. Sind sie erst mit Nahrung vollgestopft, wie
wollen sie ihr Bedürfnis befriedigen, jedem lebenden Wesen Tod, Trübsal,
Verzweiflung, Terror und Exil zuzufügen … O Erde! Worauf wartest du, um
dich zu öffnen und sie in die tiefen Spalten deiner großen Abgründe und
deiner Höhlen zu reißen und dem Angesicht des Himmels ein so grausames
und furchtbares Monster nicht mehr zu zeigen! - Leonardo da
Vinci
Wald
(38, deutscher)
- Arno Schmidt, in: Der Rabe Nr. 12. Zürich 1985
Wald
(39, mit Räubern)
Wald
(40) Am Morgen hatte
sich die Landschaft verändert: Es war nicht mehr eine grenzenlose, vor ihren
Augen wie das Meer sich kräuselnde Sandfläche, sie standen am Rande eines undurchdringlichen
Waldes, aus dem ein Todesröcheln drang.
„Da liegt jemand im Sterben!" rief die Bäckerin erwachend.
Und sie zog nun ihrerseits Pius VII. in den Wald
hinein. Doch es war nicht leicht, in diesen Wald einzudringen, wie die Bäckerin
und Pius VII. bald erfahren mußten. Die Bäume waren durch unüberwindbare Schlingpflanzen
miteinander verflochten. Sie wollten über einen morschen Baumstamm steigen;
doch der Baum war gar nicht morsch und schleuderte sie mehrere Kilometer hoch
in die Luft. Am Fuß eines schneebedeckten Gebirges fielen sie, ein wenig zerschlagen,
wieder zu Boden und liefen in völliger Verwirrung aufs Geratewohl weiter. - Benjamin
Péret, Die Schande der Dichter. Prosa,Lyrik, Briefe. Hamburg 1985 (edition nautilus)
Wald
(41) Es kam der
Wald, Dornen, Käfer, Würmer, Skorpione, Hitze, Nässe, Hunger, Durst, Erschöpfung.
Sie hatten Bluthunde zur Jagd auf die Wilden mitgebracht. Der Proviantmeister
umgab sie mit sicheren Leuten, damit man sie nicht schlachtete und aß. Wo man
etwas zu essen fand, es zusammentrug, gab man es zuerst den Reitern, damit sie
sich nicht an ihren Pferden vergriffen. Die Dunkelhäute, welche Pfade wußten
und den Wald kannten, wurden geehrte Leute. Man lernte wie sie auf hohen Bäumen
Früchte zu brechen und Wurzeln aus dem Boden zu kratzen. In den beiden ersten
Wochen entwichen noch Leute, die hofften zurückzufinden. Von da ab wußten alle,
daß sie sich durchkämpfen mußten oder verloren waren.
Aus dem Sumpf und dem schwankenden Boden gerieten sie in das Dickicht, die Dornenbüsche und das Lianengestrüpp.
Wer von ihnen noch nicht Soldat war, wurde es. Sie waren die Weißen, aus dem Kampf gegen den Tod entstanden, sie sahen nicht Wald noch Dornen, Würmer, Skorpione, sie fühlten nicht Hitze, Hunger, Kälte. Der Wald hielt still, das Messer und der Mord wüteten in ihm. Sie schlugen und stießen, mordeten und würgten, töteten und starben. Que-sada und sein Kapitän Barreda trieben das Heer aus den Tälern auf hohe Berge. Sie wählten den Höhenweg, um in die Täler zu blicken. Es ging auf und ab, aus heißem Dunst in Frost. Nachdem das Dickicht ihnen die Kleider zerrissen hatte, wurde das Leder überflüssig. Sie benützten die Riemen, Säbelscheiden, Brust- und Armschutz, um es zu zerschneiden, zu kochen und zu essen. Auf manchen Höhen mußte Quesada sie tagelang lagern lassen, die Blutfleckenkrankheit hatte sie befallen, sie kamen vor Schwäche nicht weiter. Wie lockende Schmetterlinge näherten sich ihnen schweifende Dunkelhäute, einige groß, stark, einige von den Coygabas, die Alcobazo getroffen hatten. Ihr Volk sei weit entfernt, sie hatten Gold und viel zu essen. Man band sie zusammen, sie mußten führen.
Die Geier folgten dem Zug. Durch die Wälder streiften Tiger, holten schwache Menschen aus den Hängematten. Viele taumelten und waren nicht bei Besinnung, aber sie marschierten und gehorchten. Man mußte die Soldaten behüten, Menschenfresser zu werden. An felsigen Abhängen wuchsen Kakteen mit gelben und weißen Blüten. Man rief die Jungfrau von Pilar an. Man sott Baumrinde und versuchte, Erde zu essen. Sie stiegen manchmal so rasch aus dem Tal in die eisige Kälte zu Pässen auf, daß sie Blut spuckten. Es gab wenige in dem Heer, die klagten. Quesada, nachdem er einmal für den Zug gewonnen war, und sein Kommandant gaben Beispiele. Das Heer hatte keins nötig. Sie arbeiteten sich mit Wut durch. Auf den steilsten Wegen schraubten sie sich hoch. Wie von einem Verwundeten das Blut abläuft und man weiß nicht, wieviel er noch abgeben kann, verlor das Heer Menschen und Menschen und ließ sie hinter sich liegen.
Als sie sich der Gebirgshöhe näherten, hatten sie noch dreihundert Mann. Und als sie durch die Pässe, die eisigen Para-mos, halbnackt wankten, erforen noch über hundert. Auf Pferde banden sie welche, die während des Zuges erblindeten.
Unermeßlich weinten und brüllten um sie die Wälder. Sie hörten nichts davon.
Die Bäume, die starben und versanken. Die Winde, hochgeschleudert, ihr schreiender
Schmerz, abschmelzend von Schnee und Eis die Bäche. Leidend alles. Und die Rehe
und die schweren Vögel. Es knarrten die Stämme, die Äste krachten, das zehrende
Wasser troff. Schreckliche, sprachlose Welt. Die Würger und Schänder schritten
hindurch. -
Alfred Döblin, Amazonas-Trilogie. Bd.1, Land ohne Tod. München 1991
Wald
(42)
Wald
(43)
- N.N.
Wald
(44) Die Bambuti-Pygmäen
wollen mit ihren Gesängen den Waldgott in keiner Weise ›magisch zwingen‹. Wenn
sie singend seinen Namen wiederholen, oder wenn es heißt: »Der Wald ist das
Gute«, und sie in das Molimo-Horn, »das Große Tier«, blasen, dann bitten sie
den Gott nicht einmal auf direkte Weise.
Als liebenswürdige und höfliche Menschen - die sie etwa nach der Zivilisationstheorie
von Norbert Ehas mitnichten sein dürften - wollen sie den Gott, der abgelenkt
ist oder schläft, lediglich wieder auf sich aufmerksam machen oder auf möglichst
unaufdringliche Weise wecken, denn dann wird er ohnehin wissen, was zu tun ist.
Wenn eine Jagd mißglückt oder sonst etwas schiefläuft, »dann hat«, wie es ein
Mbuti ausdrückt, »der Wald geschlafen und konnte nicht für seine Kinder sorgen.
Und dann wecken wir ihn, indem wir zu ihm singen; wir singen, damit er glücklich
erwachen soll. Dadurch wird alles wieder gut und richtig werden.« - Hans Peter Duerr, Sedna oder Die Liebe zum Leben. Frankfurt
am Main 1984
Wald
(45) »Ein hübsches
Plätzchen«, bemerkte ich. Eine Zeitlang gingen wir so weiter. Der Wald war dunkel
und feucht; die Sonne wollte bald untergehen, und ein leichter Nebel senkte
sich durch das Laub von oben auf uns herab.
»Hier kommt niemand her.« Dann blieb Doc plötzlich stehen und sah sich um. »Vielleicht sollten wir lieber mein
Gewehr holen. Ich möchte nicht, daß irgend etwas passiert.«
»Sie gehen also davon aus, daß die Situation außer Kontrolle geraten ist?« Ich holte ihn ein, und wir standen beieinander. »Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie Sie glauben.«
Labyrinth sah sich um. Mit dem Fuß schob er etwas Gestrüpp beiseite. »Sie sind überall um uns herum, überall, sie beobachten uns. Spüren Sie das nicht?«
Ich nickte geistesabwesend. »Was ist das?« Ich hob einen schweren, modrigen Ast auf, von dem Teile von Pilzen abbrachen. Ich stieß ihn beiseite. Irgend etwas lag ausgestreckt da, ein formloser, halb im weichen Boden begrabener Haufen.
»Was ist das?« fragte ich wieder. Labyrinth starrte verbittert auf den Boden. Sinnlos begann er mit dem Fuß gegen den Haufen zu treten. Mir war unbehaglich zumute. »Was, um Himmels willen, ist das?« fragte ich. »Wissen Sie es?«
Langsam hob Labyrinth den Kopf und sah mich an. »Das ist das Schuberttier«, murmelte er. »Oder war es einmal. Viel ist davon nicht mehr übrig.«
Das Schuberttier - das war dasjenige, das herumgesprungen war wie ein junger Hund und bloß spielen wollte. Ich beugte mich vor, schob ein paar Blätter und Zweige beiseite und betrachtete es. Es war tot, gar kein Zweifel. Sein Maul stand offen, und in seinem Körper klaffte eine breite Schnittwunde. Ameisen und Ungeziefer waren am Werk und rackerten sich ab. Es stank bereits.
»Was ist nur geschehen?« sagte Labyrinth. Er schüttelte den Kopf. »Wer könnte das getan haben?«
Wir hörten ein Geräusch. Rasch drehten wir uns um. Einen Augenblick lang sahen wir nichts. Dann bewegte sich ein Busch, und jetzt erst sahen wir, was es war. Es mußte schon die ganze Zeit dort gestanden und uns beobachtet haben. Es war riesig, dünn und lang, mit wütend blitzenden Augen. Es hatte irgendwie Ähnlichkeit mit einem Kojoten, schien allerdings viel schwerer zu sein. Sein Fell war verfilzt und dick, sein Maul hing teilweise offen, und nun musterte es uns stumm, als sei es verwundert, uns hier zu treffen.
»Das Wagnertier«, sagte Labyrinth mit belegter Stimme. »Aber es hat sich verändert. Es hat sich verändert. Ich erkenne es kaum wieder.«
Das Tier sog mit gesträubten Nackenhaaren die Luft ein. Plötzlich bewegte es sich rückwärts, ins Dunkel, und gleich darauf war es verschwunden.
Eine Weile standen wir schweigend da. Schließlich rührte sich Labyrinth. »Das war es also«, meinte er. »Ich kann es kaum glauben. Aber warum nur? Was -«
»Anpassung«, sagte ich. »Wenn Sie eine gewöhnliche Hauskatze aussetzen, wird sie wild. Genauso ein Hund.«
»Ja.« Er nickte. »Ein Hund wird wieder zum Wolf, um zu überleben. Das Gesetz des Waldes. Ich hätte es wissen sollen. So geht es mit allen.«
Ich blickte zu dem Kadaver auf dem Boden und in das Dickicht, das uns rundherum
umgab. Anpassung - oder etwas Schlimmeres. - Philip K. Dick, Die Bewahrungsmaschine.
In: Und jenseits - das Wobb. Sämtliche SF-Geschichten Bd. 1 Zürich 1998
Wald
(46) Ein wald hinter
einem wald, der vor einem wald liegt; wer geht in ihm herum, wer tritt in ihm
auf pilze, beeren?
Obgleich man viele dinge über diesen wald erzählt, man weiß von ihnen nie, ob sie stimmen, ob sie erfunden sind.
Wenn der wald hier schweigt, hört man die glocken, aber der wald liegt sehr einsam, keine dörfer, keine kirchspiele oder Städte weit und breit; nur ein teich darin, sehr dunkelhäutig, sehr unergründlich.
Du weißt nicht, wovon du redest, du bist allein, du ertappst dich unversehens beim sprechen: worte fern wie glocken, fern wie die tiefe des teiches, und ein eichhorn, das dir jeglichen vokal von den lippen stiehlt; was bleibt, ist ein dürres gerüst gleich der abgenadelten fichte.
Der jagdruf des zobels, der hier nicht haust, läßt nester erzittern: eine excellente mahlzeit wäre es, aus weißem zerbrechlichen porzellan zu speisen,
Man sagt, es sei ein wunderbares vergnügen, durch die länder zu reisen, die wiesen zu begehen, die wälder zu durchqueren; die wald-rose zählt zu den schönsten, ist die trösterin verliebter botaniker, ist eine windrose, die ihre zarten blättlein in alle richtungen verstreut.
Über dem wald ziehen verschiedene wölken in ständig sich ändernden büdern: der delfin, der jaguar, das geweih des hirsches, der zerfallende aschenkrug, die fast menschliche figur . . .
Der geschmack des waldes ist an gewissen stellen wie der geruch der besonnten himbeere, an anderen stellen wie der schatten beregneter pilze; du weißt nicht, wovon du redest, aber du erkennst den geruch, den geschmack und die schatten deiner worte.
Der mörderische strahl, der pfeil, im dichten wald geht er nur sieben bäume
tief, dann copuliert er mit der rinde des achten - ein paradiesisches irrsal
dem flüchtenden. - H.C.
Artmann, Den
Horizont überschreiten. In:
Unter der Bedeckung eines Hutes. Montagen und Sequenzen. Frankfurt am Main
1976 (st 337, zuerst 1974)
Wald
(47) Bananen und
Palmen, obschon sie am besten im Walde gedeihen, pflanzt man auch ums Dorf herum
an, Erdnüsse nur hier. Alle übrigen guten Dinge kommen aus dem Wald: Wasser,
Brennholz, Salz, Mais, Maniok, Öl, Fisch und Fleisch. Beide Geschlechter, Männer
wie Frauen, haben mancherlei Arbeit im Wald zu verrichten. Doch jeden dritten
Tag sind die Frauen vom Walde ausgeschlossen. Ihre Vorräte an Nahrungsmitteln,
Brennholz und Wasser müssen sie sich am Tag zuvor anlegen. Der Wald gilt bei
den Lele als eine Sphäre des Mannes.
>Unermeßlich ist das Prestige des Waldes. Die Lele sprechen von ihm mit beinahe dichterischer Begeisterung . . . Oft betonen sie den Gegensatz zwischen Wald und Dorf. In der Hitze des Tages, wenn es im staubigen Dorfe unangenehm heiß ist, retten sie sich gern in das kühle Dunkel des Waldes. Arbeit hier fesselt sie und macht ihnen Freude, Arbeit anderswo ist eine Plackerei. »Die Zeit«, so sagen sie, »vergeht langsam im Dorf, rasch im Wald.« Die Männer prahlen damit, daß sie den ganzen Tag im Wald arbeiten können, ohne Hunger zu verspüren, im Dorf müssen sie immer an Essen denken.<
Der Wald ist aber auch ein Ort der Gefahr. Wer in Trauer ist oder einen bösen
Traum gehabt hat, darf ihn nicht betreten. Ein solcher Traum wird als Warnung
gedeutet. Wer sich am nächsten Tag vor dem Wald nicht hütet, dem wird dort ein
Unglück geschehen. Ein Baum fällt ihm auf den Kopf, er schneidet sich mit einem
Messer, er stürzt von einer Palme ab. Einem Manne, der die Warnung mißachtet,
droht Gefahr nur für seine eigene Person. Eine Frau, die in den Wald zu verbotener
Zeit eindringt, gefährdet das ganze Dorf. - Mary Douglas, nach
(
cane
)
Wald
(48)
Der Wald der Welt Erblickt ihr hinter mir die Flüchtlingsspur, Er wächst in bittern Lüften der Gefahr. Und wer einmal in ihn gefunden hat, Auch Feinde nicht, wie sie der Gott bestellt, Ihm glimmt, damit die Nacht zu schwer nicht sei, Nur wer es nicht scheut, zäumt und sattelt schon - |
- Oskar Loerke, nach: Ernst Kreuder, Die Gesellschaft vom Dachboden.
Erzählungen, Essays, Selbstaussagen. Berlin 1990
Wald
(49) Ich
gehe durch den Wald; aber das ist ein anderer Wald als der Wald dieser
Gegend. Von einem Hügel aus gesehen wird der Wald spätestens nach 5
Kilometer Wasser; da die Neigung des Hangs nicht gleichmäßig ist,
ergeben sich dementsprechend auch verschieden tiefe Terrassen. Zwischen
dem oberen und dem unteren Baukörper ist eine Kommunikationsebene, von
der ein Hallenbad mit Sauna und sichtgeschützter Sonnenterrasse, ein
Selbstbedienungsladen und ein Kafe sowie Kindergarten zugänglich sind.
Insgesamt sind hier an der Rückseite der Kanzel no Wohneinheiten
errichtet worden. Die beiden Terrassenbauten bilden zwei etwa 20 Meter
hohe rechtwinklige Pyramiden von sieben zurücktretenden Stockwerken, die
auf Leitern erreicht werden. Ein jedes dieser Gebäude ist 100 Meter
lang und 30 Meter breit. Die Außenseite ist fensterlos. Jedes der
Stockwerke enthält eine große Zahl von kleinen Räumen, die teils als
Wohnzimmer, teils als Vorratskammern benutzt werden können. Die
Wohnungsgrößen sind variabel. Eine Drei-Zimmer-Wohnung kann durch
Hinzuschalten von einzelnen Räumen bis zu einer Sieben-Zimmer-Wohnung
erweitert werden. Alle "Wohnungen haben Terrassen, die je nach Hanglage
27 bis 288 Quadratmeter groß sind. Die Böden bestehen aus
festgestampftem Lehm, können auch mit Linoleum belegt werden oder mit
einem Textilbelag, der einen unvergleichlichen Siegeszug angetreten hat.
Die einzelnen Zimmer sind um Innenhöfe gruppiert, in denen sich das
Gemeinschaftsleben abspielen sollte. Den Mittelpunkt eines jeden
Wohnraumes bildet die Feuerstelle, die aus einer Steinplatte oder aus
einer flachen Mulde besteht. Vom Erdgeschoß führt ein gekerbter Stamm in
ein unterirdisches rundes Zimmer, wo die alten Männer den Jungen das
Tanzen beibringen sollten. Dieser Raum hat einen Durchmesser von etwa 10
m und eine Höhe von 3,20 m. Die Decke ist gewölbt. Der Wand entlang
läuft eine niedrige Lehmbank, und in der Mitte des Raumes befindet sich
eine tiefe muldenförmige Grube, in der stets Feuer brennen sollte. Der
Eingang von oben her geschieht durch eine Falltüre, die von einem aus
Hirschgeweihen gebildeten Geländer umgeben ist. Diese Mulde habe ich
eigenhändig ausgegraben. Und oft, wenn ich im Wald nur noch in Birgis
Schoß wühle, denke ich an die Zeit, da ich hier tiefer im Wald, höher im
Wald, hinterm Rücken der Kanzel gearbeitet habe; Susn und ich reden nur
noch höchst selten von unserer Stadt: es sind die Bewohner
ausgeblieben. Ich bin sehr bedacht mit Birgi keinen Nachkommen zu zeugen
und ziehe mich für alle Fälle immer rechtzeitig zurück und ejakuliere
in die Hand. - (acht)
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