Gemein bedeutet ursprünglich was Allen, d. h. der ganzen Species, eigen und gemeinsam, also mit der Species schon gesetzt ist. Demnach ist wer weiter keine Eigenschaften, als die der Menschenspecies überhaupt hat, ein gemeiner Mensch.
»Gewöhnlicher Mensch« ist ein viel gelinderer und mehr auf das Intellektuelle gerichteter Ausdruck, während jener erstere mehr auf das Moralische geht.
Welchen Werth kann denn auch wohl ein Wesen haben, welches weiter nichts ist, als eben Millionen seines Gleichen? Millionen? vielmehr eine Unendlichkeit, eine endlose Zahl von Wesen, welche die Natur, aus unerschöpflicher Quelle, unaufhörlich hervorsprudelt, in secula seculorum [bis in alle Ewigkeit], so freigebig damit, wie der Schmidt mit den umhersprühenden Eisenschlacken.
Sogar wird es fühlbar, daß, gerechterweise, ein Wesen, welches keine andern Eigenschaften, als eben nur die der Species hat, auch auf kein anderes Daseyn Anspruch machen darf, als auf das in der Species und durch dieselbe.
Ich habe mehrmals erörtert, daß, während die Thiere nur Gattungscharakter haben, dem Menschen allein der eigentliche Individualcharakter zukommt. Jedoch ist in den Meisten nur wenig wirklich Individuelles: sie lassen sich fast gänzlich nach Klassen sortiren. Ce sont des espèces. [Es sind Stückproben.] Ihr Wollen und Denken, wie ihre Physiognomien, ist das der ganzen Species, allenfalls der Klasse von Menschen, der sie angehören, und ist eben darum trivial, alltäglich, gemein, tausend Mal vorhanden. Auch läßt meistens ihr Reden und Thun sich ziemlich genau vorhersagen. Sie haben kein eigenthümliches Gepräge: sie sind Fabrikwaare.
Sollte denn nicht, wie ihr Wesen, so auch ihr Daseyn in dem der Species aufgehn? Der Fluch der Gemeinheit stellt den Menschen dem Thiere darin nahe, daß er ihm Wesen und Daseyn nur in der Species zugesteht.
Von selbst aber versteht sich, daß jedes Hohe, Große,
Edele, seiner Natur zufolge, isolirt dastehn wird in
einer Welt, wo man, das Niedrige und Verwerfliche zu
bezeichnen, keinen bessern Ausdruck finden konnte,
als den, der das in der Regel Vorhandene besagt: »gemein«.
- (
schop
)
- (
frw
)
Gemeinheit (3) Als ich lebte, habe ich dich beneidet, Lespere; an jedem neuen Tag habe ich dich um deine Frauen und um dein gutes Leben beneidet. Ich hatte Angst vor Frauen, und gleichzeitig sehnte ich mich nach ihnen, und wenn ich in den Weltraum vorstieß, beneidete ich dich um ihren Besitz, um dein Geld und um das wenige Glück, das du dir auf deine wilde Art verschafftest. Doch jetzt, da alles vorbei ist und wir ins Nichts stürzen, beneide ich dich nicht mehr, denn du bist genauso am Ende wie ich, und jetzt ist es grad so, als war' es nie gewesen.
Hollis streckte den Kopf vor und schrie in das Mikrophon: »Es ist alles vorbei, Lespere!«
Stille.
»Es ist grad so, als ob es nie gewesen ist, Lespere!«
»Wer ist das?« Lesperes unsichere Stimme.
»Ich bin's, Hollis.«
Er benahm sich gemein. Er spürte die Gemeinheit, die gefühllose Gemeinheit des Sterbens. Applegate hatte ihn verletzt; jetzt brannte er danach, jemand anderen zu verletzen. Applegate und der Weltraum, beide hatten ihn verletzt.
»Sie sind jetzt hier draußen, Lespere. Es ist alles vorbei. Genauso, als wäre es nie geschehen, nicht wahr?«
»Nein.« '
»Wenn etwas vorbei ist, ist es immer so, als sei es nie geschehen. Ist Ihr Leben auch nur einen Deut besser als meins, jetzt? Nur das Jetzt zählt. Ist es auch nur eine Spur besser? Ist es?«
»Ja, es ist besser!«
»Wie denn!«»
»Weil ich meine Erinnerungen besitze, die niemand mir nehmen kann!« schrie Lespere empört.
Und er hatte recht. Mit einem Gefühl, als ströme ihm kaltes Wasser durch Kopf und Glieder, wußte Hollis, daß er recht hatte. Zwischen Erinnerungen und Träumen bestand ein Unterschied. Er besaß nur Träume von Dingen, die er hatte tun wollen, während Lespere sich an Taten und wirkliche Geschehnisse erinnerte. Und dieses Wissen begann Hollis mit langsamer, aber unheimlich zäher Beständigkeit jegliche Selbstbeherrschung zu rauben.
»Was nützt es Ihnen denn?« schrie er zu Lespere hinüber. »Jetzt? Wenn etwas verloren ist, hat es überhaupt keinen Nutzen mehr. Sie sind nicht besser dran als ich!«
»Ich trage es mit Fassung«, antwortete Lespere. »Ich habe mein Leben gelebt.
Ich werde am Ende nicht noch gemein wie Sie.« - Ray Bradbury, Der illustrierte
Mann. München 1972 (Heyne 3057)
Gemeinheit (4) Es ist eine gewöhnliche
Narrheit der sogenannten bessern Gesellschaft,
das Gemeine für schlecht zu halten. Wo das Gemeine
verachtet wird, wird das Gute nie gemein werden, welches
doch der Endzweck jeder bessern Cultur ist. Bei dieser Gesinnung findet kein
Gemeingeist statt; die Folge davon fühlen wir bis zur gemeinen Schändlichkeit
der Nation. Blos der gemeine Mann hat noch etwas richtigen Tact der Sache. Wenn
er einen wackern Patrioten bezeichnen will, sagt er wol: »Der Herr
ist sehr gemein.« -
(seume)
Gemeinheit (5) Der Vorteil
der Dichtung: Es ist ihr egal, ob etwas wahr ist
o3er nicht. Aber, die Kunst ist hesonders gemein
zu denen, die arn leidenschaftlichsten an sie glauben1 Am ekelhaftesten ist
sie zu denen, die von ihr leben wollen. Ausnützen läßt sie sich nicht. Soviel
steht fest. Und das Wetter soll auch jeden Tag schön sein, wünschen sich die
meisten von uns. Und immer ist die Kunsttube leer, wenn die Frau Aichholzer
besonders heftig drauf gedrückt hat. Dann ist nachher nichts mehr drinnen. Der
Verlauf ihres langsam absterbenden Körpers führt strengstens nach unten. Sie
ist entsetzt. Bald wird sie nicht mehr von Gedanklichem überflutet sein, sondern
von Madenhäufchen. - Elfriede Jelinek, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr.
Reinbek bei Hamburg 1998
|
|