eidenschaft  Wie jede große Leidenschaft, welche die unerforschlichen Götter den Sterblichen bescheren, begann auch diese geheimnisvoll und blieb, gefeit gegen alle Anfechtungen der Vernunft, ohne Bitterkeit und ohne Klage. Sie überlebte jede Art von Enttäuschung und bot der Ernüchterung Trotz, die an jedem Tage eines arbeitsreichen Lebens auf uns lauert. Wachsam und frohlockend hielt sie allen Freuden, allen Leiden dieser Liebe stand - von der ersten bis zur letzten Stunde.

Bezwungen, doch niemals entmutigt, gab ich mein Dasein dieser Leidenschaft hin, die wie das Leben selbst vielfältig und gewaltig war, aber auch Zeiten wundersamer Heiterkeit hatte. Zeiten, wie sie sogar eine launische Geliebte zuweilen an ihrer sanften Brust bieten kann, eine Geliebte, die voller Tücke und Raserei, dennoch bezaubernder Süße fähig ist. Und wenn jemand meint, dies sei die gefühlvolle Illusion eines alten romantischen Herzens, so kann ich nur erwidern, daß ich zwanzig Jahre lang wie ein Einsiedler mit meiner Leidenschaft gelebt habe. Die Welt jenseits der Linie des Horizonts existierte für mich ebensowenig wie für die Mystiker, die auf den Gipfeln hoher Berge Zuflucht suchten. Ich spreche jetzt von jenem innersten Erleben, das sowohl das Beste als auch das Schlimmste enthält, was uns in den Tiefen unseres Seins zustoßen kann, wo der Mensch allein auf sich angewiesen ist und doch nicht die Hoffnung aufzugeben braucht, mit seinesgleichen Zwiesprache zu halten. - (con)

Leidenschaft (2) Bouvard et Pécuchet, ouvre posthume, Paris 1881. Beginn der Niederschrift am 1. August 1874, unterbrochen von der Arbeit an den Trois Contes, La Légende de Saint Julien l'Hospitalier, September 1875 bis März 1876, Un cour simple und Hérodias, April 1976 bis Februar 1877, die am 24. April 1877 erscheinen. Im Mai 1877 beendet er, endlich, schreibt er, Lettre à Mme Roger des Genettes, das erste Kapitel, I & II, und fängt an, das zweite auszuführen, III, Chemie, Medizin, Geologie. Reisen an die Schauplätze der Handlung, September 1877, Archäologie, Geschichte. Im Juli 1878, Lettre à Mme Roger des Genettes, eine Phase der Erschöpfung. C'est de la conception même de livre que je doute. Il n'est plus temps d'y réfléchir, tant pis! N'importe!
Metaphysik, Religion, Spiritismus. Januar 1879. Ein harter Winter, Glatteis. Am 27. Januar rutscht er aus und bricht sich ein Bein, sechs Wochen Bettruhe. Bis September, Lettre à Mme Roger des Genettes, wird er, hofft er, endlich mehr davon fertig haben als zwei Kapitel. Im Oktober fürchtet er, daß es mit ihm aus sein wird, ehe der Roman am Ende ist. Im Februar 1880 drängt er seinen Verleger Charpentier, egal wie teuer, ihm das Buch De l'Education par Spurzheim zu verschaffen, von dem er in einer Anatomie des Gehirns par Gall / Spurzheim, un grand ouvrage, etwas gelesen hat. Ab Anfang März sitzt er die vierzehn bis sechzehn Stunden vom Nachmittag bis zum Morgen, in denen er arbeitet, am zehnten, dem letzten Kapitel des ersten Bandes. Am 8. Mai 1880, im Begriff, nacli Paris zu reisen, fiel Flaubert, in Croisset, vom Schlag getroffen, gegen das Bein seines Schreibtischs. Maupassant, der sehr zärtlich von ihm geschrieben hat, Étude sur Gustave Flaubert, 1882, sagt, von ihr, der Literatur, getötet, getötet wie alle großen Leidenschaftlichen, die immer das Opfer ihrer Leidenschaft werden. - Nach (net)

Leidenschaft (3) Die Leidenschaften, die die Phantasie verwirren, sind im Grenzgebiet zwischen Vernunft und Sinnlichkeit angesiedelt, folgen allerdings den Sinnen eher als dem Verstand, weil sie in den körperlichen Sinnesorganen gleichsam von Eindrücken überflutet werden. Normalerweise werden sie auf zwei Vermögen zurückgeführt, die potentia concupiscibilis und die potentia irascibilis. Aristoteles leitet alles aus Lust und Schmerz ab, Platon aus Liebe und Haß, Vives aus Gut und Böse. Auf die Gegenwart des Guten reagieren wir mit höchster Freude und Liebe, liegt es in der Zukunft, begehren und erhoffen wir es; das Böse hassen wir aus tiefster Seele, ist es gegenwärtig, verursacht es Kummer, ist es zukünftig, Furcht. Diese vier Leidenschaften vergleicht Bernhard mit den Rädern einer Kutsche, auf denen wir durch die Welt fahren. Alle anderen Affekte sind diesen vier oder, wie manche meinen, sechs Leidenschaften Untertan, nämlich der Liebe und Freude, dem Begehren und dem Haß, dem Kummer sowie der Furcht. Die übrigen wie Ärger, Neid, Stolz, Eifersucht, Angst, Mitleid, Scham, Mißmut, Verzweiflung, Habsucht lassen sich auf die Uraffekte zurückführen. Sind sie schrankenlos, verzehren sie die Lebensgeister und verursachen insbesondere Melancholie. Es gibt einige wenige Besonnene, die sich zu beherrschen wissen und die unmäßigen Leidenschaften durch Religion, Philosophie und die göttlichen Gebote der Demut und Geduld im Zaum zu halten vermögen, aber der Mehrheit mangelt es an Selbstbeherrschung, und sie überlassen sich aus Unvernunft und Unwissen ganz den Verlockungen der Sinne. Weit davon entfernt, ihre aufrührerischen Neigungen zu unterdrücken, fördern sie sie nach Kräften, lassen ihnen die Zügel schießen und stacheln sie an, wo immer es geht. Von Natur aus schlecht, machen sie die menschliche Kunst, die Sitten und Gebräuche, die Erziehung sowie ihre eigene perverse Halsstarrigkeit nur noch schlimmer; sie lassen sich von ihren durchgehenden Affekten hinreißen und handeln eher aus Gewohnheit und Eigensinn denn aus Überlegung. Diese Trotzköpfigkeit vergiftet unser Urteilsvermögen, das genau weiß, was zu tun wäre, und doch nicht entsprechend handelt. Als Sklaven ihrer Begierden und Triebe stürzen sie sich, geblendet von Wollust und Ehrgeiz, in ein Labyrinth der Sorgen. Aus Gottes Hand wollen sie das erhalten, was sie sich selbst verdanken könnten, ließen sie nur von den Leidenschaften ab, mit denen sie ihren Geist zerrütten. Indem sie den heftigen Affekten der Furcht, des Grams, der Scham, Rache, des Hasses und der Bosheit nachgeben, werden sie von ihnen in Stücke gerissen wie Aktaion von seinen Hunden und martern ihre Seele. - (bur)

Leidenschaft (4)  Octave Mauvoisin, früher Fahrer des Comte de Vièvre, ist gewissermaßen der Chef des Syndikats geworden.

Er hatte keine Bedürfnisse. Er lebte wie ein Kleinbürger im zweiten Stock dieses Hauses, in dem er nicht einmal ein Badezimmer einrichten lassen wollte. Er ging nicht aus. Er machte keine Reisen.

Was ihn interessierte, seine einzige Leidenschaft, er wollte immer mächtiger und gefürchteter werden.

Denn es machte ihm Spaß, gefürchtet zu werden. Weit davon entfernt, sich liebenswürdig zu zeigen, war er so unangenehm wie möglich, und er sagte gern:  >Ich bin nicht dumm genug, um gut zu sein. Ich bin böse!< - Georges Simenon, Ankunft Allerheiligen. Zürich 1979 (detebe 135/14, zuerst 1941)

Leidenschaft (5)

Alla Nazimova und Rodolfo Valentino

 -  Nach (barn)

Leidenschaft (6)   Charlus wird durch seine leidenschaftliche Liebe zu dem jungen Geiger Morel in den seelischen, materiellen und körperlichen Bankrott getrieben. Auch seine Herkunft als Guermantes kann ihn nicht mehr retten: Da er sich einerseits durch seine Intrigen und Unverschämtheiten bei einer immer größeren Zahl von Leuten unbeliebt gemacht hat, und andererseits Mme Verdurin der Unterstützung des Barons nicht mehr bedarf, weil sie mit ihrem Salon bereits eine stabile Position in der Pariser Gesellschaft errungen hat, nimmt sie die Gelegenheit wahr, ihn auf einer ihrer »soirées« regelrecht »hinzurichten«, indem sie seine Homosexualität öffentlich macht und Morel angebliche Affären des Barons offenbart. Charlus verkommt in der Folge moralisch und körperlich; bei einem seiner letzten Auftritte sehen wir ihn, wie er sich in  Jupiens Bordell in Ketten gelegt auspeitschen läßt.  - Ulrike Sprenger, Proust-ABC. Leipzig 1997

Leidenschaft (7)  NATÜRLICHES LICHT  Im Lichte des Neides, im Lichte des Abscheus, im Lichte des Hochmuts: welche Klarheit! Aber jede starke Leidenschaft hat ihr eigenes Licht, mit dem sie erhellt und hervortreten läßt, was aus der Gesamtheit der gegenwärtigen Dinge sie beun­ruhigen oder steigern kann.

Die Leidenschaft ist ein Wesen, das von seinen Bedürfnissen lebt. Sie läßt in höchstem Glanz erstrahlen, was in den gewöhnlichsten Handlungen der anderen ihre Beute ist. Fehler, Beleidigungen, Unaufmerksamkeiten funkeln. Rücksicht aus Konvention wird zu hohem Lob. Die Begierde erhellt seltsam verborgene Wege. Der Haß bewohnt den Gegner, erforscht seine Tiefen und zergliedert die feinsten Wurzeln der Absichten, die er in seinem Herzen hegt. Wir erkennen ihn besser als uns selbst und besser, als er sich selber erkennt. Er vergißt sich, wir vergessen ihn nicht. Denn wir nehmen ihn durch eine Wunde wahr, und keiner unserer Sinne ist so stark, keiner vergrößert so sehr und bestimmt so genau, wovon er getroffen wird, wie ein verletzter Teil unseres Wesens. Eine solche Wunde kann nie lange schlummern. Sie weckt uns am Morgen durch eine erste, noch unbestimmte Qual, durch ein Leiden, das noch kein Gesicht hat, aber sogleich ein allzu vertrautes annehmen muß, dessen Gegenwart blendet...

Grell deutliches, graues Licht des Absehens, metallisches Licht des Neides, rotes Licht des Hochmuts. Und alle die Schatten, die sie werfen . . .

Manchmal ist der Hochmut gezwungen, nachzugeben und sich zusammenzuziehen — doch nur wie es eine Feder tut. Von seiner Kraft kann er nicht verlieren. Und schon bald wird er seine alte Form wiedergewinnen, im Treppenhaus oder unten auf der Straße.  - (pval)

Leidenschaft (87)  

Leidenschaft (88)  Die Leidenschaften bilden ein Orchester von 1620 Instrumenten; unsere Philosophen, die es dirigieren wollen, gleichen einer Legion von Kindern, die in die Oper einbrechen, sich der Instrumente bemächtigen und eine fürchterliche Katzenmusik veranstalten; soll man daraus schließen, daß die Musik den Menschen feind sei und daß man die Geigen unterdrücken, die Bässe zum Schweigen bringen und die Flöten ersticken müsse? Nein; man sollte diese kleinen Tölpel verjagen und die Instrumente wieder Experten übergeben. - Charles Fourier,  Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, Hg. Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. / Wien 1966 (zuerst 1808)

Lust
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Verwandte Begriffe
Leid
Synonyme