urcht  Ich bin (wie sie sagen) kein sonderlicher Naturgelehrter und weiß wenig davon, durch welche Triebkräfte die Furcht in uns wirkt; aber so viel steht fest, daß es eine seltsame Leidenschaft ist: und die Ärzte sagen, daß es keine andere gibt, die unsere Vernunft heftiger aus ihrer geziemenden Fassung wirft. Wirklich habe ich viele Leute aus Furcht toll werden sehen; und es ist gewiß, daß sie bei den Besonnensten, solange ihre Anwandlung währt, fürchterliche Verblendungen hervorbringt. Ich lasse das gemeine Volk beiseite, dem sie bald die Urahnen aus den Gräbern erstanden vorstellt, in ihre Leichentücher gehüllt, bald Werwölfe, Kobolde und Fabeltiere. Doch selbst bei Kriegsleuten, unter denen sie weniger hausen sollte, wie oft hat sie da eine Herde Schafe in eine Schwadron Gewaffneter verwandelt? Schilf und Röhricht in Spieß — und Lanzenträger? unsere Freunde in unsere Feinde? und das weiße Kreuz in das rote?

Eine ähnliche Furcht packt zuweilen eine ganze Menge. Bei einem der Gefechte des Germanicus gegen die Alemannier ergriffen zwei große Haufen vor Schrecken zwei entgegengesetzte Wege, und der eine floh dahin, wo der andere herkam.

Zuweilen beflügelt sie unsre Fersen; zuweilen lähmt sie unsere Füße und nagelt uns fest, wie man von Kaiser Theophil liest, der in einer Schlacht, die er gegen die Agarener verlor, so bestürzt und betäubt war, daß er nicht einmal den Entschluß zur Flucht zu fassen vermochte: adeo pavor etiam auxilia formidat, bis Manuel, einer der ersten Hauptleute seines Heeres, ihn zerrte und schüttelte, wie um ihn aus einem tiefen Schlaf aufzuwecken, und ihm sagte: Wenn Ihr mir nicht folgt, so werde ich Euch töten, denn es ist besser, Ihr verliert das Leben, als daß durch Eure Gefangennahme das Reich verlorengehe.

Dann erweist sie ihre äußerste Kraft, wenn sie in ihrer Botmäßigkeit wieder zu jener Tapferkeit antreibt, deren sie unser Pflichtbewußtsein und unser Ehrgefühl beraubt hat. In der ersten genauen Schlacht, welche die Römer unter dem Konsul Sempronius gegen Hannibal verloren, wurde ein Trupp von wohl zehntausend Fußsoldaten vom Entsetzen ergriffen, und da er nirgends sonst einen Ausweg für seine Verzagtheit fand, warf er sich mitten in den Gewalthaufen des Feindes, durch den er sich mit bewundernswertem Ungestüm Bahn brach und ein großes Blutbad unter den Karthagern anrichtete, und erkaufte sich so eine schimpfliche Flucht um denselben Preis, um den er einen ruhmvollen Sieg errungen hätte.

Wovor ich mich am meisten fürchte, ist die Furcht.  - (mon)

Furcht (2) ist Erwartung eines Übels. Es sind der Furcht folgende Arten untergeordnet: Schrecken, Bedenklichkeit, Scham, Betäubung, Verwirrung, Beängstigung. Schrecken ist Furcht, die Angst erweckt, Scham ist Furcht vor Verachtung, Bedenklichkeit Furcht vor kommender Tätigkeit, Betäubung Furcht infolge des Eindrucks eines ungewohnten Ereignisses, Verwirrung Furcht mit Beschleunigung der Stimme, Beängstigung Furcht vor einem ungewissen Ereignis.   - Stoiker, nach (diol)

Furcht (3) Die Furcht löst im Menschen viele beklagenswerte Reaktionen aus, wie Erröten und Erblassen, Zittern und Schweißausbrüche. Ihren Opfern wird abwechselnd heiß und kalt, ihr Herz klopft im Halse, oder sie werden ohnmächtig. Oft überfällt sie Menschen, die etwa bei einer Volksversammlung auftreten und eine Rede halten sollen oder die vor bedeutende Persönlichkeiten zitiert worden sind, und selbst Cicero gestand ein, daß er vor Redebeginn immer noch ins Zittern gerate, was übrigens auch für den großen griechischen Redner Demosthenes galt. Die Furcht verschlägt die Stimme und raubt das Gedächtnis. Also läßt Lukian seinen Jupiter Tragoedus bei einer Ansprache sinnigerweise so viel Angst vor seiner göttlichen Zuhörerschaft haben, daß er kein vernünftiges Wort mehr hervorbringt, sondern sich notgedrungen von Merkur soufflieren lassen muß. Vielen Menschen setzt die Furcht dermaßen zu, daß sie nicht mehr wissen, wo sie sich befinden, was sie sagen und was sie tun. Noch schlimmer aber ist die Tatsache, daß sie sie schon viele Tage vor dem Ereignis auf die Folter ihrer Ängste und bösen Vorahnungen spannt. Furcht verhindert die ehrenwertesten Unternehmungen, läßt das Herz schwer werden und macht traurig und niedergeschlagen. Die Furchtsamen sind nicht frei, entschlossen, sicher, nie fröhlich, nie ohne Schmerz; deshalb trifft Vives' Bemerkung zu, es gebe kein größeres Elend, keine schlimmere Marter. Ewig argwöhnisch, ängstlich, besorgt neigen die Betroffenen zu grundloser und kindischer Kopfhängerei und büßen nach Plutarch angesichts des Schrecklichen ihr Urteilsvermögen ein. Oft ist plötzlicher Irrsinn die Folge. - (bur)

Furcht (4)  Die Liebe vertreibt die Furcht, aber umgekehrt vertreibt auch die Furcht die Liebe. Und nicht nur die Liebe. Die Furcht vertreibt auch den Verstand, die Güte und jeden Gedanken an Schönheit und Wahrheit. Was bleibt, ist eine dumpfe oder auch angestrengt witzige Verzweiflung. Die Verzweiflung eines Menschen, der in einer Ecke seines Zimmers etwas Unheimliches bemerkt und der weiß, daß die Tür verschlossen ist und der Raum keine Fenster hat. Und jetzt dringt es auf ihn ein. Er fühlt eine Hand auf seinem Arm, er riecht einen stinkenden Atem, als der Gehilfe des Henkers sich fast verliebt über ihn neigt. »Du bist dran, Bruder. Sei so gut und komm hier entlang!« In diesem Augenblick wird aus seinem stillen Grauen eine ebenso wilde wie vergebliche Raserei. Hier ist nicht mehr ein Mensch unter Mitmenschen, kein rationales Wesen mehr, das sich auf artikulierte Weise mit anderen rationalen Wesen unterhält, sondern nur ein gequältes Tier in der Falle, in der es schreit und zappelt. Denn zuletzt vertreibt die Furcht auch das Menschsein des Menschen.

Aber die Furcht, meine Freunde, ist der Ursprung und die Basis des modernen Lebens überhaupt. Furcht vor der vielgepriesenen Technik, die zwar unseren Lebensstandard hebt, aber auch unseren gewaltsamen Tod sehr viel wahrscheinlicher macht. Furcht vor der Wissenschaft, die mit der einen Hand uns mehr nimmt, als sie mit der anderen verschwenderisch schenkt. Furcht vor den nachweislich verhängnisvollen Institutionen, für die wir in selbstmörderischer Treue bereit sind zu töten und zu sterben. Furcht vor den großen Männern, denen wir durch allgemeine Zustimmung eine Macht verliehen haben, die sie zwangsläufig dazu ausnutzen, uns zu versklaven und zu morden. Die Furcht schließlich vor dem Krieg, den wir nicht wollen und den herbeizuführen wir doch alles tun, was in unseren Kräften steht.
 - Aldous Huxley, Affe und Wesen. München 1988 (zuerst 1949)


Gemüt

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