elbstbegegnung   Die sonderbare Erscheinung, wenn Menschen sich selbst sehen, sich selbst erscheinen, ist nicht selten, und kann auf zweyerley Weise geschehen, erstlich, wenn nur die Person, die sich selbst sieht, die Erscheinung hat,  Andere aber die gegenwärtig sind, nichts sehen. In diesem Fall kann die Erscheinung blos natürlich, in der menschlichen Natur gegründet sejn; aber wenn sie mehrere Menschen sehen, dann gehört sie ins Geisterreich, und in das Kapitel von den Ahnungen.

Wenn mich jemand fragt, wie es möglich sey, daß sich ein Mensch selbst erscheinen könne, oder wie dies sich selbst sehen in der menschlichen Natur gegründet sey? — So antworte ich: daß nicht mehr dazu erfordert werde, als Engel und Geister zu sehen, wo keine sind oder doch wenigstens nicht in die Sinne fallen. Der berühmte Friedrich Nikolai in Berlin gerieth einsmahls in einen Zustand, daß er viele geistige Wesen um sich her sähe, die aber alle nach und nach verschwanden, so wie er auflösende und abführende Mittel gebrauchte.  - (still)

Selbstbegegnung  (2)  Die alte Frau von M. ... saß unten in ihrem Wohnzimmer, und schickte ihre Magd hinauf, in ihr Schlafgemach um etwas zu holen. So wie sie die Thür aufmacht, sieht sie ihre gnädige Frau dort in ihrem Armsessel sitzen, ganz natürlich so, wie sie sie drunten verlassen hatte. Die Magd erschrickt, läuft hinunter, und erzählt der Dame was sie gesehen habe. Diese will sich von der Wahrheit überzeugen, geht also selbst hinauf, und sieht sich selbst eben so wie sie die Magd gesehen hatte. Bald nachher starb diese Dame. - (still)

Selbstbegegnung  (3)

"Der Philosoph"

- Max Klinger

Selbstbegegnung  (4)

Selbstbegegnung  (5)  Ich ging  durch die Glastür in den prächtig erleuchteten Raum, doch damit ging ich auch aus meinem einzigen hoffnungsfrohen Moment in den schwärzesten Abgrund der Verzweiflung und der Erkenntnis. Das entsetzliche Ereignis ließ nicht lange auf sich warten, denn als ich eintrat, bot sich mir unvermittelt das schrecklichste Schauspiel, das ich je gesehen habe. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, da ergriff die ganze Gesellschaft ein jähes Entsetzen von unglaublicher Intensität; jedes Gesicht verzerrte sich und gräßliche Schreie drangen aus jeder Kehle. Auf der Stelle wandten sich alle kopflos zur Flucht, und inmitten des Lärms und der allgemeinen Panik fielen mehrere in Ohnmacht und wurden von ihren in wilder Hast fliehenden Begleitern mitgeschleift. Viele bedeckten mit den Händen ihre Augen und rannten blind und tölpelhaft dem rettenden Ausgang entgegen, warfen Möbel um und stießen gegen Wände, bevor es ihnen gelang, eine der vielen Türen zu erreichen.

Ihre Schreie waren grauenhaft; und als ich allein und benommen in dem glänzenden Saal stand und ihren verhallenden Echos nachhorchte, zitterte ich bei dem Gedanken, was sich unsichtbar in meiner Nähe verbergen mochte. Auf den ersten Blick schien der Raum verlassen, aber als ich auf eine der Nischen zutrat, glaubte ich dort eine Gestalt zu erkennen - einen beweglichen Schatten hinter einer mit einem goldenen Bogen überwölbten Türöffnung, die in einen weiteren, ähnlichen Raum zu führen schien. Als ich auf diesen Bogen zuging, begann ich die Erscheinung deutlicher zu sehen; und dann, mit dem ersten und letzten Ton, den ich je hervorgebracht habe - einem schaurigen Geheul, das mich mit fast ebenso durchdringendem Abscheu erfüllte wie seine makabre Ursache -, sah ich in voller, schrecklicher Lebendigkeit das unvorstellbare, unbeschreibliche und unnennbare Scheusal, das durch sein bloßes Erscheinen eine fröhliche Gesellschaft in einen Haufen kopflos flüchtender Wesen verwandelt hatte.

Ich kann nicht einmal andeuten, wie es aussah, denn es war eine Mischung aus allem Unreinen, Unheimlichen, Unangenehmen, Abnormen und Abscheulichen. Es war das teuflische Sinnbild von Verfall, Alter und Auflösung; das stinkende, triefende Ergebnis einer abstoßenden Enthüllung, die grauenhafte Entblößung all dessen, was für immer die barmherzige Erde zudecken sollte. Gott weiß, daß es nicht von dieser Welt - oder nicht mehr von dieser Welt - war, und doch sah ich in meinem Schrecken in seinen zerfressenen, die Knochen bloßlegenden Umrissen eine zynische, abstoßende Travestie auf die menschliche Gestalt; und in seiner vermoderten, zerfallenden Kleidung eine unaussprechliche Eigenheit, die mich sogar noch mehr schaudern ließ. - H. P. Lovecraft, Der Außenseiter. In: H. P. L., Das Ding auf der Schwelle. Frankfurt am Main 1976 (st 357)

Selbstbegegnung  (6)

Knollennasenmann begegnet sich selbst

- Loriot, nach (gold)

Selbstbegegnung  (7)

Selbstbegegnung  (8)

- N.N.

Selbstbegegnung  (9)

- N. N.

Selbstbegegnung  (10) - Heute bist du wieder besonders weiß im Gesicht, sagten die Schwestern.

Schwester Silissa hatte gesagt: Detlev hat schöne große Ohren, als die Mutter ihn im Waisenhaus abgab.

- Deine Ohren sind so groß wie Judenohren, sagte die Lehrerin, ehe sie ihm mit dem gespaltenen Rohrstock über die Finger schlug. Der Rohrstock quetschte sich auseinander und klemmte die Haut ein.

Wenn Detlev allein im Waschsaal war - wenn die Mutter ihn in dem Zimmer beim Veterinär oder in ihrem Zimmer auf dem Dachboden allein ließ, sah Detlev sich in den Spiegeln die Ohren an. Auf dem Abort zog er ein Foto von sich aus dem Brustbeutel, den die Mutter ihm nach dem ersten Bombenangriff um den Hals gehängt hatte.

- Meine Lippen sind dick.

- Ich habe eine Locke im Haar.

- Ich bin weiß im Gesicht.

- Mein Kinn steht nicht vor.

Er hat ein fliehendes Kinn, sagte Schwester Appia zu Schwester Silissa.

Detlev stößt sich von der Mauer ab. Er wischt mit den Fingern an den Traljen des Balkongitters entlang. Am Pfosten bleibt er stehen. Auf dem Pfosten liegt eine kleine Kugel. Grau und weiß. Es ist ein Puppenauge.

Detlev faßt hin. Er will es zwischen die Finger nehmen. Er zerquetscht es. An den Fingerspitzen klebt grüner Schleim.

- Detlev hat in Vogelscheiße gefaßt, schreit Alfred.  - Hubert Fichte, Das Waisenhaus. Berlin 1985 (zuerst 1965)

Selbstbegegnung  (11) -Ein phantasieloser Herr mit einem Hang zur guten Küche begegnete sich selbst zum ersten Mal an einer Bushaltestelle. Er erkannte sich sofort und war nur gelinde erstaunt. Er wußte, daß solche Vorfälle im allgemeinen zwar selten, aber doch möglich, ja keineswegs ungewöhnlich sind. Da sie einander nie vorgestellt worden waren, schien es ihm ratsam, sich nicht anmerken zu lassen, daß er sich erkannt hatte. Er traf ihn ein zweites Mal auf einer belebten Straße und ein drittes Mal vor einem Herrenbekleidungsgeschäft. Diesmal nickten sie einander kurz zu, richteten aber nicht das Wort aneinander: jedesmal hatte er sich aufmerksam beobachtet; er hatte den Selbst würdig und elegant gefunden, aber behaftet mit einer schwermütigen oder zumindest gedankenvollen Miene, die er sich nicht erklären konnte. Erst bei der fünften Begegnung grüßten sie einander mit einem verhaltenen »Guten Abend«, und er lächelte ihm sogar zu und bemerkte - wenigstens schien es ihm so - daß der andere sein Lächeln nicht erwiderte. Beim siebten Mal, als sie gerade ein Theater verließen, wollte es der Zufall, daß die Menge sie zueinander hinschob. Der Selbst grüßte ihn höflich und machte einige ihm treffend erscheinende Bemerkungen über das Lustspiel, das sie soeben gesehen hatten; er sprach über die Schauspieler, und sein Selbst stimmte mit ein paar kritischen Äußerungen zu. Vom Anfang irgendeines Winters an häuften sich ihre Begegnungen; es war klar, daß er und er Selbst in unweit voneinander gelegenen Stadtvierteln wohnten; daß sie ähnliche Gewohnheiten hatten, war nicht weiter verwunderlich. Mehr und mehr aber war er davon überzeugt, daß er selbst eine übertrieben melancholische Miene zur Schau trug. Eines Abends wagte er es, das Wort an ihn zu richten und begann mit der Anrede »Mein Freund«; die Unterhaltung, freundlich und höflich, ermunterte ihn dazu, den anderen zu fragen, ob er womöglich irgendeinen Kummer habe, an dem er nicht teilhabe, wenngleich die Sache ihm sonderbar erscheine. Nach kurzer Pause gestand ihm der Selbst, daß er verliebt sei, und zwar hoffnungslos, und überdies in eine Frau, die auf jeden Fall seiner Liebe nicht würdig wäre; weshalb er - ganz gleich, ob er sie nun eroberte oder nicht - zu einer qualvollen, unerträglichen Lage verurteilt sei. Er war über diese Offenbarung bestürzt, besonders da er in gar keine Frau verliebt war; und er zitterte bei dem Gedanken, daß eine Spaltung eingetreten sein könnte, die so groß und so tief wäre, daß sie sich als endgültig unüberbrückbar erwiese. Er versuchte, den Selbst von der Sache abzubringen, doch dieser antwortete ihm, daß weder Lieben noch Entlieben in seiner Macht stünden. - (pill)

Selbstbegegnung  (12) -

Selbstbegegnung, gespiegelt

- Jean Lagarrique

Selbstbegegnung  (13) Er konnte entkommen. Er würde entkommen. Bis Tagesende würden sie alle tot sein, falls es das war, was sie wollten, und er -

Er sah den Schädel.

Plötzlich legte er das Gewehr hin. Er hob den Schädel hoch. Er drehte den Schädel herum. Er betrachtete die Zähne. Dann trat er zum Spiegel.

Er hielt den Schädel hoch, schaute in den Spiegel. Er preßte den Schädel gegen seine Wange. Neben seinem eigenen Gesicht grinste der Schädel höhnisch zu ihm zurück, neben seinem Schädel, an seinem lebendigen Fleisch.

Er entblößte die Zähne. Und da wußte er es.

Es war sein eigener Schädel, den er in der Hand hielt. Er war derjenige, der sterben würde.   - Philip K. Dick, Der Schädel. In: P.K.D., Und jenseits - das Wobb  Zürich 1998

 

Begegnung Begegnung

 

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Verwandte Begriffe
SpiegelDoppelgänger

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