Wenn mich jemand fragt, wie es möglich sey, daß sich ein Mensch
selbst erscheinen könne, oder wie dies sich selbst sehen in der menschlichen
Natur gegründet sey? — So antworte ich: daß nicht mehr dazu erfordert werde,
als Engel und Geister zu sehen, wo keine sind oder doch wenigstens nicht in
die Sinne fallen. Der berühmte Friedrich Nikolai in Berlin gerieth einsmahls
in einen Zustand, daß er viele geistige Wesen um sich her sähe, die aber alle
nach und nach verschwanden, so wie er auflösende und abführende Mittel gebrauchte.
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still
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Selbstbegegnung (3)
Selbstbegegnung (4)
Selbstbegegnung (5) Ich ging durch die Glastür in den prächtig erleuchteten Raum, doch damit ging ich auch aus meinem einzigen hoffnungsfrohen Moment in den schwärzesten Abgrund der Verzweiflung und der Erkenntnis. Das entsetzliche Ereignis ließ nicht lange auf sich warten, denn als ich eintrat, bot sich mir unvermittelt das schrecklichste Schauspiel, das ich je gesehen habe. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, da ergriff die ganze Gesellschaft ein jähes Entsetzen von unglaublicher Intensität; jedes Gesicht verzerrte sich und gräßliche Schreie drangen aus jeder Kehle. Auf der Stelle wandten sich alle kopflos zur Flucht, und inmitten des Lärms und der allgemeinen Panik fielen mehrere in Ohnmacht und wurden von ihren in wilder Hast fliehenden Begleitern mitgeschleift. Viele bedeckten mit den Händen ihre Augen und rannten blind und tölpelhaft dem rettenden Ausgang entgegen, warfen Möbel um und stießen gegen Wände, bevor es ihnen gelang, eine der vielen Türen zu erreichen.
Ihre Schreie waren grauenhaft; und als ich allein und benommen in dem glänzenden Saal stand und ihren verhallenden Echos nachhorchte, zitterte ich bei dem Gedanken, was sich unsichtbar in meiner Nähe verbergen mochte. Auf den ersten Blick schien der Raum verlassen, aber als ich auf eine der Nischen zutrat, glaubte ich dort eine Gestalt zu erkennen - einen beweglichen Schatten hinter einer mit einem goldenen Bogen überwölbten Türöffnung, die in einen weiteren, ähnlichen Raum zu führen schien. Als ich auf diesen Bogen zuging, begann ich die Erscheinung deutlicher zu sehen; und dann, mit dem ersten und letzten Ton, den ich je hervorgebracht habe - einem schaurigen Geheul, das mich mit fast ebenso durchdringendem Abscheu erfüllte wie seine makabre Ursache -, sah ich in voller, schrecklicher Lebendigkeit das unvorstellbare, unbeschreibliche und unnennbare Scheusal, das durch sein bloßes Erscheinen eine fröhliche Gesellschaft in einen Haufen kopflos flüchtender Wesen verwandelt hatte.
Ich kann nicht einmal andeuten, wie es aussah, denn es war eine Mischung
aus allem Unreinen, Unheimlichen, Unangenehmen, Abnormen und Abscheulichen.
Es war das teuflische Sinnbild von Verfall, Alter und Auflösung; das stinkende,
triefende Ergebnis einer abstoßenden Enthüllung, die grauenhafte Entblößung
all dessen, was für immer die barmherzige Erde zudecken sollte. Gott weiß, daß
es nicht von dieser Welt - oder nicht mehr von dieser Welt - war, und doch sah
ich in meinem Schrecken in seinen zerfressenen, die Knochen bloßlegenden Umrissen
eine zynische, abstoßende Travestie auf die menschliche Gestalt; und in seiner
vermoderten, zerfallenden Kleidung eine unaussprechliche Eigenheit, die mich
sogar noch mehr schaudern ließ. - H. P. Lovecraft, Der Außenseiter.
In: H. P. L., Das Ding auf der Schwelle. Frankfurt am Main 1976 (st 357)
Selbstbegegnung (6)
- Loriot, nach (
gold
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Selbstbegegnung (7)
Selbstbegegnung (8)
Selbstbegegnung (9)
- N. N.
Selbstbegegnung (10) - Heute bist du wieder besonders weiß im Gesicht, sagten die Schwestern.
Schwester Silissa hatte gesagt: Detlev hat schöne große Ohren, als die Mutter ihn im Waisenhaus abgab.
- Deine Ohren sind so groß wie Judenohren, sagte die Lehrerin, ehe sie ihm mit dem gespaltenen Rohrstock über die Finger schlug. Der Rohrstock quetschte sich auseinander und klemmte die Haut ein.
Wenn Detlev allein im Waschsaal war - wenn die Mutter ihn in dem Zimmer beim Veterinär oder in ihrem Zimmer auf dem Dachboden allein ließ, sah Detlev sich in den Spiegeln die Ohren an. Auf dem Abort zog er ein Foto von sich aus dem Brustbeutel, den die Mutter ihm nach dem ersten Bombenangriff um den Hals gehängt hatte.
- Meine Lippen sind dick.
- Ich habe eine Locke im Haar.
- Ich bin weiß im Gesicht.
- Mein Kinn steht nicht vor.
Er hat ein fliehendes Kinn, sagte Schwester Appia zu Schwester Silissa.
Detlev stößt sich von der Mauer ab. Er wischt mit den Fingern an den Traljen des Balkongitters entlang. Am Pfosten bleibt er stehen. Auf dem Pfosten liegt eine kleine Kugel. Grau und weiß. Es ist ein Puppenauge.
Detlev faßt hin. Er will es zwischen die Finger nehmen. Er zerquetscht es. An den Fingerspitzen klebt grüner Schleim.
- Detlev hat in Vogelscheiße gefaßt, schreit Alfred. - Hubert
Fichte, Das Waisenhaus. Berlin 1985 (zuerst 1965)
Selbstbegegnung (11) -Ein phantasieloser Herr mit
einem Hang zur guten Küche begegnete sich selbst zum ersten Mal an einer Bushaltestelle.
Er erkannte sich sofort und war nur gelinde erstaunt. Er wußte, daß solche Vorfälle
im allgemeinen zwar selten, aber doch möglich, ja keineswegs ungewöhnlich sind.
Da sie einander nie vorgestellt worden waren, schien es ihm ratsam, sich nicht
anmerken zu lassen, daß er sich erkannt hatte. Er traf ihn ein zweites Mal auf
einer belebten Straße und ein drittes Mal vor einem Herrenbekleidungsgeschäft.
Diesmal nickten sie einander kurz zu, richteten aber nicht das Wort aneinander:
jedesmal hatte er sich aufmerksam beobachtet; er hatte den Selbst würdig und
elegant gefunden, aber behaftet mit einer schwermütigen oder zumindest gedankenvollen
Miene, die er sich nicht erklären konnte. Erst bei der fünften Begegnung grüßten
sie einander mit einem verhaltenen »Guten Abend«, und er lächelte ihm sogar
zu und bemerkte - wenigstens schien es ihm so - daß der andere sein Lächeln
nicht erwiderte. Beim siebten Mal, als sie gerade ein Theater verließen,
wollte es der Zufall, daß die Menge sie zueinander hinschob. Der Selbst
grüßte ihn höflich und machte einige ihm treffend erscheinende Bemerkungen über
das Lustspiel, das sie soeben gesehen hatten; er sprach über die Schauspieler,
und sein Selbst stimmte mit ein paar kritischen Äußerungen zu. Vom Anfang irgendeines
Winters an häuften sich ihre Begegnungen; es war klar, daß er und er Selbst
in unweit voneinander gelegenen Stadtvierteln wohnten; daß sie ähnliche Gewohnheiten
hatten, war nicht weiter verwunderlich. Mehr und mehr aber war er davon überzeugt,
daß er selbst eine übertrieben melancholische Miene zur Schau trug. Eines Abends
wagte er es, das Wort an ihn zu richten und begann mit der Anrede »Mein Freund«;
die Unterhaltung, freundlich und höflich, ermunterte ihn dazu, den anderen zu
fragen, ob er womöglich irgendeinen Kummer habe, an dem er nicht teilhabe, wenngleich
die Sache ihm sonderbar erscheine. Nach kurzer Pause gestand ihm der Selbst,
daß er verliebt sei, und zwar hoffnungslos, und überdies in eine Frau, die auf
jeden Fall seiner Liebe nicht würdig wäre; weshalb er - ganz gleich, ob er sie
nun eroberte oder nicht - zu einer qualvollen, unerträglichen Lage verurteilt
sei. Er war über diese Offenbarung bestürzt, besonders da er in gar keine Frau
verliebt war; und er zitterte bei dem Gedanken, daß eine Spaltung
eingetreten sein könnte, die so groß und so tief wäre, daß sie sich als endgültig
unüberbrückbar erwiese. Er versuchte, den Selbst von der Sache abzubringen,
doch dieser antwortete ihm, daß weder Lieben noch Entlieben in seiner Macht
stünden. - (pill)
Selbstbegegnung (12) -
- Jean Lagarrique
Selbstbegegnung (13) Er konnte entkommen. Er würde entkommen. Bis Tagesende würden sie alle tot sein, falls es das war, was sie wollten, und er -
Er sah den Schädel.
Plötzlich legte er das Gewehr hin. Er hob den Schädel hoch. Er drehte
den Schädel herum. Er betrachtete die Zähne. Dann trat er zum Spiegel.
Er hielt den Schädel hoch, schaute in den Spiegel. Er preßte den
Schädel gegen seine Wange. Neben seinem eigenen Gesicht grinste der
Schädel höhnisch zu ihm zurück, neben seinem Schädel, an seinem
lebendigen Fleisch.
Er entblößte die Zähne. Und da wußte er es.
Es war sein eigener Schädel, den er in der Hand hielt. Er war derjenige, der sterben würde. - Philip K. Dick, Der Schädel. In: P.K.D., Und jenseits - das Wobb Zürich 1998
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