Jean Baudrillard
Klumpen
(2) Es war zu Ende Septembers
1798, als ich jemanden im Traum die Geschichte der jungen und schönen Gräfin
Hardenberg erzählte, die mich und überhaupt jedermann sehr gerührt hat.
Sie starb im September 1797 in den Wochen, eigentlich während der Geburt
die nicht zustande kam. Sie wurde geöffnet, und das Kind neben sie in den
Sarg gelegt, und so wurden sie zusammen des Nachts mit Fackeln unter einem
entsetzlichen Zulauf von Volk nach einem benachbarten Orte, wo das Familien-Begräbnis
ist, gebracht.
Dieses geschah auf dem Göttingischen Leichenwagen, einer sehr unbeholfenen Maschine. Dadurch wurden also die Leichname sehr durcheinander geworfen. Am Ende wollten sie, ehe sie in die Gruft gebracht wurden, noch einige Leute sehen. Man öffnete den Sarg und fand sie auf dem Gesichte liegend und mit ihrem Kinde in einen Haufen geschüttelt. Das schöne Weib, schwerlich noch 20 Jahre alt, die Krone unsrer Damen, die auf manchem Ball den Neid der Schönsten auf sich gezogen, in diesem Zustande! Dieses Bild hatte mich zu der Zeit oft beschäftigt, zumal, da ich ihren Gemahl, einen meiner fleißigsten Zuhörer, sehr wohl gekannt hatte.
Diese traurige Geschichte erzählte ich nun jemanden im Traume im Beisein eines Dritten, dem die Geschichte auch bekannt war; vergaß aber (sehr sonderbar) den Umstand mit dem Kinde, der doch gerade ein Hauptumstand war. Nachdem ich die Erzählung, wie ich glaubte, mit vieler Energie und Rührung dessen, dem ich sie erzählte, vollendet hatte, sagte der Dritte: Ja und das Kind lag bei ihr, alles in einem Klumpen. Ja, fuhr ich gleichsam auffahrend fort, und ihr Kind lag mit in dem Sarge. Dieses ist der Traum.
Was mir ihn merkwürdig macht, ist dieses: Wer erinnerte mich im Traume an das Kind? Ich war es ja selbst, dem der Umstand einfiel? Warum brachte ich ihn nicht selbst im Traume als eine Erinnerung bei? Warum schuf sich meine Phantasie einen Dritten, der mich damit überraschen und gleichsam beschämen mußte? Hätte ich die Geschichte wachend erzählt, so wäre mir der rührende Umstand gewiß nicht entgangen. Hier mußte ich ihn übergehn um mich überraschen zu lassen. Hieraus läßt sich allerlei schließen. Ich erwähne nur eines, und mit Fleiß grade das, was am stärksten wider mich selbst zeugt, zugleich aber auch für die Aufrichtigkeit, womit ich diesen sonderbaren Traum erzähle.
Es ist mir öfters begegnet, daß [ich], wenn ich etwas habe drucken lassen,
erst ganz am Ende, wenn sich nichts mehr ändern ließ, bemerkt habe, daß
ich alles hätte besser sagen können, ja, daß ich Haupt-Umstände vergessen
hatte. Dieses ärgerte mich oft sehr. Ich glaube, daß hierin die Erklärung
liegt. Es wurde hier ein mir nicht ungewöhnlicher Vorfall dramatisiert.
— Überhaupt aber ist es mir nichts Ungewöhnliches, daß ich im Traum
von einem Dritten belehrt werde, das ist aber weiter nichts als dramatisiertes
Besinnen. Sapienti sat. - (
licht
)
Klumpen
(3) Ich halte in den
Händen ein kugelförmiges Glasgefäß. Es ist mit Wasser gefüllt; darin schwimmen
eine Menge durchsichtigweicher, fremdartiger Geschöpfe.
Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, den Glasdeckel ein ganz wenig
abzuschrauben. Im selben Augenblicke aber preßt von innen eine Kraft nach;
das Wasser braust und die Tiere drängen nach oben.
Das Gefäß öffnet sich mehr und mehr, ich kann es nicht mehr schließen.
Neben mir sitzt der, welcher den Deckel zu schließen vermag; ich rufe ihn,
er hört nicht, ich rufe heftiger, er hört nicht, ich rüttele ihn an den
Schultern, er hört nicht, er schläft. Da ist das Glasgefäß gesprengt. Wasser
und Tiere sind am Boden. Ich sehe wie sie scheußliche Bewegungen machen,
Ekel und Furcht überwältigen
mich. Da nehme ich ein großes, scharfes Messer
und schneide vorsichtig ein jedes von ihnen mitten durch, sodann alle einzelnen
Teile noch einmal, bis endlich jede letzte Zuckung
aufhört und nur noch formlose, schwarze kleine Klumpen am Boden liegen.
- Friedrich Huch, nach (
je
)
Klumpen
(4) Einer anderen Größenordnung
unter den kosmischen Klumpen gehören die Sterne an, von den kleinsten (den
PULSAREN) bis hin zu den größten (den Überriesensternen). Himmelskörper
noch größeren Ausmaßes als die größten Sterne (bis zum Fünfzigfachen der
Sonnenmasse) können nicht stabil sein. Bei den noch größeren Zusammenballungen
handelt es sich daher stets um Sternsysteme, die durch die wechselseitige
Massenanziehungskraft zusammengehalten werden: um offene Sternhaufen aus
einigen hundert Sternen oder um Kugelsternhaufen aus mehreren Millionen
Sternen oder um GALAXIEN, die aus mehreren Milliarden Sternen bestehen.
Die größte Zusammenballung ist natürlich das Universum
selbst, aber das können wir leider nicht von außen betrachten. -
(thes)
Klumpen
(5) Von einer kühlen Ecke
bei Kempinski träumte ich und mußte ein bißchen dabei aufstoßen, denn der Kunsthonig,
der auf den grauen Kriegsschrippen so altmeisterlich graugrün leuchtete wie
die Malgründe der alten Italiener, machte den Magen rebellisch. Neben mir lag
ein Berliner Kutscher, dem ein Teil des Bauches fehlte.
«Sieh mal», sagte er ein bißchen lallend, halb unter der Wirkung der Spritzen, die er dauernd bekam. (Hatte eine Natur wie ein Ochse.) «Sieh mal. Kammrad», sagte er und versuchte, aufseine Mitte zu zeigen, «komisch, Kammrad» — er sprach in Berliner Dialekt, der Finger wollte zeigen, kam aber nicht ganz hoch — «komisch, det hatte ick doch allet noch bei mir, hatte ick — wo sind denn bloß meine Beene, die habe ick irgendwo liejenjelassen — wenn ick mir nur ainnern könnte, Kammrad, wenn ick mir nur ainncrn könnte — nu habe ick ne Einfahrt, aber ne Ausfahrt is nich mehr da, weg is die...»
Wieder wollte er auf seine klumpförmige Mitte zeigen, aber Hand und Finger versagten. Er stöhnte halb bewußtlos und sank in Schlaf. In der Nacht starb er ganz geräuschlos, ohne Laut, ein unförmiges Bündel.
Am Morgen aßen wir unsere graugrünen Schrippen und tranken unseren Kohlrübenkaffee. Das Leben war doch nicht so schlecht, alles in allem, oder? Unter dem karierten Bezug lag es sich nett und warm, besonders mit einem alten Band «Gartenlaube» aus der Sammlung «Gebt Bücher für unsere lieben Feldgrauen in den Lazaretten». Nur nicht mißmutig werden, nur sich von den Miesmachern nicht anstecken lassen! Jede Kugel trifft ja nicht. .. Na ja, den nebenan, den hat's ganz schön reingehauen — «Mit die Weiber is't bei den vorbei», sagte gestern der Sanitätsgehilfe.
Aber der Sanitätsgefreite verbesserte ihn: «Ach watt, der kriecht een janz neuen Piephahn von Holz, nach Maß. Mensch, da haam wia schon janz andere Dinger jesehn, haam wia in Gorden. Du, Kammrad, die hättste ma sehn solin — Mensch, det Gordener Kunstbein is jenau so jut wie'n richtijes — Mensch, Kammrad, bei's Hürdenloofen und bei's Stabspringen war'n die teilweise, ick mecne teilweise. Kammrad, besser wie die Jesunden». Er sagte immer teilweise, dieser Kamerad Sanitätsgefreite. «Na, nu jib mir ma teilweise Dein Arm... Wie oft bist'n jeimpft? Ick weeß, teilweise uff Tetanus - biste die Filzläuse nu los? Ick meene teilweise?»
Der nebenan, so erschien es mir, wurde immer klumpenmäßiger und größer. Schwoll der etwa auf, von unbekannten Winden bewegt, die noch in ihm herumfegten und rauswollten? Ich fragte Max — wir nannten ihn den «teilweisen Maxe» — und machte ihn darauf aufmerksam. Der dunkle sympathische Handlungsgehilfe im nächsten Bett fragte auch: «Du, Maxe, wie is det? Mensch, wenn der platzt, teilweise — ick nehme ma lieber die Schrippe hier weg — »
«Möglich is det, möglich is det», sagte Max, der Sanitätsgefreite. «Wie ick
von Westen kam, da hatt'n wa eenen bei uns, teilweise, den hatt'n se vajast,
hatt'n se den j- den pustete detJift, oder wat et wa weeß ick nich, direkt uff
wie'n Kindaballong. Wa ja eejentlich schon tot, teilweise, aba ick weeß noch,
wie ick von's Revier komme, kieke ick nochma rin — die lagen da alle in sonn
ehemalijen Theatasaal lagen die, teilweise — also et wa da sone Art Petroleumlampe,
die brannte janz runtajedreht in de Mitte und ick jehe da ma an den sein Bett
— uff ema sehe ick, wie a sich ahebt, aba sticke, sticke, Kammrad, janz langsam,
so als wennste schwebst, teilweise — Mensch, kcnnste noch die ollen Luftschiffaballongs?
Janz langsam hob a sich in de Luft... Watt se denn mit jemacht haam? Weeß ick
nich. Ick natürlich jleich ins Revier zurück, mußte mia aber denn jleich die
Nacht noch bein Transport melden... Rinjestochen solln se haam, mit ne lange
Nadel. Mir azählte späta een Kammrad — traf ick zufällig bei Aschinger wie ick
zum zweetenmal uff Urlaub wa — der sachte, er wäre richtig rumjeflogen wie'n
Ballong und se hatt'n da een gehabt, sachte er, eenen Leichtverwundeten von
de Luftschiffaabteilung oder von de Fliejer, und der hatt'n denn runterjeholt.
Soll aba schon tot jewesen sinn, teilweise...» - George Grosz, Ein kleines Ja und ein
großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst
1955
Klumpen
(6) Nur ein Löwe konnte
so einen Krach machen. Wir sprangen alle hoch und starrten in die Finsternis;
endlich machten wir eine Masse verschlungener Körper aus - eine Mischung von
Gelb und Schwarz, die sich taumelnd und kämpfend auf uns zu bewegte. Wir packten
unsere Gewehre, schlüpften in die veldschoens, das sind Schuhe aus ungegcrbter
Haut, und stürzten aus der scherm. Mittlerweile war der Klumpen gestürzt, hatte
sich ein über das andere Mal am Boden überschlagen, und als wir hinkamen, war
alles vorbei, der Kampf war zu Ende, alles war still.
Jetzt sahen wir, was geschehen war. Im Gras lag ein Schwarzantilopenbulle, wohl die schönste aller afrikanischen Antilopen, mausetot, und aufgespießt auf seinem mächtigen gekrümmten Gehörn ein prächtiger, dunkel-mähniger Löwe, ebenfalls tot. Offensichtlich war folgendes geschehen: die Schwarzantilope war zur Tränke an das Wasserloch gekommen, wo der Löwe, ohne Zweifel der gleiche, den wir gehört hatten, auf der Lauer gelegen war.
Während die Antilope trank, sprang sie der Löwe an, wurde aber von den spitzen
gekrümmten Hörnern angenommen und aufgespießt. Ich sah schon früher einmal so
etwas Ähnliches. Der Löwe, außerstande, sich zu befreien, zerfleischte dem Bullen
Hals und Rücken. Die Antilope, wahnsinnig vor Schmerz und Todesangst, hetzte
dahin, bis sie tot zusammenbrach. - Henry Rider Haggard, König Salomons
Schatzkammer. Zürich 1982 (zuerst 1885)
Klumpen
(7)
Am 30. November 1896 fanden zwei Jungen am Strand von St. Augustine einen großen Kadaver. Sie informierten Dr. DeWitt Webb, einen Arzt mit einer Leidenschaft für Naturgeschichte. Zuerst dachte er, es handele sich um einen gestrandeten Wal.
Doch dann untersuchte er den weißlichen, leicht rosafarbigen,
gummiartig-zähen Körper genauer. Er war fast 7 Meter lang, 2 Meter
breit, 1,20 Meter hoch und wog schätzungsweise 5 bis 7 Tonnen.
Des
Weiteren erkannte er Strukturen, die er für Stümpfe von vier
abgetrennten Armen hielt. Er ließ das Tier fotografieren und schickte die Bilder und eine genaue Beschreibung an den Weichtierexperten Addison Emery Verrill von der Yale University. Dieser hatte sich zuvor intensiv mit Riesenkalmaren beschäftigt und ordnete das Monster von St. Augustine vorläufig eben diesen zu. Sehr schnell revidierte er aber seine Meinung, denn die Fotos zeigten eindeutig etwas oktopodenartiges. Er publizierte das Wesen als Oktopus gigantheus im American Journal of Science.
Er hatte die Proportionen des Tieres mit denen anderer Oktopoden
verglichen und kam dadurch auf eine Länge von 60 Metern, von denen fast
die Hälfte allein auf die Fangarme fielen, sowie ein Gewicht von 20
Tonnen. Dies alles errechnete er jedoch, ohne den Fund selbst
untersucht zu haben. -
Wikipedia
Klumpen
(8) Die Sichelschneide
- 1 Hieb wie 1 Blitz, - trennt vom Kopf der Frau Brümmer weitaus mehr,
als den schwer in den Nacken herabgesunkenen fettigen Haarknoten,
ab. Mit fleischigem Aufprall fällt der zu ihren Füßen aufs Linoleum im Gerichtssaal;
doch zerfasert er nicht zu 1zelnen Strähnen, sondern bleibt, wie ein schwerer
Auswuchs, als Ganzes bestehn. Am verjüngten Ende dieses Klumpens schimmern aus
dem fettigen Schwarz einige Fetzen blutiger Kopfhaut heraus. Seltsam nackt erscheint
jetzt die Frau, in den zerschlagenen Hinterschädel
eingeschnitten blutrot u kreisförmig eine offene Wunde. Vom Sichelhieb im schrägen
Schnitt gekappt, die restlichen Haare gesträubt auf dem Kopf, erhält dieser
in rosige Nacktheit gestoßene Schädel mit seinen Gesichtszügen aus klein= räuberischer
hab=Gier & großem Geiz geprägt, den Insignien der Puffmutter, unverhofft
etwas prekär Mönchisches. - (jir)
Klumpen
(9) Die Leiche
des Mannes sollte gereinigt und zur Beerdigung
vorbereitet werden. Die Leute im Haus standen abseits und sahen zu und wagten
sich nicht heran. Die Frau aber umarmte die Leiche, ordnete die Eingeweide
und weinte dabei. Sie weinte so heftig, daß ihr die Stimme im Hals steckenblieb
und würgte. Plötzlich fühlte sie, wie der Klumpen
in ihrer Brust nach oben stieg und herauskam, und ehe sie sich abwenden konnte,
war er schon in die Brusthöhle des Toten gefallen. Entsetzt sah sie ihn an,
da war es ein Menschenherz, das in der Brust hin
und her zuckte. Der heiße Lebensatem strömte wie eine Rauchwolke hervor. Sie
war aufs äußerste überrascht und schloß mit beiden Händen die Wunde der Brust.
Mit aller Macht mußte sie drücken, Ließ sie auch nur ein wenig los, so kam die
Luft zur Ritze strömend hervor. Da riß sie ihr seidenes Tuch auseinander und
schlang es um ihn.
Als sie dann mit der Hand den Leichnam befühlte, da erwärmte er allmählich.
Sie deckte ihn mit einer Decke zu. Und als sie um Mitternacht wieder nach ihm
sah, da war Atem in seiner Nase, und bei Tagesanbruch war er zum Leben zurückgekehrt.
Nur sagte er, er habe ein verschwommenes Gefühl wie im Traum. Auch fühlte er
einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend. Die Wunde hatte sich geschlossen. Eine
Narbe von der Größe eines Geldstückes hatte sich gebildet. - (
chm
)
Klumpen
(10) Das
Rees-White-Szenario
war eine Art schwarze Kehrseite von Peebles ursprünglicher Idee, die
großen Dinge im Universum hätten sich von unten nach oben aus kleinen Dingen
gebildet. Je größer der ursprüngliche Materieklumpen, so Rees und White, desto
länger hatten die Atome gebraucht, um abzukühlen, sich zu verdichten und aufzuleuchten.
Zuerst waren dabei Kugelhaufen entstanden und dann Galaxien. Beim Abkühlen hatten
die Wolken aus dunkler Materie einander angezogen und größere Wolken gebildet,
die wiederum das Bestreben hatten, zu noch größeren Wolken zu verschmelzen,
wobei sie ihre leuchtenden Kerne mitgeschleppt hatten, wie man seine Kinder
zu einem sonntäglichen Mittagessen bei den Großeltern mitschleppt. Mit der Zeit,
sagten Rees und White voraus, würden sich die Verschmelzungsprozesse auf immer
höherer Ebene wiederholen. Ihr Universum war organisiert wie ein chinesisches
Puzzle, mit Klumpen innerhalb von Klumpen innerhalb von Klumpen. - Dennis Overbye, Das Echo des Urknalls. München
1993
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