eichnam   Man stellt sich den Toten als körperliches Wesen vor. Wir reden dann von einem lebenden Leichnam. Der Tote hat dieselben Bedürfnisse wie die Lebenden; er muß essen und trinken, er braucht seine Waffen, sein Pferd und seinen Kampfwagen. Grabbeigaben zeigen, daß die Kelten an eine derartige nachtodliche Existenz glauben. Die Seele ersteht von neuem, wenn sie vorher eine bestimmte Zeit in der Unterwelt zubringt. Ein antiker Autor, Diodorus Siculus, teilt mit: Sie werfen an ihre toten Verwandten gerichtete Briefe auf den Scheiterhaufen. Sie meinen, die Toten seien imstande zu lesen. Spätere Autoren haben daran angeknüpft, so daß einer sogar zu berichten weiß, die Abwicklung von Geschäften sei bis in die Unterwelt fortgesetzt worden. Es ist noch heute irische Sitte, dem Toten Briefe ins Grab mitzugeben. Weshalb sollte der Tote, der in der Unterwelt das irdische Leben fortsetzt, vielleicht in anderer Weise, nicht lesen können? Wer seinen irdischen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, findet im Grabe keine Ruhe; er muß umgehen; das ist eine Last für die Lebenden. So ist es wohl vernünftig, ihn daran zu erinnern, welch unbeglichene Schuld er hinterlassen hat, und ihn zu mahnen, durch Tilgung seine Ruhe im Grabe zu ermöglichen. - Hans-Jürg Braun, Das Jenseits - Die Vorstellungen der Menschheit über das Leben nach dem Tod. Frankfurt am Main 2000 (it 2616, zuerst 1996)

Leichnam (2)  Der Leichnam war beinahe nackt, in Naturgröße und in allen Lebensfarben, dazu glasiert, so daß jede einzelne, im übrigen vom Skulpteur feinstens herausgearbeitete Einzelform des Christuskörpers einen zusätzlichen Glanz bekam. Und wie in den Breiten der Nachtwindstadt wohl üblich, beugten sich die beiden Mädchen jetzt über diesen lebensechten Leib und küßten ihn ab vom Kopf bis zu den Füßen. Sie taten das sacht, fast ohne Stirn, Augen, Mund undsoweiter mit ihren Lippen überhaupt zu berühren, mit gefalteten, an die Brüste gedrückten Händen. Nur am Ende, als sie sich aufrichteten und noch einen Blick auf den vor sich da Hingestreckten warfen, strich die eine von ihnen, rasch, über die Hüfte des Toten, zog mit den Fingerspitzen den Schwung dort nach und äugte dann hin zu der zweiten jungen Frau, die ebenso zurückäugte, eine auf einmal ganz das Ebenbild der andern, gehobene Brauen, und ein Lächeln mit geschlossenen Lippen, wie bei einer Mitwisserin und Komplizin. — Und sie wären gar nicht überrascht, würde, bei noch so einem Darüberstreichen, ihr angeblich toter Gott sich unter ihren Händen unversehens aufbäumen. - Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt am Main 1999 (st 2946, zuerst 1997)

Leichnam (3)  

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