ierchen Er hörte hinter sich Schritte. Er drehte sich so ungestüm um, daß er das Gleichgewicht verlor, die Hände ausstreckte, schwankte und der Länge nach hinschlug. Bevor er den Kopf hob, vernahm er ganz deutlich den Widerhall des eigenen Sturzes. Vorsichtig richtete er sich etwas auf. Etwa neun Meter entfernt, am Rand der oberen Steuerungsdüse, saß etwas, klein wie eine Katze, und beobachtete ihn aufmerksam. Das Tierchen — der Eindruck, daß es ein Tier war, drängte sich ihm mit Selbstverständlichkeit auf — hatte ein blaßgraues, aufgeblähtes Bäuchlein, und da es wie ein Eichhörnchen Männchen machte, konnte er seine Pfoten auf dem Bauch sehen, alle vier, mit den possierlich in der Mitte zusammenlaufenden Krallen. Es umfaßte den Rand der Keramittülle mit etwas gelblich Glänzendem, das wie erstarrtes Gelee aussah und unten aus seinem Leib ragte. Der graue runde Katzenkopf hatte weder Augen noch Schnauze, war aber überall mit schwarzen blitzenden Glasperlen besetzt, wie ein Nadelkissen mit vielen Stecknadelköpfen. Der Ingenieur machte drei Schritte auf das Tier zu. Er war so verblüfft, daß er fast vergaß, wo er stand: Er hörte ein dreifaches Echo, wie vom Widerhall seiner Schritte. Er begriff, daß das Tierchen Laute nachahmen konnte. Langsam trat er noch näher und überlegte gerade, ob er nicht das Hemd ausziehen sollte, um es als Fangnetz zu benutzen. Auf einmal verwandelte sich das Tierchen.
Die Pfötchen auf dem trommelartigen kleinen Bauch zuckten, das glänzende
Hinterteil wurde breiter und entfaltete sich wie ein großer Fächer, das
Katzenköpfchen reckte sich auf dem langen nackten Hals steil auf, und das
Tier flog davon, umgeben von einer schwach flimmernden Aureole. Eine Weile
schwebte es unbeweglich über ihm, dann drehte es eine Spirale, gewann Höhe,
zog noch einen Kreis und verschwand. -
Stanislaw Lem, Eden. Roman einer außerirdischen Zivilisation. München 1974
(1958).
Tierchen (2) Das Buch der Natur hat viele Seiten. Eine der kuriosesten handelt von den Insekten. In den Sprüchen Salomonis 6, 6 liest man: Vade ad formicam, o piger, et considera vias ejus, et disce sapientiam. Ebenda 30, 24ff. in Luthers Übersetzung: «Vier sind klein auf Erden und klüger denn die Weisen: die Ameisen, ein schwach Volk; dennoch schaffen sie im Sommer ihre Speise. Kaninchen, ein schwach Volk; dennoch legt‘s sein Haus in den Felsen. Heuschrecken haben keinen König; dennoch ziehen sie aus ganz mit Haufen. Die Spinne wirkt mit ihren Händen und ist in des Königs Schlössern». Die Weisheit Gottes zeigt sich also besonders in den kleinsten Tierchen (der umgekehrte Gedanke wird bekanntlich im Buch Hiob gebraucht bei der Erörterung der beiden Tiere Behemoth und Leviathan).
Der eigenartige englische Denker Sir Thomas Browne
knüpft an diese Bibelstellen in seiner Religio Medici (1643, Teil
I, Kap. 15) an: «Welche Vernunft könnte nicht
bei der Weisheit der Bienen, Ameisen und Spinnen
in die Lehre gehen? Welche weise Hand lehrt sie das zu tun, was Vernunft
uns nicht lehren kann? Ein gröberer Verstand staunt über die Wunder der
Natur: Walfisch, Elefant,
Dromedar und Kamel. Diese sind, das gebe ich zu,
gleichsam der Koloß und die majestätischen Werke ihrer Hand. Aber in jenen
kleinen Maschinen steckt eine viel seltenere Mathematik, und die Zivilisation
jener kleinen Bürger stellt die Weisheit ihres Schöpfers reiner dar ...
Ich konnte meine Kontemplation nie mit jenen allgemeineren Wundern zufriedenstellen,
als da sind: Ebbe und Flut, das Anschwellen des Nils, die Wendung der Magnetnadel
nach Norden; und habe mich bemüht, Entsprechendes in den näherliegenden
und gewöhnlich vernachlässigten Werken der Natur aufzufinden, was ich ohne
weitere Reisen in meiner eigenen Kosmographie tun kann. Wir tragen
mit uns die Wunder herum, die wir außer uns suchen;
in uns ist Afrika mit all seinen Prodigien; wir selbst sind jenes kühne
und abenteuerliche Werk der Natur, das der weise Betrachter in diesem Kompendium
ebenso findet wie andere in getrennten Teilen und in einem endlosen Bande.
So gibt es denn zwei Bücher, aus denen ich meine Theologie nehme; neben
dem von Gott geschriebenen ein anderes seiner Dienerin Natura, jenes allgemeine
und öffentliche Manuskript, das unter aller Augen ausgebreitet liegt; wer
ihn nie in dem einen sah, hat ihn in dem anderen entdeckt. Das war die
heilige Schrift und Theologie der Heiden ..... Gewiß wußten die Heiden
diese mystischen Buchstaben besser zu verbinden und zu lesen als wir Christen.
Wir streifen diese gewöhnlichen Hieroglyphen mit sorglosem Blick und verschmähen
es, die Gottesgelehrtheit aus den Blüten der Natur zu saugen». -
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter.
Bern und München 1948
Tierchen (3) Das Kind
ist nach Platon (Die Gesetze) »unter
allen Tierchen das lästigste, das schlaueste, das widerspenstigste«. Aber
im Unterschied zu den anderen Tieren, den Frauen
und den Barbaren ist das Kind nur vorläufig Kind,
solange es nicht erwachsen ist. Daß sich im Kind auf unbezwingbar gefährliche
Weise immer wieder das Wilde und Primitive seinen Weg bahnt, ist eine hartnäckige
Vorstellung, die es in die Nähe dessen rückt, was man sich gewöhnlich unter
dem Unbewußten vorstellt. - Adriano Sofri, der Knoten und der Nagel.
Ein Buch zur linken Hand. Frankfurt am Main 1998 (Die Andere Bibliothek
160, zuerst 1995)
Tierchen (4) Nachdem
er in der vorteilhaften Kunst und Geheimnis der Straßenräuberei eine gute Wissenschaft
erlanget, versuchte er öfters, vor sich alleine zu rauben, denn er war ein vortrefflicher
Reiter, hielt die besten Pferde, welche über Zäune, Gräben und Schlagbäume mitsamt
dem Reiter hinwegsetzten und die Wege bei Tag und Nacht in dieser Landschaft
so genau wußten, als wenn er von einem Wegweiser geleitet worden. Also begegnete
er einstens einem jungen Menschen von Cambridge, der mehr Geld als Witz besaß
und sich mit einer muntern, anmutigen Kurtisane in einer Kalesche erlustierte;
welche Weibs-Person der Kupplerin Barnwel angehörte,
die sich in einen kleinen Marktflecken innerhalb einer Meile von der Universitat
Cambridge aufhielt und mit Tierchen von der gleichen Gattung, so die garstige
Krankheit einem jungen Menschen um einen gar leidlichen Preis verkaufen, sehr
reichlich versehen war. An dieses verliebte Paar machte sich unser Räuber, gebot
ihnen, stille zu halten, und sprach sie gar höflich um ihr Geld an; weil sie
ihm aber solches säuberlich abschlugen, nahm er mit Gewalt eine Summe von sechs
Pfunden von ihnen hinweg; und dieweil sie ihm einige Schwierigkeiten verursachten,
ehe sie das Ihrige verlassen wollten, faßte er den Schluß, ihnen einen Schimpf
anzutun: Denn indem er ein paar Pistolen auf sie zuhielt, schwur er, sie sollten
augenblicklich des Todes sein, wofern sie sich nicht alsobald rnutterfadennackigt
auszögen; das angenehme Leben demnach zu erhalten, gehorcheten sie diesem Befehl.
Alsdenn band er ihnen die Hände auf den Rücken zusammen, mit den Schenkeln aber
band er sie vorne aneinander und gab dem Pferd die Geißel; so lief es im vollen
Rennen mit diesen Adamiten immer nach dem Gasthof in Cambridge zu; sobald sie
in der Stadt anlangeten, lief und schrie ihnen eine Menge von Männern, Weibern
und Kindern nach, daß dergleichen Spektakel seit der Zeit, da die Dame Godiva
nackend durch die Stadt Coventry geritten, niemals gesehen worden. -
(
spitz
)
Tierchen (5) Die
Kreuzspinnen verschmähen die Schlammfliegen und sollen sogar angewidert
ihr Netz verlassen, wenn sich eine solche Fliege darin gefangen hat. Es ist
ein eigentümliches Gefühl, wenn man sieht, wie diese feingegliederten Tierchen
mit dem farbenschimmernden Körper und den glasigen Flügeln, die aussehen, als
wären sie in Samt und Seide gekleidet, ihre anmutigen, schwebenden Tänze im
Sonnenschein über duftenden Blumen vollführen, und sich dann anderseits vergegenwärtigt,
daß sie aus der stinkenden Jauchegrube entstammen, wo ihre häßlichen Larven
als zur Individualität erhobenen Eingeweidesäcke gelebt und trotz aller Possierlichkeit
doch eigentlich nur einen Freßzellenkomplex dargestellt hatten. So wunderbar
arbeitet die Natur: aus dem Ekelhaftesten und Häßlichsten
versteht sie das Poetischste und Schönste hervorzuzaubern. -
Kurt Floericke, Plagegeister
Tierchen (6) Zum
Auswachsen: das Tier hat nichts begriffen, stumm steht es jetzt eine Handbreit
vor Rosalba. Auf dem Boden: reicht ihr bis zum halben Schienbein hinauf. Will,
daß die Beine langsam geöffnet werden. Also öffnen wir langsam die Beine. Will,
daß man kein Hemd und nichts anhat. Wenn man doch ohnehin nichts anhatte. Das
Eisen unten am Scheffelmaß, gerade denkt man daran, ist ganz kalt. Rosalba sitzt
also auf dem Scheffelmaß, die Beine leicht geöffnet, das Tier, eine Handbreit
von ihrem Körper entfernt, zwischen ihren Beinen auf dem Boden. Und mit der
Sicherheit einer Ziege, die sich den zartesten Trieb
aussucht, ergreift nun das Tier mit einem kleinen lautlosen Sprung von Rosalba
Besitz. Springt, um ihre zarteste Knospe abzubeißen, die ihm sein blinder Geruch
augenblicklich gewiesen hat. Sich sträuben? Man weiß ja, daß man nicht kann.
Kaalt das Scheeeffelmaß, kaalt das Scheeeffelmaß (nach der Melodie des Müden
Bandolero). Zartes an Zartes, schon recht so. Aber das Tier hat gar nichts
abgerissen, hat in der Vertiefung zwischen den Schenkeln ihre zarteste Knospe
nicht abgerissen, um sie zu fressen. Das Tier sie ganz aufsaugen. Soll doch.
Schmerz? Was sagt Ihr nur, Marchesa! Nein, kein Schmerz. Das Tier bleibt da
hängen und saugt. Soll es saugen, kein Schmerz. Rosalba blickt unverwandt auf
das kleinste Henkeltöpfchen, das so nett ist mit den Händen an den Seiten. Und
wann kommt der Schmerz? Vielleicht braucht er nie zu kommen. Blindes und schreckliches,
aschfahles und glitschiges Tierchen, was machst du da? Aber mach nur, mach.
- Tommaso Landolfi, Der Tod des
Königs
von Frankreich. Nach
(land)
Tierchen (7) Ich bin mit vielen Tieren in einen Keller eingesperrt. Es sind alles insektenartige, vielfüßige Tierchen mit flachen schwarzen Körpern, laus- oder wanzenähnlich. Ich bin selbst eines davon. (Es scheint so, als wären wir alle in diese Tierchen verwandelte Menschen. Wir müssen unaufhörlich an den Kellerwänden entlang im Kreise herumkrabbeln. Eine unsichtbare anonyme Aufsicht wacht über uns.)
Die Tierchen sind verschieden groß und breit. Zwei mit besonders flachen
Körpern, wie plattgewalzt, und besonders vielen Füßen, laufen schneller als
die anderen, tanzen aus der Reihe oder krabbeln ihren Vordermännern in die Beine
oder auf den Rücken. Sie überholen oder überkriechen (über die Rücken der Vorläufer)
die anderen und haben es auf mich abgesehen. Sie springen mir auf den halben
Rückenteil und versuchen, mich hochzukippen, daß ich mit dem Hinterteil zu Fall
komme und mit den Vorderfüßen in die Luft. Einer der beiden scheint mir die
Personifikation eines früheren Gegners aus der Schulzeit zu sein. Schließlich
werden wir aus dem Kellerverlies herausgelassen. Doch im Kellergang drängen
mich meine Feinde zurück und die Tür nach oben schnappt zu, bevor ich und noch
einige andere hinauskriechen können. Wir krabbeln zurück und verteilen oder
verstekken uns in verschiedenen Kellerräumen, kriechen unter den Türen und Gatterzaunlatten
durch. Ich habe weiterhin Angst, sowohl vor der unsichtbaren Aufsicht, den Beherrschern,
die uns töten oder zertreten können, als auch vor den flacheren, größeren, mehrfüßigeren
Exemplaren der eigenen Gattung, die mir schaden und das Gefangenenleben noch
qualvoller und schwerer machen können. - Wolfgang Bächler, Traumprotokolle.
München 1972
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