oleranz Der
Hinduismus, die zahlenmäßig bedeutendste Weltreligion, ist ein Glaube,
dessen lethargische Toleranz westlichen Missionaren kaum mehr zu tun ließ, als
an ihrer Berufung zu zweifeln. Der Hinduismus kennt keinen Stifter, hat sich
dogmatisch nie verfestigt und wirbt keine Anhänger. Es gab und gibt kein gemeinsames
Glaubensbekenntnis und folglich keine Ketzer, die auf Scheiterhaufen zu maßregeln
wären. Jede Form des Gottesglaubens, sei er heidnisch viel- oder christlich
dreigestaltig, gilt als praktikabel, alle Erlösungswege
als gangbar — sofern sie aus der Welt hinausführen, denn über die Nichtigkeit
des irdischen Lebens waren sich die indischen (wie die europäischen) Religionslehrer
stets einig. Hinduistischem Glauben zufolge ist die Welt eine Besserungsanstalt,
in der jedem Wesen genau der Platz zugewiesen ist, den es aufgrund seines Vorlebens
verdient hat, was nicht wenige lebenslang voll Bitterkeit über die Verfehlungen
ihrer Vorgänger grübeln ließ und läßt. Diese Seelenwanderung ist ohne Anfang
— ein Ende findet sie erst dann, wenn alle Sünden abgebüßt sind. Die Zahl der
Götter und Dämonen, Geister und Heiligen, die diesem Läuterungsprozeß beiwohnen,
vermag niemand zu überschauen, selbst die Priester
nicht. Neben dem Weltschöpfer Brahma, dem Welterhalter Wischnu und dem fruchtbar-zerstörerischen
Schiwa tummeln sich Heerscharen zweit- und drittrangiger himmlischer
Existenzen — in altindischen Erzählungen wird ihre Zahl auf 330 Millionen geschätzt.
Während Brahma zurückgezogen in der Unnahbarkeit seiner Allmacht residiert,
genießen Krischna, der menschgewordene Wischnu, Schiwa, der Phallusgestaltige,
und sein janusgesichtiges Weib, die schrecklich-schöne Weltenmutter Parvati
/ Kali,
mitsamt den unzähligen Regional-, Lokal- und Bezirksgottheiten eine weit volkstümlichere
Verehrung. Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser tumultösen Zustände herrscht im
hlnduistischen Olymp genau jenes Maß an theologischer Konfusion, die Unübersichtlichkeit
und Toleranz garantiert. Toleranz allerdings nur gegenüber dem, der auf der
gleichen Einkommensstufe steht, der gleichen Kaste angehört und kein Pakistaner
ist. - Gregor Eisenhauer, Scharlatane. Frankfurt am Main 1994 (Die Andere Bibliothek
112)
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