etzer   Um das Jahr 1905 wußte ich, daß die allwissenden Seiten (von A bis All) des ersten Bandes des Diccionario enciclopedico hispano-americano von Montanèr y Simòn eine knappe und beunruhigende Skizze bargen: das Porträt einer Art von König mit einem Hahnenkopf im Profil, männlichem Oberkörper mit ausgebreiteten Armen, die einen Schild und eine Geißel führten, und im übrigen einen eingerollten Schwanz, auf dem er thronte. Um das Jahr 1916 las ich die folgende undurchschaubare Aufzählung Quevedos: »Es gab den verfluchten Ketzer Basilides. Es gab Nikolaus, den Antiochier, Karpokrates und Kerinthos und den niederträchtigen Ebion. Dann kam Valentinus, der allem, was da ist, das Meer und das Schweigen als Anfang setzte.« Um das Jahr 1923 durchblätterte ich in Genf ich weiß nicht mehr welche Ketzerlehre in deutscher Sprache und erfuhr, daß die widerwärtige Zeichnung einen gewissen Mischgott darstellte, den schändlicherweise der nämliche Basilides verehrt hatte. Ich erfuhr auch, welch verzweifelte und großartige Männer die Gnostiker gewesen waren, und lernte ihre feurigen Spekulationen kennen.  - Jorge Luis Borges, Eine Rechtfertigung des falschen Basilides,  in: ders., Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991

Ketzer (2) Eines der ersten Beispiele der in panischen Schrecknissen begründeten Verfolgung war in Frankreich das seltsame Getöse, das anläßlich des Cymbalum mundi laut wurde und so lange angedauert hat, eines Büchleins von höchstens fünfzig Seiten Umfang. Der Verfasser, Bonaventure Despériers, lebte im Anfang des 16. Jahrhunderts. Dieser Despériers war Hausbediensteter bei Margarete von Valois, der Schwester Franz' I.  Despériers wollte auf lateinisch ein paar Dialoge im Geschmack des Lukian verfertigen; er schrieb vier recht salzlose Dialoge über die Voraussagen, über den Stein der Weisen, über ein redebegabtes Pferd, über die Hunde Aktäons. Ganz gewiß kommt in diesem ganzen Wust eines geistlosen Schülers kein einziges Wort vor, das zu den Dingen, die wir verehren sollen, im mindesten oder im entferntesten in Beziehung steht.

Man brachte etlichen Doktoren die Überzeugung bei, daß sie mit den Hunden und den Pferden gemeint seien. Was die Pferde anbetraf, so waren sie an diese Ehre nicht gewöhnt. Die Doktoren bellten. Das Werk war alsbald gesucht, es wurde in die Volkssprache übersetzt und gedruckt. Kein Nichtstuer, der nicht Anspielungen darin entdeckte. Und die Doktoren fingen an zu schreien: Ketzer, Ruchloser, Gottloser! Das Büchlein wurde den Behörden vorgelegt; der Buchhändler Morin wurde gefangengesetzt, und der Autor geriet in große Bedrängnis.

Die Ungerechtigkeit der Verfolgung stieg Bonaventure dermaßen zu Kopf, daß er sich im Palast Margaretes mit dem Degen entleibte. Alle Predigerzungen, alle Theologenfedern ergingen sich über dieses unheilvolle Ende. Er hat sich selber beseitigt: also war er schuldig; also glaubte er nicht an Gott; also war sein kleines Buch, das jedoch keiner die Geduld hatte zu lesen, der Katechismus der Atheisten. Jedermann sagte es, jedermann glaubte es. Credidi propter quod locutus sum - ich habe geglaubt, weil ich gesprochen habe: das ist die Devise der Menschen. Man spricht eine Torheit nach, und hat man sie oft genug gesagt, ist man von ihr überzeugt.

Das Buch wurde zur größten Rarität: ein neuer Grund, es für teuflisch zu halten. Sämtliche Verfasser literarischer Anekdoten und Lexika haben nicht versäumt zu behaupten, das Cymbalum mundi sei der Vorläufer Spinozas.

Wir besitzen noch das Werk eines Ratsherrn von Bourges, Catherinot mit Namen, der des Wappens von Bourges*  würdig ist. Dieser große Richter sagt: »Wir haben zwei gottlose Bücher, die ich nie gesehen habe: das eine De tribus Impostoribus, das andere das Cymbalum mundi. Ach, mein Freund, wenn du sie nie gesehen hast, wozu sprichst du von ihnen?«

Der winzigkleine Mersenne, dieser Faktor Descartes', sagt über Bonaventure Despériers: »Ein Ungeheuer ist das und ein Halunke, ein Gottloser vom reinsten Wasser.« Ihr werdet bemerken, daß er sein Buch nicht gelesen hatte. Es waren von ihm in Europa nur noch zwei Exemplare vorhanden, als Prosper Marchand es im Jahre 1711 als Neudruck auflegte. Da zerriß der Schleier. Man zieh es nun nicht mehr der Gottlosigkeit, des ruchlosen Atheismus; man zieh es der Langeweile, und man sprach nicht mehr darüber.

* Ein in einem Sessel sitzender Esel.

 - (vol)

Ketzer (3)  Anders denken, als Sitte ist, — das ist lange nicht so sehr die Wirkung eines besseren Intellektes als die Wirkung starker, böser Neigungen, loslösender, isolierender, trotziger, schadenfroher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei, und gewiß ebensowenig als diese etwas Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen; gemeinsam ist ihnen, daß sie sich auch böse fühlen, daß aber ihre unbezwingliche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend auszulassen.   - (frw)

Dogma

 

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