- Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine
ökonomische Untersuchung der Institutionen. München 1971 (zuerst 1899)
Ritual (2) Als Wildbeuter und Sammler sind die
Aborigines auf das Funktionieren der Naturabläufe wie auch auf den festen sozialen
Zusammenhalt angewiesen. Für beides haben sie ihre beschwörenden Rituale; haben
diese nicht den gewünschten Erfolg, so schreibt man es einem Fehler in der Ausführung
zu. - Nachwort zu: Märchen aus Australien. Traumzeitmythen der Aborigines.
Hg. Anneliese Löffler. München 1992
Ritual (3) Federico befremdeten Leute, die fähig waren, im Sitzen einzuschlafen, er beneidete sie nicht einmal: für ihn setzte das Einschlafen im Zug ein minuziöses Ritual voraus, aber gerade darin bestand das schwierige Vergnügen seiner Reisen.
Als erstes mußte er die gute Hose gegen eine gewöhnliche auswechseln, um
nicht ganz zerknittert anzukommen. Diese Handlung mußte in der Toilette vorgenommen
werden; aber vorher - um mehr Bewegungsfreiheit zu haben - war es besser, die
Schuhe mit den Pantoffeln zu vertauschen. Federico nahm die Alltagshose aus
der Reisetasche, den Beutel mit den Pantoffeln, zog die Schuhe aus und die Pantoffeln
an, verbarg die Schuhe unter dem Sitz, ging zur Toilette, um die Hose zu wechseln.
»Je voyage toujours!« Er kam zurück, brachte die gute Hose so auf dem Gepäcknetz
unter, daß sie die Bügelfalte nicht verlor. »Tralala-la!« Er legte das Kissen
ans obere Ende des Sitzes auf der Seite des Korridors, weil es besser war, durch
das schroffe Geräusch sich öffnender Türen geweckt, als beim Erwachen plötzlich
geblendet zu werden. »Du voyage, je sais tout!« Auf das andere Ende des Sitzes
legte er eine Zeitung, weil er sich nicht unbeschuht, sondern in Pantoffeln
hinlegte. An einem Haken oberhalb des Kissens hängte er die Jacke auf, steckte
Geldbeutel und Brieftasche in die Jackentasche, weil sie ihm im Liegen in der
Hosentasche unbequem gewesen wären. Die Fahrkarte dagegen verwahrte er in dem
Täschchen unter dem Gürtel. »Je sais bien voyager...« Er tauschte den guten
Pullover gegen einen alten aus; das Hemd würde er am nächsten Morgen wechseln.
Der Vertreter, der erwacht war, als Federico ins Abteil zurückkam, verfolgte
sein Herumwirtschaften etwas verständnislos. »Jusqu' à mon amour...« Er legte
die Krawatte ab und hängte sie auf, nahm die Stäbchen aus dem Hemdkragen und
steckte sie in eine Jackentasche, zusammen mit dem Geld... »... j'arrive avec
le train!« Er legte die Hosenträger (wie alle Männer, denen es nicht in erster
Linie um äußere Eleganz geht, trug er Hosenträger) und die Sockenhalter ab,
öffnete den obersten Hosenknopf, damit er ihn nicht auf den Bauch drückte. »Tralala-la!«
Über den Pullover zog er nicht mehr die Jacke, sondern den Überzieher, nachdem
er die Hausschlüssel aus der Tasche genommen hatte,- dagegen behielt er die
kostbare Telefonmünze mit dem gleichen sehnsüchtigen Fetischismus zurück, mit
dem Kinder ihr Lieblingsspielzeug unter das Kopfkissen legen. Den Überzieher
knöpfte er ganz zu, schlug den Kragen hoch; wenn er sich ein wenig in acht nahm,
konnte er darin schlafen, ohne daß eine Falte zurückblieb. »Maintenant voilà!«
Im Zug zu schlafen bedeutete, mit glatten Haaren aufwachen zu müssen, weil man
womöglich am Bahnhof ankam, ohne noch Zeit für einen Strich mit dem Kamm zu
haben; deshalb stülpte er sich eine Baskenmütze auf den Kopf. »Je suis prêt,
alors!« Er schwankte in dem Überzieher durch das Abteil, der ohne die Jacke
wie ein Priestergewand an ihm herabhing, spannte die Vorhänge über die Türe,
indem er sie so weit herunterzog, bis sie mit den ledernen Knopflöchern die
Metallknöpfe erreichten. Er deutete eine Bewegung gegen den Reisegefährten an,
wie um ihn um Erlaubnis zu bitten, das Licht zu löschen: der Vertreter schlief.
Im blauen Halbdunkel der Sicherheitslampe schlich er noch hinüber, um die Fenstervorhänge
zu schließen oder vielmehr halb zu schließen, denn hier ließ er immer einen
Spalt offen: es gefiel ihm, am Morgen durch einen Sonnenstrahl geweckt zu werden.
Noch eine Handlung: die Uhr aufziehen. So, nun konnte er sich hinlegen. Mit
einem Ruck hatte er sich waagrecht auf den Sitz geworfen, in Seitenlage, den
Überzieher glatt, die Beine darin angezogen, die Hände in der Tasche, die Telefonmünze
in der Hand, die Füße - immer in den Pantoffeln - auf der Zeitung, die Nase
im Kissen, die Mütze über den Augen. Nun würde er, mit einem genußvollen Entspannen
seiner ganzen fieberhaften inneren Aktivität, dem kommenden Morgen entgegenschlafen.
-
Italo Calvino, Abenteuer eines Reisenden. München 1988 (dtv 10961)
Ritual (4) Vor mir, auf den morschen Überresten eines riesigen gestürzten Baums, hockten, noch ohne meine Nähe zu ahnen, drei groteske menschliche Gestalten. Eine war offenbar weiblich. Die beiden anderen waren Männer. Sie waren nackt, bis auf scharlachfarbene Tuchbinden um die Mittelpartie, und ihre Haut war von stumpfer, rötlichgrauer Farbe, wie ich sie noch bei keinem Wilden gesehen hatte. Sie hatten volle, grobe Gesichter ohne Kinn, fliehende Stirnen und spärliches, borstiges Haar auf den Köpfen. Nie hatte ich bestialischer aussehende Geschöpfe gesehen.
Sie sprachen, oder wenigstens einer der Männer sprach zu den beiden anderen, und alle drei waren zu vertieft gewesen, um auf das Rascheln zu achten, als ich näher kam. Sie wiegten Kopf und Schultern. Die Worte des Sprechers sprudelten rasch und schlampig hervor, und obgleich ich sie deutlich hören konnte, konnte ich nicht verstehen, was der Mann sagte. Er schien mir ein kompliziertes Rotwelsch zu sprechen. Plötzlich wurde seine Artikulation schriller; er breitete die Hände aus und erhob sich.
Da begannen die anderen im Chor einzufallen, während sie gleichfalls aufstanden,
die Hände ausbreiteten und sich im Rhythmus ihres Singsangs hin und her wiegten.
Mir fiel die abnorme Kürze ihrer Beine und die Schwerfälligkeit ihrer Füße auf.
Alle drei begannen sich langsam im Kreis zu bewegen und mit den Füßen zu stampfen
und die Arme zu schwingen; eine Art Melodie schlich sich in ihre rhythmische
Rezitation, und ein Refrain war herauszuhören - er klang etwa wie »Alula« oder
»Balula«. Ihre Augen begannen zu funkeln, und ihre häßlichen Gesichter erhellten
sich und zeigten den Ausdruck einer unheimlich wirkenden Freude.
Aus ihren lippenlosen Mündern tropfte Speichel. -
H. G. Wells, Die Insel des Dr. Moreau. München 2009 (zuerst 1896)
Ritual (5) Beim Seppuku schnitt sich der im Seiza sitzende Mann nach Entblößung des Oberkörpers mit der in Papier gewickelten und zumeist speziell für diesen Anlass aufbewahrten Klinge eines Wakizashi den Bauch ungefähr sechs Zentimeter unterhalb des Bauchnabels in der Regel von links nach rechts mit einer abschließenden Aufwärtsführung der Klinge auf. Dem Daoismus zufolge liegt hier das sogenannte untere Tanden (chin. Dantian), ein Bereich im Hara (Unterbauch), der in der Traditionellen Chinesischen Medizin als wichtigstes energetisches Zentrum des Menschen angesehen wird, im Zen auch die Hauptflussader des Ki.
Da der Bauchanteil der Aorta (Hauptschlagader) unmittelbar vor der Wirbelsäule liegt, wurde die Ader dabei in der Regel angeschnitten oder ganz durchtrennt, und der sofortige Blutdruckabfall hatte einen Bewusstseinsverlust innerhalb kürzester Zeit zur Folge. Allerdings wurden im Laufe der Zeit auch alternative Schnitte und Ergänzungen eingesetzt. So existieren beispielsweise Beschreibungen eines sogenannten jumonji-giri, einer zeitweise unter den Daimyo bevorzugten Technik, die eigentlich aus zwei Schnitten bestand und durch ihre Kreuzform das Hervortreten der inneren Organe beschleunigte.
Nach Ausführung der Schnitte wurde vor oder nach der Ablage der Klinge von
einem bereitstehenden Assistenten (dem Kaishaku-Nin oder Sekundanten, ebenfalls
ein Samurai, meistens der engste Vertraute) der Hals mit einem Katana oder seltener
mit einem Tachi von der Halswirbelsäule her weitgehend, jedoch nicht vollständig
durchtrennt, um einen schnellen Tod herbeizuführen. Der Sekundant hatte zuvor
außerhalb des Sichtfeldes des Todeskandidaten gestanden und auf den richtigen
Zeitpunkt gewartet. Der erlösende Hieb musste mit absoluter Gewissenhaftigkeit
erfolgen, um das Leiden nicht durch eine verspätete Ausführung unnötig zu verlängern.
Wäre er verfrüht, also vor dem Vorbeugen des Kopfes angesetzt worden, wäre die
Klinge in den Halswirbeln stecken geblieben und hätte neben weiteren Qualen
zusätzliche Hiebe nötig gemacht. Der Sekundant musste ebenfalls darauf achten,
dass der Kopf nicht völlig vom Rumpf getrennt wurde, dieser musste immer noch
durch einen Hautlappen mit dem Körper verbunden sein. Alles andere wäre dem
Kandidaten gegenüber nicht respektvoll gewesen.
-
Wikipedia
Ritual (6) Die Überlieferung will, daß ich die Strecke, die mich von der Kirche trennt, ganz zu Fuß zurücklege; eigentlich müßte ich sagen, daß dies nicht nur ein eigentümlicher Brauch ist, sondern schon ein Teil der Hochzeitszeremonie; also trete ich mit meinem ersten Schritt ein in den hochzeitlichen Ritus. Die Braut wohnt traditionsgemäß in der Nahe der Kirche, und dennoch muß sie die kurze Wegstrecke zurücklegen, ohne dabei je den Boden zu berühren; sie vertraut sich einer Kutsche an, vor die zwei Pferde gespannt sind: ein weißes und ein schwarzes. Die Braut wird also ihre Wohnung erst verlassen, wenn ich schon geraume Zeit unterwegs bin. Trotzdem ist es nicht gesagt, daß sie sich direkt von ihrer Wohnung in den Tempel begeben muß; sie hat das Recht, sich auf Wege zu wagen, die nicht direkt zu ihrem Ziel führen, und sie kann aus dem letzten Vormittag ihrer Mädchenzeit einen langen Ausflug machen, der jedoch immer in der Kirche enden muß, wo unsere getrennten Geschicke sich zu einem einzigen Geschick vereinigen werden.
Ich mache mich auf den Weg, während um mich das Leben der Stadt allmählich
erwacht. Ich schreite langsam aus, denn ich habe noch sehr viel Zeit vor mir,
und ich weiß, die Zeit ist wandelbar und abstrakt, und nie wird jemand das genaue
Maß der Zeit wissen, die zwischen zwei verschiedenen Augenblicken des Rituals
verstreichen soll. - Giorgio Manganelli, Brautpaare.
In: (
irrt
)
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