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(202) Der Sporttaucher und Philosoph Peter Godfrey-Smith
hat in einem sehr lesenswerten Buch ("Other minds") darüber sinniert,
was es für die Selbstwahrnehmung eines Tieres bedeuten mag, dass ein
Drittel des Nervensystems in den Beinen steckt, so dass jedes Bein sogar
eigenständige Entscheidungen treffen kann. Hat so ein Tier ein fest
umrissenes Ich oder fühlt es sich mehr so wie ein Gremium? - Konrad Lehmann, Achtbeinige Genies.
Telepolis
vom 24. März 2019
Ich
(203) Kein Ich ist von einem so vielgehäusigen Karzer
ummauert als das menschliche: denn unsere Spandaus stecken ja ordentlich immer
enger ineinander. Denn mein und dein Ich sitzt nicht sowohl in der Welt gefangen
als auf der Erde-in dieser Kings-Bench hocken wieder die Stadtmauern - in diesen
umfangen uns die vier Pfähle - in den Pfählen der Armsessel oder das Bette -
in diesen das Hemde oder der Rock oder beides - endlich gar der Leib - und am
allergenauesten (und noch dazu nach Sömmering) in den Gehirnhöhlen der Entenpfuhl....
Erschrick über die fatale vielschalige Suite von Korrektionsstuben, die ein
Ich umstellen! - - - Jean
Paul, Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele (1797)
Ich
(204) Ich bin ein Lügner. Ich bin eine gelbe Blume auf
einer großen Wiese. Ich stinke. Gelb, gelb, gelb. Die Andersfarbigen kenne ich
nicht. Nur dies nackte Gelb. Ich werde gemäht, auch wenn ich vorgebe, eine Knospe
zu sein. - Ich hätte einer der Knaben sein können, die einander ermordeten.
Diese Geschichte des Sklaven hat mein Hirn erdacht. Die Entscheide der Edelmütigen
sind meine Dichtung. Sie sind aufgeputzte Lügen, deren Wahrheit meine armseligen
Erlebnisse. Neben mir prangt es nur gelb. Die Gelben verdammen mich nicht. Die
Blauen verdammen mich; die Roten, die Weißen, von denen man sagt, daß sie unschuldig
und fromm seien. Kniee vor dem gelben Gott nieder, der dich gelb gemacht hat!
Ich habe gelogen. Ich habe gelogen. - Hans Henny Jahnn, Perrudja. Frankfurt am Main
1966 (zuerst 1929)
Ich
(205) Ich.
Wer ich?
Ich?
Du?
Sie?
Wenn
ich »ich« schreibe, denken Sie an sich oder an mich?
Jäcki?
Detlev?
-
Waren Sie nun persönlich auch im Waisenhaus?
- Aber Jäcki und Detlev sind
doch zwei Figuren aus Fleisch und Blut?
Gestalten aus Fleisch und Blut. Leichen
aus Fleisch und Blut.
- Finden Sie nicht auch, daß Jäcki und Detlev viele
gemeinsame Züge haben? Ich?
Sie und ich und Detlev und Jäcki und Jäckis Ich
und Detlevs Ich und mein Ich und Ihr Ich.
Ich vergrößere meine Augen mit
Belladonna, verzeichne meine Brauen und die Haut unter den Wimpern zum Tigerlook.
Über Mund und Nase ziehe ich bunte fettige Querstreifen, wie auf dem Reklamefoto
von »etwas Neues bei Christian Dior..«, setze mir eine blonde Perücke auf und
ziehe den PaiHetten-hosenanzug des lesbisch gewordenen operierten Transvestiten
an, stülpe den Federhelm auf mit den Papphörnern, binde mir Flamingoflügel um,
behänge meinen Gürtel mit Entenfüßen und Korallenästen, werfe den Schleier über
und besteige das perlenbestickte Schaukelpferd des Dichters und warte, daß die
Hähne über mir geschlachtet werden und man die Daunen mit dem Blut an meinem
Schleier festklebt und imitiere Detlev, der die Iphigenie auf Tauris imitiert.
-
Und die Erzählerposition?
- Vielleicht hat Detlev zwei Vornamen ?
Zur
Liliencronreminiszenz aus Mimikri ein Hinweis auf das Alte Testament?
- Oder
ist das Ganze nur ein Spiel mit Namen?
Entscheiden Sie sich?
Wollen Sie
Jäcki oder Detlev sein?
- Hahaha, lacht der Damenimitator Cartacalo / la.
-
Jäcki ist eine von Detlevs Imitationen! - Hubert Fichte, Detlevs
Imitationen "Grünspan". Frankfurt am Main 2005 (zuerst 1973)
Ich (206) - Ich träume viel. Ich träume farbig und farblos.
- Ich träume immer verschiedene Sachen. Einmal von einem Zicklein, einmal von einem Schwein, einmal von einem Christen, von einem Toten. Ich kann von einem Gott träumen.
- Ich träume auch von der Zukunft.
- Die Loas und die Zombies schicken die Träume.
- Ich träume auch von sehr hübschen Sachen. Einmal nachts habe ich geträumt, ich sitze auf einem Elefanten. Mehrere Leute halten einen Teppich aus Seide, den sie auf die Erde legen, damit der Elefant darüber geht. Ich sass auf einem Thron und war als Kapitän gekleidet. Als ich ankam, waren drei Bataillone von Musikanten angetreten, die Salut bliesen. Ein Herr kam auf mich zu, der mich nach meinem Alter fragte. Er sagte: Wenn Sie soundso alt sind, werden Sie viel Geld besitzen. - Aber ich bin schon so alt geworden und habe das Geld immer noch nicht.
- Ich träume auch erotische Sachen. Vor zwei Tagen habe ich geträumt, dass ich mit einem Madchen schlafe. Dann habe ich geträumt, dass ich mit Ihnen schlafe. Ich war der Mann - ich weiss es nicht genau.
- Ich schlafe drei Stunden am Tag. Dann schlafe ich von sechs Uhr abends bis Mitternacht und nach zwei Stunden schlafe ich weiter bis sechs Uhr morgens.
- Meine Gesundheit ist gut. Aber ich habe mehrere schwere Krankheiten gehabt in meinem Leben. Meine Mutter war da. Ich wurde verrückt, aber nur, weil ich ein Diener Gottes werden sollte. Ich war dick. Nach der Krankheit wurde ich ein knochiger Mann.
- Ich esse dreimal täglich. Aber ich habe keinen Appetit. Ich esse gerne Bouillon, Consommö.
- Ich esse jeden Tag Reis, Bananen, Fleisch, Kohl.
- Ich liebe schöne Kleidung. Ich habe gerne Gelb, Braun, Aprikosenfarben, Blau, Weiss.
- Ich wohne in einem kleinen Haus mit zwei Zimmern.
- Ich besitze vier Häuser hier in Leogane.
- Ich besitze sieben Äcker, die ich selbst bearbeite.
- Alte Leute habe ich gern, es sind gute Freunde. Sie kennen die Ursachen von allem.
- Ich mag auch die kleinen Kinder gern.
- Parfüms habe ich sehr gerne. Eau de Cologne, Gloire de Paris.
- Ich gehe vier-, fünf-, sechsmal im Monat ins Kino. In Leogane und in Port-au-Prince. Ich sehe am liebsten Cowboyfilme, Kriegsfilme und Liebesfilme. Ich habe kein Fernsehen.
-Ich lese Illustrierte. Ich habe auch die Bibel gelesen und Bücher über Magie, den Grossen Grimois und den Grossen Albert.
- Ich liebe alles. Ich kann nicht sagen, was ich am liebsten habe -vielleicht das Kino und den Vaudou.
- Und auch die Liebe.
- Ich habe vor nichts Furcht. Vor nichts. Denn ich bin ein unbeugsamer Mann.
Ich brauche keinen Pass für die Toten. - (xan)
Ich (207)
Ich (208)
GLOSTER Nun ward der Winter unsers Mißvergnügens Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks; Die Wolken all, die unser Haus bedräut, Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben. Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze, Die schartgen Waffen hängen als Trophän; Aus rauhem Feldlärm wurden muntre Feste, Aus furchtbarn Märschen holde Tanzmusiken. Der grimmge Krieg hat seine Stirn entrunzelt, Und statt zu reiten das geharnschte Roß, Um drohnder Gegner Seelen zu erschrecken, Hüpft er behend in einer Dame Zimmer Nach lockendem Gefallen einer Laute. Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht, Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln, Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajestät, Vor leicht sich drehnden Nymphen mich zu brüsten, Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt, Von der Natur um Bildung falsch betrogen, Entstellt und roh geformt, weil vor der Zeit In diese Atemwelt gesandt, halb fertig Gemacht kaum, und so lahm und ungeziemend Daß Hunde bellen, hink ich wo vorbei, Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit, Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben, Als meinen Schatten in der Sonne spähn Und meine eigne Mißgestalt erörtern; Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter Kann kürzen diese fein beredten Tage, Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu sein Und feind den eitlen Freuden dieser Tage. Anschläge macht ich, schlimme Einleitungen, Dutch trunkne Weissagungen, Schriften, Träume, Um meinen Bruder Clarence und den König In Todfeindschaft einander zu verhetzen. Und ist nur König Eduard treu und echt, Wie ich verschmitzt, falsch und verräterisch, So wird in strenge Haft gesetzt heut Clarence Für eine Weissagung, die sagt, daß G Den Erben Eduards nach dem Leben steh. Taucht unter, ihr Gedanken! Clarence kommt. |
- Shakespeare, Richard III.
Ich
(209)
Ich
(210)
Ihr Lieben Lieben!
[...] Ach Ihr Lieben! daß unsere Wege uns zusammen-
führten. Darf ich da über mein Schicksal klagen! Nie
und nimmer. Die Kurven laufen ineinander. Ich fühle
mich eins mit Dir Herwarth, mit euch beiden. Es ist
manchmal mir, wir wären ein ungeteiltes. Entfernung ist
Null. So fühle ich manchmal die Welt als ich. Das ganze
all! So fühle ich Euch! Und das sind Augenblicke wun-
derbarer Berauschung. Nicht Berauschung. Die Sprache
hat kein Wort dafür. Sie ist Verstand und ich bin
Gefühl. Nichts als Gefühl in solchen Momenten. Und
doch bin ich stark, roh bewußt. Und doch bin ich
schwach unendlich schwach und unbewußt. Ich weiß
nicht was ich bin. Dir schicke ich mal das Drama Blu-
ten. Aber nur Dir! Euch! Zeige es keinem anderen,
keinem. Es gehört nur uns. Mir. Dir Du uns. Und nun
arme ich Euch. Ich könnte Stunden reden! immer mit
Euch. Mit uns. Aber das Papier ist alle! So kommt im-
mer wieder das außer uns. [...] Ach Kinder ich bin froh
heute! glücklich! Schüttele mich! glücklich! Allmächtiges
Nichts! Und lache über alles, was ist. Euer
Du! ich! uns!
ich fühle mich unendlich wohl! Ja! Herwarth! Nell! Euer
August Stramm
- Brief vom 23. Februar 1915 an Nell und Herwarth Walden, nach: August Stramm Lesebuch, Hg. Wolfgang Delseit. Köln 2007
Ich
(211)
Ich
Du steht! Du steht! Und ich Und ich Ich winge Raumlos zeitlos wäglos! Du steht! Du steht! Und Rasen bäret mich Ich Bär mich selber! Du! Du! Du bannt die Zeit Du bogt der Kreis Du seelt der Geist Du blickt der Blick Du Kreist die Welt Die Welt Die Welt! Ich Kreis das All! Und du Und du Du Stehst Das Ich Das Ich! |
- August Stramm, nach: August Stramm Lesebuch, Hg. Wolfgang Delseit. Köln 2007
Ich
(212) Wie die Wahrnehmung der Welt gleichsam getaktet ist, erscheint auch das «Ich» erst in der Zeit: Moment für Moment wird der Historie des Subjektiven hinzugefügt, Identität
entsteht aus der immer wieder erzählten und mit jedem Moment
korrigierten Autobiographie. «Der Zeittakt ist das Baumaterial bewußter
Tätigkeit», schreibt Ernst Pöppel. - (kopf)
Ich
(213) Auf die Zeit, auf ein ewiges Ich in
uns, auf ein ewiges Du über uns müssen wir hoffen ... so sei uns die
Vernunft oder das lidite Ich keine selbstschaffende ziehende Sonne,
sondern nur eine lichte Ritze und Fuge am irdischen Klostergewölbe,
durch welche der ferne ausgebreitete Feuerhimmel in einem sanften und
vollendeten Kreise bricht und brennt. - Jean Paul, Das Kampaner Tal
Ich (214)
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