Ich (157)  Das war der beeindruckendste Moment. Ein Teilnehmer kommt etwas zu spät. Wir trinken gerade etwas und stellen uns gegenseitig vor. Calvin sagt: "Okay, du warst zu spät, du fängst an mit der Vorstellungsrunde." Und so – anstatt sich mit einer kurzen Rede vorzustellen, wer er ist, öffnet der Typ einfach seinen Laptop und zeigt uns eine geniale Visualisierung jeder Minute seiner Zeit – über einen Zeitraum von – ich glaube, einem Jahr. Dann sagt er: "Okay, das ist, wer ich bin!" Das war viel interessanter, als irgendwas in einem Blog über sich zu schreiben. Momentan haben wir [die "Bewegung" des "Quantified Self"] bereits 70 Gruppen in 15 Ländern. - Youtube-Video der Wired Health Conference Qualified Self,  nach: Telepolis (Christopher Stark) vom 26.03.2014

Ich (158)

Ich (159)

Ich (160)  Das Heiligste vom Heiligen ist mir der menschliche Körper, die Gesundheit, der Verstand, das Talent, die Eingebung, die Liebe und die absolute Freiheit - die Freiheit von Macht und Lüge ... Ich bin weder Liberaler, noch Konservativer, noch Fortschrittlcr, noch Mönch, noch Indifferentist. Ich hasse die Lüge, den Zwang in allen seinen Formen, und mir sind sowohl die Konsistoriumssekretäre, als auch Notowitsch und Gradowskij gleichermaßen zuwider... Pharisäertum, Stumpfsinn und Willkür herrschen nicht nur in Kaufmannshäusern und Arrestlokalen; ich sehe sie in der Wissenschaft, in der Literatur, unter der Jugend.  - Anton Tschechow, nach (tsch)

Ich (161)  

Ich (162)  Da sollten am Ende gar die Thiere sich nicht von der Außenwelt zu unterscheiden wissen und kein Bewußtseyn Ihrer selbst, kein Ich haben! Gegen solche abgeschmackte Behauptungen darf man nur auf den jedem Thiere, selbst dem kleinsten und letzten, inwohnenden gränzenlosen Egoismus hindeuten, der hinlänglich bezeugt, wie sehr die Thiere sich ihres Ichs, der Welt oder dem Nicht-Ich gegenüber, bewußt sind. Wenn so ein Cartesianer sich zwischen den Klauen eines Tigers befände, würde er auf das deutlichste inne werden, welchen scharfen Unterschied ein solcher zwischen seinem Ich und Nicht-Ich setzt. - Schopenhauer, Preisschrift Über die Grundlage der Moral

Ich (163)  Erstens: Die Welt ist wunderbar. Alles ist an seinem Platz; alles ist von göttlicher Ordnung und mehrdeutig in einem bestimmten geheimnisvollen Sinn, den ich mit dem sechsunddreißigsten Sinn erfassen, aber nicht in Worte kleiden kann.

Zweitens: Ich bin klüger, schlauer, wißbegieriger, schöner und starker als alle anderen.

Drittens: Der Eindruck, den ich hinterlasse, ist unvergleichlich tief. Ich versetze die anderen in Entzücken und unterwerfe sie. Jede meiner Gesten, der unbedeutendste Bück, sogar mein Atem hüllt die Anwesenden in einen Zaubernebel verliebter Anbetung; sie können ihre Blicke nicht von meinem Antlitz lösen; sie vernichten sich und gehen in meiner Persönlichkeit auf; sie bedeuten mir — nichts, ich aber bedeute ihnen - alles.

Viertens: Ich bin der Herrscher, Imperator eines unbekannten Landes, Prophet oder furchtbarer Tyrann. Unzählige Gefahren drohen mir, Mörder schleichen mir nach; ich lebe in einem Palais von märchenhafter Schönheit und benutze die Geheimgänge. Ich werde von allen Schönen dieser Welt geliebt.

Fünftens: Man hat mir ein Denkmal gesetzt, und das Denkmal ist mein Ich, und ich — bin das Denkmal. Mein Lebensgefühl erlaubt mir nicht, munter auf dem Piedestal zu stehen, und das Gefühl, ich sei ein steinernes Standbild, zwingt mich zum Gehen.  - Alexander Grin, Das Seil. In: Phantastische Zeiten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1922. Phantastische Bibliothek 185)

 Ich (164)  

 Ich (165)  Ich weiß nicht wo ich geboren wurde, außer daß das Schloß unendlich alt und unendlich grauenvoll war, voll dunkler Gänge mit hohen Decken, an denen das Auge nur Spinnenweben und Schatten wahrnehmen konnte. Die Steine in den verfallenden Korridoren schienen immer schrecklich feucht, und überall war ein widerwärtiger Geruch wie von den übereinander gestapelten Leichen toter Generationen. Nie war es hell, so daß ich manchmal Kerzen anzündete und sie still betrachtete, um mich zu trösten; auch schien draußen nie die Sonne, denn die schrecklichen Bäume wuchsen weit über den höchsten zugänglichen Turm hinaus. Es gab einen einzigen schwarzen Turm, der über die Bäume hinaus in den unbekannten äußeren Himmel ragte, aber dieser war teilweise eine Ruine und man konnte ihn nicht ersteigen, es sei denn, man hätte das schier unmögliche vollbracht, Stein für Stein die senkrechten Wände emporzuklimmen.

Ich muß Jahre an diesem Ort verbracht haben, aber ich habe kein Maß für die Zeit. Irgendwelche Wesen müssen mich versorgt haben, doch ich kann mich an keine Person außer mich selbst erinnern, noch an irgend etwas Lebendiges außer den lautlosen Ratten und Fledermäusen und Spinnen. Wer immer mich aufgezogen hat, muß, so glaube ich, entsetzlich alt gewesen sein, denn mein erster Eindruck von einer lebenden Person war der von einer Gestalt, die auf beunruhigende Weise wie ich selbst war, jedoch verzerrt, verschrumpelt und hinfällig wie das Schloß. Für mich war nichts Groteskes an den Gebeinen und Skeletten, die in einigen der steinernen Krypten tief unten zwischen den Grundmauern herumlagen. Ich brachte diese Dinge auf phantastische Weise mit alltäglichen Ereignissen in Verbindung, und sie kamen mir natürlicher vor als die kolorierten Bilder lebender Wesen, die ich in vielen der schimmeligen Bücher fand. Aus diesen Büchern lernte ich alles, was ich weiß. Kein Lehrer mahnte mich oder leitete mich an, und ich kann mich nicht entsinnen, in all den Jahren eine menschliche Stimme gehört zu haben - nicht einmal meine eigene; denn obwohl ich oft von der Sprache gelesen hatte, war es mir nie in den Sinn gekommen, laut zu sprechen. Über mein Aussehen dachte ich ebensowenig nach, denn es gab keinen Spiegel in dem Schloß.  - H. P. Lovecraft, Der Außenseiter. In: H. P. L., Das Ding auf der Schwelle. Frankfurt am Main 1976 (st 357)

 Ich (166)  

Ich (167)  

In der Sonne auf meinem Bett nach dem Wasser —
In der Sonne und im riesigen Widerschein der Sonne auf dem Meer,
Unter meinem Fenster
Und im Widerschein und im Widerschein des Widerscheins
Der Sonne und der Sonnen auf dem Meer
In den Spiegeln
Nach dem Bad, dem Kaffee, den Ideen,
Nackt in der Sonne auf meinem ganz hell erleuchteten Bett
Nackt — allein — toll —
Ich!

- (pval2)

Ich (168)  Als ich jung war, habe ich Herkules in der Tasche meines Matrosenanzugs versteckt, als ich alt war, habe ich ihm die Freiheit wieder geschenkt, wobei ich sein Lösegeld mit Flachwürfen an meinem Grabstein befestigte. Er lachte unter meinem Gähnen, ein Efeulachen. Später, als ich weitergekommen war, ließ ich Myriaden von Kröteneiern sprießen, Kreuzungsprodukt des Kreuzwegs von Känguruhsternen in Napoleons Schubladenhut aus meiner Kommode mit blattlosen Kleeblattfüßen. Meine Urenkelin ist Cléo de Merode, meine Urgroßmutter, die rittlings auf leisem Rücken mit Karl dem Kühnen reist. Ich habe milliardenfach das große Los beim Roulette gewonnen: ich spielte die neun Monate des Jahres. Im Triumph hat man mich aus allen Fechtsälen vertrieben, weil ich nur Honig schlecken wollte. Das war der Tag, an dem ich die sieben Mysterien der Schöpfung begriff. Cléo de Merode vertrieb sich die Zeit mit dem Versuch, den lupenreinen Teil meiner Einkünfte unter den Tischfuß zu schieben. Ich habe Cléo de Merode in die Fassung meines Ringes gesteckt. Sie ist ruhig, sie erweckt die Toten. Ich sterilisiere alle gegebenen Größen. Der Embryo behält die Form einer Klempnerzange, der Spitzkopf hat keinen Dickkopf mehr. Ich habe Verordnungen für das Schuldgefängnis erlassen. Um hineinzukommen, muß man weiße Pfoten vorzeigen und die Wärter bestechen. Das Dach des Gefängnisses trägt an Festtagen republikanische Wappnungen. Die Herrschaft der Unnützen ist vorbei. Sie wollten mir einen falschen Bart ansetzen und mich die Leichenrolle eines Kammerherrn spielen lassen. Sie drohten mir an, mich mit König August in Fehde zu bringen, aber ich knirschte mit den Zähnen und sagte ihnen, achtundvierzig noch mal, wenn Sie nicht meine Hand loslassen, werde ich nicht mehr in den Mühlkasten gehen, um Ihnen Feuer zu machen. Ich schrieb gut, in englischer Kursiv, auf meinen Koffer, steckte den Kopf hinein und ließ mich aufgeben. Man hat mich in den Güterwagen zu den Löwen gelegt, aber sobald sie mich erkannten, hatten sie nur noch eine Margeritenmähne. Im Laufe der Reise ließ ich in das freigebliebene Weiße der Viel-Karte tausend Löwen lochen. Danach sprang ich aus dem Zug, der sich um sich selbst geknotet hatte. Ich war angekommen.

Ich habe das Publikum skalpiert. Ich habe zu Weihnachten meine Rute in alle Schornsteine gesteckt.

Ich genieße das Vertrauen der Eifersüchtigen, ich bin ihr Ratgeber für ihre Verbrechen aus Leidenschaft. Mit Recht verstopft man die Glocken mit den Zöpfen der waschechten Französinnen, die nur noch ihren Spiegelschrank im Rücken haben. Ich sehe mich drin, ich schaukle mich drin, und was kommt dabei heraus? Daß man mich linkischer Pirouetten verdächtigt auf dem Schoß eines netten alten Herrn. Wölfinnen-Arenen und ßleigrau, ich habe alles gesehen. Man muß mit den Wölfen darüber lachen.

Ich glaube an die Philatelie. Ich trage das Wappen von Poitiers als Tätowierung auf der linken Seite meines Arms unter einer Wolldecke, und das Wort genau verlängert künstlich jedes Haar meines oberen Augenlides, indes sich auf meinen beiden Wangen in makabrem Rosa der erste Buchstabe von Ja rundet. Die Philatelie ist vor dem Menschen aufgekommen, zu Beginn der Tertiärzeit. Die Pterodaktylen springen in diesem Augenblick von einer Seite meines Tintenfasses zur anderen. Die Hochzeitsbilder sind nicht obszön genug: der Priester müßte eine Kaulquappe auf seinem Meßgewand tragen. Die aufgeblasene Gummierung der gezähnten Ballonpost-Briefmarken belagert immer noch unsere schöne Stadt. Es fehlt an frischem Gemüse für die Missionare, denn die Menschenfresserei ist ansteckend, und der Verdacht fällt nur auf die Wilden. Ein Vatermörder in Afrika hat sich das Auge in Muschelform ausgehöhlt. Die Figuren des Metzelspiels sind zehntausend flinke Finger.

Ich habe einen Jazz im Daumen, abwechselnd mit einem chinesischen Musiker, der Fingernagel spielt. Ich hänge an einem Kirschenzwilling über dem Ohr. Ich habe alle Moden vergangener Zeiten lanciert: den Sporenrock, die Quellenschleppe, den Reichsapfel in der Hand der Kinder, die am Daumen lutschen. Ich habe alle Gerichte gekostet, die man noch nicht zu servieren gewagt hat. Die Schläfer haben nicht denselben Geruch wie die Wachen: wenn man sie plötzlich aufweckt, riecht es nach Alpenveilchen im Zimmer. Ich habe die Fathmahand auf den Zwillingen und einen faul gewordenen Fuß in der Waage. Die Unermeßlichkeit meiner Natur liegt zwischen zwei Stichen von Wespen, die vor denselben Zirkel gespannt sind, dessen Schnabel nach Futter schreit. Ist's auf der Lippe, gibt's einen Kuß: ist's auf dem Hintern, gibt's Tibet.

Ich bin der Großvater, der Vater, der Schwiegervater, der Bruder, der Schwager, der Onkel, der Schwiegersohn, die Schwiegertochter, der Vetter, der Pate und der Priester des jetzigen Papstes, der nur ein vermummter Spion ist, ein falscher Fuffziger im Dienst der Erzherzöge von Thule. Man wird ihn erst entlarven können, wenn man der Menge den Partherpfeil in seiner Schulter zeigt. So halten die Halunken zusammen, ehebrecherische Früchte von Gesinde und Matratze.   - André Breton / Paul Éluard, Die unbefleckte Empfängnis. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1930)

Ich (169)  Zum Glück gibt es persönliche Fürwörter. Weil es aber viel zu wenig persönliche Fürwörter gibt, geizen wir im Gebrauch, haben für einen Menschen meistens nur eins übrig. Sogar das auftrumpfende Ich bringt es nicht über sich, mit sich selbst auch einmal im Ernstfall per Du zu sein. Ist man etwa kein Fürwörterparlament? Anselm, so heißt das Parlamentsgebäude, darin tagen die Erste Person, die Zweite Person, die Dritte Person. Welche Person in der Einzahl, welche in der Mehrzahl auftritt, ist von Mal zu Mal verschieden. Um Anselm überhaupt als einen Verkehrswert anbieten zu können, habe ICH (!) seine Erste Person oft an den verheirateten, berufstätigen, heldenmäßig häufig vorkommenden Zeitgenossen vergeben, habe seine Zweite Person an den erwartungssüchtigen Einhornsklaven gebunden und eine Dritte Person beauftragt über Anselm Eins und Zwei zu wachen und dann und wann Buch zu führen über das, was sie treiben. Aber es gibt noch eine Vierte Person, die man wegen ihrer Schlichtungssucht, Ängstlichkeit etc. fast eine weibliche nennen muß. Und die Dritte Person hat eine Spielart, die als Fünfte auftritt, als Unpersönlichkeit, eine innige Kapazität für Entfernung. Eine Sechste: speziell für Verrat. Und so weiter. Es wird auch nicht alle vier Jahre, sondern zirka hundertmal pro Tag gewählt. Nein, nicht gewählt. Zirka hundertmal ermittelt der Datenverarbeiter, wie es gerade steht. Was da überblitzschnell zur Koalition gerinnt, was da als Junta auftritt, wie da befohlen, widerrufen, geschworen, dementiert, gehaßt und resigniert wird, das ist zum Glück niemals ans Tageslicht zu bringen. Was in Anselms Erscheinung durch Erröten, Erblassen, Schweißausbruch,  Adernschwellung,  Ekzem,   Schrei,  Blickstarre, Schmelzblick, Schafshaftigkeit, Übermut, Untermut, Strichmund, Schläfengrau, Schmiegsamkeit, Nervengelächter, Demutsknick ... noch sichtbar wird, ist nur noch das schon verlöschende Abbild des Anlasses, hat bloß noch Kommunique-Charakter.

Das kann heißen: es gibt Entschiedenere als Mich-Anselm.   - Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main 1966

Ich (170)   Nicht umsonst brauche das Kind Jahre, um eine Bildergalerie eingetrichtert zu bekommen. Tausende von Wochen seien nötig, das Kind soweit zu bringen, daß es nicht mehr bilderlos denken könne und eine Bildergalerie herangebildet habe, die es dann selbst als Ich bezeichne. Erschreckend sei der Moment, in dem ein Kind zum ersten Mal auf sich deute und Ich sage, und wenn Eltern diesen Moment auch beklatschten, so komme es ihm so vor, als zeige das Kind, indem es Ich sage und auf sich deute, in Wirklichkeit zum ersten Mal auf etwas anderes. Das Kind deute auf etwas Fremdes. Nach Jahren und Tausenden von Wochen sei es sich endlich fremd geworden und könne dieses Fremde mit dem allgemein verbreiteten Begriff für das Fremde, nämlich Ich, bezeichnen, was die Eltern entsprechend belohnten. Nun sei das Kind endlich Teil der entfremdeten Kultur des Bildabgleichens. Jetzt sei es endlich soweit, mit einem Fähnchen in der Hand dem Papst zuzujubeln, denn der Papst sei der Prototyp eines Menschen, der schon zu Lebzeiten zum Bild geworden sei und seit Jahrzehnten den Moment verkörpere, in welchem der Heilige und Märtyrer von den Löwen zerrissen werde.  - (rev)

Ich (171)   Die meisten Hirnforscher glauben, im Bewußtsein das Sinnesorgan der Zeit gefunden zu haben. Es registriert und speichert Ereignisse, analysiert ihren Ablauf und gibt ihnen ihre Reihenfolge. Zeit entsteht erst im bewußten Erleben. Wem das zu zeitgeistig erscheint, der kann das Zeit-Hirn-Problem auch als Hirn-Zeit-Problem angehen. Denn wie die Wahrnehmung der Welt gleichsam getaktet ist, erscheint auch das «Ich» erst in der Zeit: Moment für Moment wird der Historie des Subjektiven hinzugefügt, Identität entsteht aus der immer wieder erzählten und mit jedem Moment korrigierten Autobiographie. «Der Zeittakt ist das Baumaterial bewußter Tätigkeit», schreibt Ernst Pöppel.   - (kopf)

Ich (172)  Eines schien uns immerhin sicher: unsere eigene Person, jenes «Ich», das all die Eindrücke der Welt bündelt und ihnen dadurch erst Sinn und Bedeutung verleiht. Diese Gewißheit, die für Descartes noch das unumstößliche Fundament des Denkens war, prägt schließlich die abendländische Philosophie bis heute.

Doch eben dieses «Ich» hält Thomas Metzinger für pure Erfindung. «Das Gehirn hat sie sich im Laufe der Evolution geschaffen, um sich in der Welt besser orientieren zu können», behaup­tet er. Denn wenn man ein gutes Bild von sich selber habe, von seinem Körper, seiner Lebensgeschichte, seinen genetischen und kulturellen Voraussetzungen, und diese Elemente zu einem «Ich» zusammenfasse, dann könne man sich leichter in der Umwelt zurechtfinden, Pläne schmieden und Entscheidungen treffen. «Ein solches Bild schafft also einen evolutionären Vorteil. Doch dahinter steckt höchstwahrscheinlich keine metaphysische Instanz oder gar eine unsterbliche Seele, wie viele glauben», sagt Metzinger. - (kopf)

Ich (173)  Noradrenalin löst das «fight/ flight/ fright syndrome» aus. So nennen die Forscher eine eigentümliche Mischung aus Kampfbereitschaft, Fluchtreflex und Furcht. Die noradrenergen Systeme im Gehirn beschränken sich auf ein paar kleine Ansammlungen im Hirnstamm. Auffallend unter den noradrenergen Systemen ist wie schon bei der Lokalisierung von Endorphinrezeptoren der Locus coeruleus. Hier sind die Zellkörper der meisten noradrenergen Neuronen lokalisiert. Obwohl die winzige Struktur im Hirnstamm beim Menschen kaum mehr als dreitausend Nervenzellen enthält, stehen diese Zellen vermutlich mit einem Drittel, vielleicht auch der Hälfte aller Hirnneuronen in Verbindung. So sehen manche Forscher im Locus coeruleus gar den Kern des Ich.   - (kopf)

Ich (174) Auf alles, was der Mensch vornimmt, muß er seine ungetheilte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten, sagte endlich der Eine, und wenn er dieses gethan hat, so entstehn bald Gedanken, oderl eine neue Art von Wahrnehmungen, die nichts als zarte Bewegungen eines färbenden oder klappernden Stifts, oder wunderliche Zusammenziehungen und Figurationen einer elastischen Flüssigkeit zu seyn scheinen, auf eine wunderbare Weise in ihm. Sie verbreiten sich von dem Punkte, wo er den Eindruck fest stach, nach allen Seiten mit lebendiger Beweglichkeit, und nehmen sein Ich mit fort. Er kann dieses Spie! oft gleich wieder vernichten, indem er seine Aufmerksamkeit wieder theilt oder nach Willkühr herumschweifen läßt, denn sie scheinen nichts als Strahlen und Wirkungen, die jenes Ich nach allen Seiten zu in jenem elastischen Medium erregt, oder seine Brechungen in demselben, oder überhaupt ein seltsames Spiel der Wellen dieses Meers mit der starren Aufmerksamkeit zu seyn. Höchst merkwürdig ist es, daß der Mensch erst in diesem Spiele seine Eigenthümhchkeit, seine specifische Freiheit recht gewahr wird, und daß es ihm vorkommt, als erwache er aus einem tiefen Schlafe, als sey er nun erst in der Weit zu Hause, und verbreite jetzt erst das Licht des Tages sich über seine innere Welt. Er glaubt es arn höchsten gebracht zu haben, wenn er, ohne jenes Spiel zu stören, zugleich die gewöhnlichen Geschäfte der Sinne vornehmen, und empfinden und denken zugleich kann. Dadurch gewinnen beide Wahrnehmungen: die Außenwelt wird durchsichtig, und die Innenwelt mannichfaltig und bedeutungsvoll, und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwey Welten in der vollkommensten Freiheit und dem freudigsten Machtgefühl. Es ist natürlich, daß der Mensch diesen Zustand zu verewigen und ihn über die ganze Summe seiner Eindrücke zu verbreiten sucht; daß er nicht müde wird, diese Associationen beider Welten zu verfolgen, und ihren Gesetzen und ihren Syrnpathieen und Antipathieen nachzuspüren. Den Inbegriff dessen, was uns rührt, nennt man die Natur, und also steht die Natur in einer unmittelbaren Beziehung auf die Gliedmaßen unsers Körpers, die wir Sinne nennen. Unbekannte und geheim -nißvolle Beziehungen unsers Körpers lassen unbekannte und geheimniß volle Verhältnisse der Natur vermuthen, und so ist die Natur jene wunderbare Gemeinschaft, in die unser Körper uns einführt, und die wir nach dem Maaße seiner Einrichtungen und Fähigkeiten kennen lernen. Es fragt sich, ob wir die Natur der Naturen durch diese specielle Natur wahrhaft begreifen lernen können, und in wiefern unsre Gedanken und die Intensität unsrer Aufmerksamkeit durch dieselbe bestimmt werden, oder sie bestimmen, und dadurch von der Natur losreißen und vielleicht ihre zarte Nachgiebigkeit verderben. Man sieht wohl, daß diese innern Verhältnisse und Einrichtungen unsers Körpers vor allen Dingen erforscht werden müssen, ehe wir diese Frage zu beantworten und in die Natur der Dinge zu dringen hoffen können. Es ließe sich jedoch auch denken, daß wir überhaupt erst uns mannichfach im Denken müßten geübt haben, ehe wir uns an dem innern Zusammenhang unsers Körpers versuchen und seinen Verstand zum Verständniß der Natur gebrauchen könnten, und da wäre freylich nichts natürlicher, als alle mögliche Bewegungen des Denkens hervorzubringen und eine Fertigkeit in diesem Geschäft, so wie eine Leichtigkeit zu erwerben, von Einer zur Andern überzugehen und sie mannichfach zu verbinden und zu zerlegen. Zu dem Ende müßte man alle Eindrücke aufmerksam betrachten, das dadurch entstehende Gedankenspiel ebenfalls genau bemerken, und sollten dadurch abermals neue Gedanken entstehn, auch diesen zusehn, um so allmählich ihren Mechanismus zu erfahren und durch eine oftmalige Wiederholung die mit jedem Eindruck beständig verbundnen Bewegungen von den übrigen unterscheiden und behalten zu lernen. Hätte man dann nur erst einige Bewegungen, als Buchstaben der Natur, herausgebracht, so würde das Dechiffriren immer leichter von statten gehn, und die Macht über die Gedankenerzeugung und Bewegung den Beobachter in Stand setzen, auch ohne vorhergegangenen wirklichen Eindruck, Naturgedanken hervorzubringen und Naturcompositionen zu entwerfen, und dann wäre der Endzweck erreicht.  - Novalis, Die Lehrlinge zu Sais

Ich (175)  Der Pantheismus hat einen Typus von Sätzen in Umlauf gebracht, in denen erklärt wird, daß Gott viele einander widersprechende oder (besser noch) vermischte Dinge zugleich ist. Seine Urform lautet: »Ich bin der Ritus, ich bin das Opfer, ich bin die Buttergabe, ich bin das Feuer« (Bhagavadgita, IX, 16). Zeitlich früher, aber doppeldeutig, ist das Fragment 67 von Heraklit: »Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger.« Plotin schildert seinen Schülern einen unfaßbaren Himmel, in dem »alles allenthalben ist, jedes Ding alle Dinge ist, die Sonne alle Sterne ist, und jeder Stern alle Sterne und die Sonne ist« (Enneaden, V. 8, 4). Attar, ein Perser des 12. Jahrhunderts, besingt den mühsamen Wanderzug der Vögel auf der Suche nach ihrem König, dem Simurg; viele gehen in den Meeren zugrunde, die Überlebenden aber entdecken, daß sie der Simurg sind, und daß der Simurg jeder von ihnen und sie alle sind. Rhetorisch läßt sich das Identitätsprinzip anscheinend endlos erweitern. Emerson, ein Leser der Hindus und Attars, hinterläßt das Gedicht Brahma; von den sechzehn Versen, aus denen es besteht, ist folgender wohl der bedeutendste: » When me they fly,'! am the wings« (Wenn sie mich fliehen, bin ich die Flügel). Ähnlich, aber elementarer ist das »Ich bin der Eine und bin Beide« von Stefan George (Der Stern des Bundes). Walt Whitman erneuerte dieses Verfahren. Er wendete es nicht wie die anderen an, um die Gottheit zu bestimmen oder um mit den »Sympathien und Differenzen« der Wörter zu spielen; er wollte sich mit einer Art grimmiger Zärtlichkeit allen Menschen gleichsetzen (Crossing Brooklyn Ferry, 6):

Ich war wetterwendisch, eitel, habgierig, seicht, heimtückisch,
feige, boshaft, der Wolf, die Schlange, das Schwein fehlten nicht in mir.

Oder auch (Song ofMyself, 33):

Ich bin der Mann. Ich litt. Ich war dabei.
Die Verachtung und die Seelenruhe der Märtyrer;
die Mutter, verurteilt als Hexe, verbrannt
mit dürrem Holz, ihre Kinder sahen zu, der gehetzte Sklave, der taumelt, am Zaun lehnt,
keuchend, mit Schweiß bedeckt, die Spitzen, die wie Nadeln seine Beine stechen, seinen
Nacken, die tödlichen Rehposten und Kugeln: alle diese fühle ich oder bin ich.

Whitman fühlte und war dies alles, aber von Grund aus -nicht in der simplen Historie, sondern im Mythos - war er das, was diese beiden Verse bekunden (Song of Myself, 24):

Walt Whitman, ein Kosmos, der Sohn von Manhattan,
unbändig, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend.

Er war auch der, der in der Zukunft sein würde, in unserer künftigen Sehnsucht, erschaffen von diesen Prophezeiungen, die sie ankündigten (Full of Live, Now):

Voll Leben, jetzt gedrungen, sichtbar,
ich, vierzig Jahre alt im Jahr dreiundachtzig der Staaten,
an dich, in einem Jahrhundert oder zahllosen Jahrhunderten,
an dich, noch ungeboren, wende ich mich suchend.

Du liest mich. Heute bin ich der Unsichtbare,
nun bist du, gedrungen, sichtbar, meine Gedichte erlebend, auf der Suche nach mir,
stellst dir vor, wie glücklich du wärest, wenn ich dein Kamerad sein könnte.
Sei es so, als wäre ich bei dir. (Sei nicht zu sicher, daß ich jetzt nicht bei dir bin.)

 - Jorge Luis Borges, Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991

Ich (176)  „Mein liebes Kind", begann der Goldschmied lächelnd, „sehr schwer wird es mir zu sagen, wer ich eigentlich bin. Mir geht es so wie vielen, die weit besser wissen, wofür sie die Leute halten, als was sie eigentlich sind! - Erfahre also, mein liebes Kind, daß manche mich für niemand anders halten, als für jenen Goldschmied Leonhard Turnhäuser, der in den fünfzehnhundertundachtziger Jahren am Hofe des Kurfürsten Johann George ein solch großem Ansehen stand, und der, als Neid und Bosheit ihn zu verderben trachteten, verschwunden war, man wußte nicht wie und wohin. Geben mich nun solche Leute, die man Romantiker oder Fantasten zu nennen pflegt, für jenen Turnhäuser, mithin für einen gespenstischen Mann aus, so kannst du dir denken, welchen Verdruß ich von den soliden, aufgeklärten Leuten, die als tüchtige Bürger und Geschäftsmänner den Teufel was nach Romantik und Poesie fragen, auszustehen habe. Ja selbst handfeste Ästhetiker wollen mir zu Leibe, verfolgen mich wie die Doktoren und Schriftgelehrten zu Johann Georgs Zeiten, und suchen mir das bißchen Existenz, das ich mir anmaße, zu verbittern und zu verkümmern, wie sie nur können.

Ach, mein liebes Kind, ich merk es schon, ungeachtet ich mich des jungen Edmund Lehsen und deiner so sorglich annehme und überall wie ein echter Deus ex machina erscheine; so werden doch viele, die mit jenen Ästhetikern gleichen Sinnes sind, mich in der Geschichte gar nicht leiden wollen, da sie an meine wirkliche Existenz nun einmal durchaus nicht glauben können! - Um mich nur einigermaßen sicherzustellen, habe ich niemals geradehin zugestehen mögen, daß ich der schweizerische Goldschmied Leonhard Turnhäuser aus dem sechzehnten Jahrhundert bin. Jenen Leuten bleibt es daher vergönnt anzunehmen, ich sei ein geschickter Taschenspieler und die Erklärung aller Spukereien, wie sie vorgekommen, in Wieglebs natürlicher Magie oder sonst aufzusuchen. Freilich habe ich in diesem Augenblick noch ein Kunststück vor, das mir kein Philidor, kein Philadelphia, kein Cagliostro nachmacht, und das als durchaus unerklärlich jenen Leuten ein ewiger Anstoß bleiben wird; indessen kann ich davon deshalb keinesweges abstehen, da es zur Vollendung der Berlinischen Geschichte, welche von der Brautwahl dreier bekannten Personen, die sich um die Hand der hübschen Demoiselle Albertine Voßwinkel bewerben, handelt, unumgänglich nötig ist."  - E. T. A. Hoffmann, Die Brautwahl (aus: Die Serapionsbrüder)

Ich (177)  Also für den assyrischen Prinzen Cornelio Chiapperi hielt sich Giglio; und war dies eben auch nichts Besonderes, so möchte doch schwerer zu erklären sein, woher die seltene, nie empfundene Lust kam, die mit flammender Glut sein ganzes Inneres durchdrang. Stärker und starker schlug er die Saiten der Chitarre, toller und ausgelassener wurden die Grimassen, die Sprünge des wilden Tanzes. Aber sein Ich stand ihm gegenüber und führte, ebenso tanzend und springend, ebensolche Fratzen schneidend als er, mit dem breiten hölzernen Schwert Streiche nach ihm durch die Luft. - Brambüla war verschwunden! - »Hoho«, dachte GigHo, »nur mein Ich ist schuld daran, daß ich meine Braut, die Prinzessin, nicht sehe; ich kann mein Ich nicht durchschauen, und mein verdammtes Ich will mir zu Leibe mit gefährlicher Waffe, aber ich spiele und tanze es zu Tod, und dann bin ich erst ich, und die Prinzessin ist mein!« -

Während dieser etwas konfuser Gedanken wurden Giglios Sprünge immer unerhörter, aber in dem Augenblick traf des Ichs hölzernes Schwert die Chitarre so hart, daß sie in tausend Stücke zersprang und Giglio rücklings über sehr unsanft zu Boden fiel. Das brüllende Gelächter des Volks, das die Tanzenden umringt hatte, weckte den Giglio aus seiner Träumerei. Bei dem Sturz war ihm Brille und Maske entfallen, man erkannte ihn, und hundert Stimmen riefen: »Bravo, bravissimo, Signor Giglio!« -Giglio raffte sich auf und eilte, da ihm plötzlich es einkam, daß es für einen tragischen Schauspieler höchst unschicklich, dem Volk ein groteskes Schauspiel gegeben zu haben, schnell von dannen. - E. T. A. Hoffmann, Prinzessin Brambilla (zuerst 1820)

Ich (178)

Ich

Mein allernächstes Wunder,
meine trunkene Leidenschaft an jedem Tag,
meine Blume, mein Engel zu jeder Stunde,
noch wie heißes Brot nach deinem Ofen duftend,
noch eingetaucht in die Wasser Gottes
und in die blauen Lüfte des Ursprungtages der Welt,
sag mir: du meine holde Liebe,
sag mir: du unbekannte Gegenwart:
fünfundvierzig Jahre geheimnisvollen Verkehrs,
sind sie nicht genug,
dich auszuliefern, dich zu enthüllen
deinem Freund, deinem Bruder,
deinem traurigen Doppelgänger?

Nein, nein!  Sag mir, Skorpion, Totenfresser,
Leichnam, der über mir am Verwesen ist
seit fünfundvierzig Jahren,
dämmergraue Hyäne,
ekle Hydra mit achthunderttausend Köpfen,
warum zeigst du mir immer nur ein Gesicht?
Immer,in jeder Sekunde, ein verschiedenes Gesicht?
Augen, die grausam bücken,
Augen eines Unbekannten,
die mich ansehn ohne Verständnis
(mit jenem Haß des Nichtbekannten)
und weitergehn:
in jeder Sekunde.
Es sind deine stinkenden Häupter, deine grausamen Häupter, blaurote Hydra.

Seit fünfundvierzig Jahren hasse ich dich,
speie ich dich an, verfluche ich dich,
doch weiß ich nicht, wen ich verfluche,
wen ich hasse, wen ich anspeie.

Holde
Liebe, du meine unbekannte Liebe,
fünfundvierzig Jahre sind es,
daß ich dich liebe.

- Dámaso Alonso, nach nach (mus)

Ich (179)

Ich (180)

Ich (181)

Ich (182)

Ich (183)  Ich musste 1938 auf die Welt kommen, nachdem ich mir meine Eltern schon ausgesucht hatte. Meine Mutter war eine sportliche Schönheit vom Land, die sich nur in der Stadt wohlfühlte. Mein Vater war sehr leger und trank gern, er war ein Spaßvogel. Kaum auf der Welt, suchten mich Schulen, Krankenhäuser und alles Mögliche heim. Ich leistete meine Zeit ab und bestand auf meiner Freizeit. Ich schrieb Bücher, bis mich das Sitzen schmerzte. Dann machte ich Filme, weil ich mich bewegen wollte. Die Kinder, die ich habe, fangen wieder von vorne an. Grüß Gott!  - Herbert Achternbusch

Ich (184)

Ich (185)  Wer bin ich? wenn ich mich ausnahmsweise auf ein Sprichwort beziehe: warum kommt in der Tat nicht alles darauf an, zu wissen, mit wem ich »umgehe«? Ich gestehe, daß mich dieses Wort verwirrt, denn es sucht zwischen bestimmten Wesen und mir seltenere Bezie­hungen zu begründen, unausweichlichere, bestürzen-dere, als ich dachte. Es sagt viel mehr, als es sagen will, es läßt mich zu Lebzeiten die Rolle eines Gespenstes spielen, offenbar spielt es auf das an, was ich aufhören mußte, zu sein, um der zu sein, der ich bin. Wenn ich es, kaum mißbräuchlich, in diesem Sinne nehme, gibt es mir zu verstehen, daß die objektiven Äußerungen mei­ner Existenz, die ich nämlich für solche halte, mehr oder weniger vorsätzliche Äußerungen, nur der in die Grenzen dieses Lehens eintretende Teil einer Aktivität sind, deren wirkliches Feld mir ganz und gar unbekannt ist. Die Vorstellung, die ich vom »Gespenst« habe, mit all dem Konventionellen, das es ebensowohl in seinem Aussehen hat wie in der blinden Unterwor­fenheit unter bestimmte Bedingungen der Stunde und des Ortes, besitzt für mich vor allem Gültigkeit als end­liches Bild einer Qual, die ewig sein könnte. Es ist möglich, daß mein Leben nur ein Bild dieser Art ist und daß ich verurteilt bin, wieder anzufangen, wo ich aufgehört habe, im Glauben befangen, daß ich erforsche und zu erkennen versuche, was ich in Wirklichkeit sehr gut wiedererkennen müßte, um einen kleinen Teil des Ver­gessenen zu lernen. Diese Sicht auf mich selbst scheint mir nur insofern falsch, als sie mich mir selbst voraussetzt, als sie willkürlich eine vollendete Gestalt meines Denkens, die keinen Grund hat, sich mit der Zeit zu verbinden, in ein früheres Alter verlegt, und daß sie zugleich die Idee eines nicht wiedergutzumachenden Verlustes, einer Buße oder eines Gefallenseins einschließt, deren moralische Unbegründetheit, meiner Meinung nach, keiner Erörterung bedarf. Wichtig ist, daß mich die einzelnen Fähigkeiten, die ich langsam hier unten an mir entdecke, in keiner Weise von dem Forschen nach jener höheren Anlage ablenken, die mir eigen wäre, aber nicht gegeben ist. Jenseits aller Arten von Geschmack, die ich an mir kenne, der Verwandtschaften, die ich fühle, der Anziehungen, denen ich unterliege, der Ereignisse, die mir zustoßen und mir allein, jenseits der Menge von Bewegungen, die ich mich ausführen sehe, der Emotionen, die nur ich empfinde, bemühe ich mich zu wissen, worin, in Beziehung zu den anderen Menschen, meine Unterschiedenheit besteht, wenn schon nicht, wovon sie herrührt. Würde ich mir nicht genau in dem Maße, als ich mir diese Unterschiedenheit bewußt mache, das aufdecken, was ich unter allen anderen auf dieser Welt tun wollte, und welcher einzigen Botschaft Träger ich bin, damit ich für ihr Geschick endlich mit meinem Kopf bürge?   - (nad)

Ich (186)  

Ich (187)  

Ich (188)  Ich bin der Heilige, im Gebet auf der Terrasse, wo die friedlichen Tiere weiden bis an das Meer Palästinas.

Ich bin der Gelehrte im dunklen Lehnstuhl. Die Zweige und der Regen schlagen an das Fensterkreuz des Büchersaals.

Ich bin der Fußgänger auf der Landstraße durchs Zwergholz; der Lärm der Schleusen übertönt meine Schritte. Ich blicke lange in die schwermütige Goldlauge der untergehenden Sonne.

Ich könnte wohl das Kind sein, das auf der ins hohe Meer getriebenen Mole ausgesetzt ward, der kleine Bube, der die Allee dahingeht, deren Stirn an den Himmel rührt.

Die Pfade sind holprig. Die Hügel bedecken sich mit Ginster. Die Luft ist regungslos. Wie fern sind die Vögel und die Quellen! Ich könnte nur an das Ende der Welt gelangen, wenn ich immer so weiter ginge.   - Arthur Rimbaud, Farbstiche. Nach (rim)

Ich (189)  Ich bin ein Schaf. Meine Weide ist mein Leben. Spärlich, kein Gras. Ein einsames Schaf ist allein. Kein Vorderschaf, also kein Herdentrieb, also keine Richtung. Also kein Futter, keine Hoffnung, kein Sinn und keine Behaglichkeit. Soweit kommt es nicht, daß ich meine Wolle als Luxus ausgebe, weil sie mich vor Regen und Kälte schützt. Und ein Schaf ohne Wolle gibt es gar nicht. Das ist )a dann ein hochgestelltes Schwein. Schauen Sie sich ein geschorenes Schaf an, dann wissen Sie, was ich meine. Ich bin ein Schaf!

...

Beim Sonnenuntergang werden meine Beine lang. Das kommt davon, daß das Gras so weit weg ist. Wenn eins vorhanden ist! Und wenn es vorhanden ist, ist es vom Tag ausgelaugt. Es ist trocken und geschmacklos. Soll ich denken: Bis es vom Tau aufgefrischt ist, bin ich verhungert? Auch macht mich der rote Sonnenuntergang schwarz. Ich fühle das Blut auf der Haut. Blutgetränkte Wolle ist schwer zu tragen. Ich weiß nicht, wie es da den Menschen geht. Sie machen einen unbedenklichen Eindruck. Bin froh, wenn sie weg sind und fern in ihren Behausungen im Tal unten poltern.

...

Nächtens stehe ich im trockenen Bachbett, weil der kühle Wind durchsaust. Ich schlafe dann nicht und ertrage den großen Menschen am Himmel. Das geht. Doch unter mir, wenn ich doch eingedämmert bin, ist ein unzufriedenes Gezappel zu bemerken, weil sich ein Tourist unter mich gegraben hat und von diesem Menschenantlitz am fürchterlichen Firmament genug hat und vielleicht auch hungrig ist, um unter mir Zuflucht und ein geschlossenes Gefühl zu erträumen. Aber ich kann nicht dienen, denn ich habe kein Euter, auch daß er das nicht riecht! Hat er denn keine Mama gehabt, daß er sich jetzt so tölpelhaft benimmt? Wie der Pfarrer vielleicht, vom Ort unten?  - Herbert Achhternbusch, Ich bin ein Schaf. Memoiren. München 1996

Ich (190)  Erst durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die tote, formlose Masse. Allein vom Menschen aus verbreitet sich Regelmäßigkeit rund um ihn herum bis an die Grenze seiner Beobachtung - und wie er diese weiter vorrückt, wird Ordnung und Harmonie vorgerückt. Durch seine Beobachtung falten sich die Weltkörper zusammen und werden nur ein organisierter Körper; durch sie drehen die Sonnen sich in ihren angewiesenen Bahnen. Durch das Ich steht die ungeheure Stufenfolge da von der Flechte bis zum Seraph; in ihm ist das System der ganzen Geisterwelt, und der Mensch erwartet mit Recht, daß das Gesetz, das er sich und ihr gibt, für sie gelten müsse; erwartet mit Recht die einstige allgemeine Anerkennung desselben. Im Ich liegt das Unterpfand, daß von ihm aus ins Unendliche Ordnung und Harmonie sich verbreiten werde, •wo hoch jetzt keine ist; daß mit der fortrückenden Kultur des Menschen zugleich die Kultur des Weltalls fortrücken werde... was euch Tod scheint, ist seine Reife für ein höheres Leben -in jedem Momente seiner Existenz reißt er etwas Neues außer sich in seinen Kreis mit fort, bis er alles in denselben verschlinge : bis alle Materie das Gepräge seiner Einwirkung trage und alle Geister mit seinem Geist einen Geist ausmachen. - -Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann, ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen und schaudern und erbeben vor seiner eigenen Majestät?  -  Johann Gottlieb Fichte, nach: Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall. Tübingen 1951

Ich (191)  

Im Gewimmel

Ich bin, der ich bin.
Ein Zufall, unbegreiflich
wie jeder Zufall.

Ich hätte andere Ahnen
haben können,
und schon wäre ich einem andern Nest
entflogen,
schon unter einem andern Stamm
verpuppt hervorgekrochen.

In der Garderobe der Natur
sind viele Kostüme.
Das Kostüm der Spinne, der Möwe, der Feldmaus.
Sie passen sogleich wie angegossen
und werden brav getragen
bis zum Verschleiß.

Auch ich hatte keine Wahl,
doch beklage ich mich nicht.
Ich hatte weniger
einmalig sein können.
Jemand von der Sandbank, vom Ameisenhaufen,
                  vom summenden Schwarm,
ein vom Wind getriebenes Teilchen der Landschaft.

Jemand, weit weniger glücklich,
gezüchtet für einen Pelz,
für eine Festtagstafel;
etwas, das unter Glas schwimmt.

Ein Baum, der Erde verhaftet,
dem sich das Feuer nähert.

Ein Halm, zertreten
vom Lauf der unbegreiflichen Ereignisse.

Eine zwielichtige Gestalt,
die anderen leuchtet.

Wenn ich aber den Menschen Angst einflößte,
oder nur Widerwillen
oder nur Mitleid?

Wenn ich nicht im richtigen Stamm
zur Welt gekommen wäre
und mir die Wege verschlossen blieben?

Das Schicksal war mir
bisher gnädig.

Mir wäre das Gedächtnis
für gute Augenblicke nicht gegeben.

Mir wäre die Neigung
zu vergleichen genommen.

Ich hätte ich selbst sein können - doch ohne Staunen,
und das würde bedeuten,
jemand ganz anderer.

- Wislawa Szymborska, Der Augenblick. Frankfurt am Main 2002

Ich (192)  Der Tod ist die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu seyn: wohl Dem, der sie benutzt. - Arthur Schopenhauer, Über den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens. In (wv)

Ich (193)  »Verflucht,« (sagte Schoppe) »ich errate Euch ganz gut, Ihr haltet mich nicht für achtels so vernünftig als Euch selber, sondern für toll. Wolf, komm herauf! Du Bestie warst häufig auf einsamen Wegen und Stegen mein Schirmvogt und Teufelsbanner gegen den Ich. — Herr, wer Fichten und seinen Generalvikar und Gehirndiener Schelling so oft aus Spaß gelesen wie ich, der macht endlich Ernst genug daraus. Das Ich setzt Sich und den Ich samt jenem Rest, den mehrere die Welt nennen. Wenn Philosophen etwas, z. B. eine Idee oder sich aus sich ableiten, so leiten sie, ist sonst was an ihnen, das restierende Universum auch so ab, sie sind ganz jener be-trunkne Kerl, der sein Wasser in einen Springbrunnen hineinließ und die ganze Nacht davor stehen blieb, weil er kein Aufhören hörte und mithin alles, was er fort vernahm, auf seine Rechnung schrieb - Das Ich denkt Sich, es ist also Ob-Subjekt und zugleich der Lagerplatz von beiden - Sapperment, es gibt ein empirisches und ein reines Ich - die letzte Phrasis, die der wahnsinnige Swift nach Sheridan und Oxford kurz vor seinem Tode sagte, hieß: ich bin ich - Philosophisch genug!« -

»Und was schließest du Furchtbares aus allem?« sagte Albano mit innigster Trauer. »Alles kann ich leiden,« (sagte Schoppe) »nur nicht den Mich, den reinen, intellektuellen Mich, den Gott der Götter - Wie oft hab' ich nicht schon meinen Namen verändert wie mein Namens- und Taten-Vetter Scioppius oder Schoppe und wurde jährlich ein anderer, aber noch setzt mir der reine Ich merkbar nach. Man sieht das am besten auf Reisen, wenn man seine Beine anschauet und sie schreiten sieht und hört und dann fragt: wer marschiert doch da unten so mit? - Ewig redet er ja mit mir; sollt' er einmal leibhaftig vor mir auffahren: dann wär' ich nicht der letzte, der schwach würde und totenblaß. - Jean Paul, Titan

Ich (194)  Bisweilen quält das ebenso peinliche wie eitle Problem des Ortes, an dem ich mich befinde, mein Denken, und ich würde es gern zu einer objektiven Definition bringen, etwa sagen können: Ich befinde mich an diesem Ort und von hier aus kann ich alle Richtungen abmessen. Aber am Ende kann ich mir selber nichts anderes sagen als dies: daß ich eben der Ort bin, nichts anderes als der Ort. Von einem Ort zu sagen, er sei hier, ist deshalb nicht ungenau, wenn auch unleugbar tautologisch.

Daraus, daß ich zu guter Letzt sage, ich bin ein Ort, ergibt sich, daß alles, was ich sehe und mir genau ansehe, Orte sind; und da wir gesagt haben, daß es immer wieder ich bin, kann man schließen, daß ich nicht nur ein Ort bin, sondern ein System aus Orten, weswegen ich von einem Ort aus einen anderen beobachten kann, der mir nicht fremd ist, und wie weit ich auch in die Ferne vordringe, ich werde immer wieder Orte finden, also Teile jenes Ortes, in dessen Fragmenten ich mich selbst erkenne.   - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997

Ich (195)  

Ich (196)  Ich habe aufgehört, mich zu entscheiden, das Spiel, die Straßen des Labyrinths zu versuchen, bezaubert mich nicht mehr. Ich weiß nun, das Labyrinth ist kein Traum, keine Vision, kein Entwurf von mir oder eines anderen; ich weiß, kein Ort, keine Grotte, kein See oder Graben des Labyrinths, keine seiner Straßen darf zugunsten einer anderen außer Acht gelassen werden; ich weiß, alle Irrtümer - und mir ist unbekannt, ob es außer Irrtümern noch etwas gibt - machen das verdorbene und vollkommene Gefüge des Labyrinths aus; schließlich gebe ich mich inmitten der zahllosen Straßen dem unbewegten Frieden hin, den mir das Wissen darum schenkt, daß nur ich, wie ich schon immer wußte, das Labyrinth bin. - Giorgio Manganelli, Labyrinth. In: (irrt)

Ich (197)  

Ich (198)  

SPLEEN

Ich habe mehr Erinnerungen, als war ich tausend Jahre alt.

Ein großes Möbel mit Schubfächern, voll Abrechnungen, Versen, Liebesbriefen, Prozeßakten, Romanzen und schweren Haaren, die man in Quittungen gewickelt hat, birgt weniger Geheimnisse als mein trauriges Herz. Eine Pyramide ist es, eine ungeheure Gruft, die mehr der Toten als das Massengrab enthält.

— Ich bin ein Kirchhof, den zu bescheinen selbst dem Monde graust, wo wie Gewissensbisse lange Würmer kriechen, die immer wieder an den Toten nagen, welche mir die liebsten waren. Ich bin ein altes Boudoir voll welker Rosen, wo sich ein ganzer Plunder veralteter Gewänder häuft, wo vereinsamt klägliche Pastelle und ausgebleichte Bilder von Boucher den Duft einatmen eines entstöpselten Flakons.

Nichts dehnt so lang sich wie die lahmen Tage, wenn unter schweren Flocken schneeverhangener Jahre die Langeweile, Ausgeburt der dumpfen Teilnahmslosigkeit, das Ausmaß der Unsterblichkeit gewinnt. Hinfort, o lebende Materie! bist du nur noch ein Granitblock, der, umhaucht von unbestimmtem Grauen, am Grunde einer Nebelwüste einschläft! eine alte Sphinx, unbekannt der sorglos leichten Welt, vergessen auf der Karte, und deren wilder Mißmut nur, wenn die Sonne sinkt, von ihren Strahlen tönt!

 

Ich bin gleich dem König eines Regen-Landes, reich, doch kraftlos, jung und dennoch uralt, der die Bücklinge seiner Hofmeister verachtet und sich mit seinen Hunden wie mit ändern Tieren langweilt. Nichts vermag ihn zu erheitern, weder Wild noch Falke, noch sein Volk, das man vor dem Balkon niedermacht. Des Lieblingsnarren schaurig dummes Lied entwölkt nicht mehr die Stirne dieses kranken Grausamen; sein lilienbesticktes Bett verwandelt zum Grab sich, und die Hofdamen, denen jeder Fürst schön dünkt, wissen keine schamlose Gewandung mehr zu erfinden, um diesem jungen Skelett ein Lächeln zu entlocken. Der Weise, der ihm Gold bereitet, vermochte nie aus seinem Wesen auszurotten das verdorbne Element und es mißriet ihm, in jenen Blutbädern, die wir von den Römern überkommen haben und deren auf ihre alten Tage die Mächtigen sich entsinnen, diesen stumpfsinnigen Kadaver zu erwärmen, in dessen Adern statt des Blutes das grüne Wasser des Lethe fließt.


- Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen (zuerst 1857). Übs. Friedhelm Kemp Frankfurt am Main 1966

Ich (199)  

Ich bin ein Hirsch: mit sieben Sprossen,
Ich bin eine Flut: über einer Ebene,
Ich bin ein Wind: auf einem tiefen See,
Ich bin eine Träne: die von der Sonne fiel,
Ich bin ein Falke: über der Klippe,
Ich bin ein Dorn: unter dem Nagel,
Ich bin ein Wunder: zwischen Blumen,
Ich bin ein Zauberer: wer außer mir
Entzündet den kühlen Kopf mit Rauch?

Ich bin ein Speer: der von Blut dröhnt,
Ich bin ein Lachs: in einem Teich,
Ich bin ein Zauber: aus dem Paradies,
Ich bin ein Berg: wo Dichter wandeln,
Ich bin ein Eber: unbarmherzig und rot,
Ich bin eine Welle: Verhängnis drohend,
Ich bin eine Flut: die in den Tod zieht,
Ich bin ein Kind: wer außer mir
Späht aus dem klobigen Dolmentor?

Ich bin der Schoß: eines jeden Hains,
Ich bin die Flamme: auf jedem Hügel,
Ich bin die Königin: eines jeden Bienenstocks,
Ich bin der Schild: für jeden Kopf,
Ich bin die Gruft: aller Hoffnung.

-  Song of Amergin, nach grav

Ich (200)  Ganz tief in Johns Bewußtsein fing etwas sehr Einsames und sehr Kaltes an, zu einem kleinen, harten runden Stein zu erstarren. »Ich bin ich«, dachte er, »ich bin ganz allein ich.« Während er über jene enge und kleine Kopfsteinpflasterstraßc mit dem Namen Dye-house Lane auf den Bahnhof zuging, wurde seine Gemütsverfassung immer antisozialer und unmenschlicher. Miss Drew hätte gesagt, er würde sich in diesem Augenblick sich selbst gegenüber als das lüsterne, kaltblütige, schlüpfrige, herzlose und verräterische Reptil zeigen, das er war! »Mary gehört zu mir«, dachte er. »Ich bin der einzige Mann, der jemals zu ihr passen wird. Tom durfte nicht mal ihren Finger anfassen! Ich kenne sie. Und das Gefühl, das ich bei der Liebe mit ihr bekomme, liegt weit jenseits von j dem, was ich von irgendeinem anderen Menschenwesen bekommen könnte. Aber ich werde Mary nicht auf den Gedanken bringen, sie könne mein ganzes Leben beherrschen. Ich kann so was keineswegs dulden. Ich bin, obwohl ich sie gern auf meine Art liebe, in Wirklichkeit überhaupt nicht sicher, ob ich jede Nacht gern mit ihr schlafen mochte! Ich brauche sie unbedingt. Das weiß ich. Aber daran, daß ich in diesem Zimmer meine Freiheit aufgeben muß, stört mich was. Und auch Tom - ich möchte Tom gern ganz für mich haben! In Wirklichkeit bin ich ein harter runder Stein, der dem ganzen All trotzt. Und ich kann ihm trotzen und das, was ich will, dennoch aus ihm herausholen! Es ist ein feines Gefühl, sich absolut allein zu fühlen und alles von außen zu beobachten, nichts und niemandem verpflichtet. Warum sollte ich die allgemeine Ansicht übernehmen, daß ich andere Leute zu >lieben< habe? Mary gehört zu mir; doch manchmal frage ich mich sogar, ob ich Mary >liebe<. Gewiß >liebe< ich nicht mal mich! Ich bin eine harte runde Glaskugel, die alles widerspiegelt, aber eine geheime, ganz ihr eigene Landschaft in ihrer Mitte hat. Oh, ihr großen Steine von Stonehenge, ihr seid die einzigen Götter für mich!«   - (cowp)

Ich (201)  

Ich bin ein Wind des Meeres
Ich bin eine Welle des Meeres
Ich bin ein Geräusch des Meeres
Ich bin ein Ochse von sieben Schlachten
oder Ich bin ein Hirsch von sieben Enden
Ich bin ein Greif auf einer Klippe
oder Ich bin ein Falke auf einer Klippe
Ich bin eine Träne der Sonne
Ich bin eine Fee zwischen Blumen
Ich bin ein Eber
Ich bin ein Lachs in einem Teich
Ich bin ein See auf einer Ebene
Ich bin ein Berg der Dichtung
Ich bin ein kriegführender Speer
Ich bin ein Gott, der Feuer für ein Haupt macht

- Amergins Lied (2. Version), nach  (grav)

Ich (202)  

Ich (203)  Seine Gedanken konzentrierten sich mechanisch auf die weißen. Lippen des Mannes auf dem Bette und auf seine runzligen Augenlider, aber sie waren nicht mehr mit diesen Dingen beschäftigt. Sein Geist überblickte den Verlust seiner Lebensillusion. Wie viele Zufälle und Zufälligkeiten, wie viele kleine Zickzackmuster, Windstöße zielloser Luft, wandernde Schatten, unvorhersehbare  windgekräuselte Wellen hatten sich vereint, diese zu zerlegen und zu zerstören.

„Ich darf mir nichts von dem entschlüpfen lassen, was ich jetzt entdeckt habe", dachte er. Und als dann ein Dreieck winziger Falten auf einem der geschlossenen Lider Mr. Malakites sich in seinen geistigen Prozeß verwob, sagte er zu sich: „Was immer Christie fühlen mag, ich weiß, daß sie und niemand sonst meine wahre einzige Liebste ist. Ja, bei Gott! Und ich weiß, daß mein ,Ich bin ich' kein ,harter kleiner Kristall' in mir ist, sondern eine Wolke, ein Dunst, ein Nebel, ein Rauch, der um meinen Schädel kreist, um meinen Rücken kreist, um meine Arme, um meine Beine. Das ist's, was ich bin — etwas 'Vegetativ-Animalisches', eingehüllt in eine geistige Wolke und mit der Willenskraft, diese Wolke in das Bewußtsein anderer zu projizieren."  - John Cowper Powys, Wolf Solent. (zuerst 1929)

Ich (204)  

Walt Whitman, Crossing Brooklyn Ferry

Ich war wetterwendisch, eitel, habgierig, seicht, heimtückisch, feige, boshaft,
der Wolf, die Schlange, das Schwein fehlten nicht in mir.

Oder auch Song of Myself:

Ich bin der Mann. Ich litt. Ich war dabei.
Die Verachtung und die Seelenruhe der Märtyrer;
die Mutter, verurteilt als Hexe, verbrannt
mit dürrem Holz, ihre Kinder sahen zu,
der gehetzte Sklave, der taumelt, am Zaun lehnt,
keuchend, mit Schweiß bedeckt,
die Spitzen, die wie Nadeln seine Beine stechen,
seinen Nacken, die tödlichen Rehposten und Kugeln:
alle diese fühle ich oder bin ich.

Whitman fühlte und war dies alles, aber von Grund aus -nicht in der simplen Historie, sondern im Mythos — war er das, was diese beiden Verse bekunden (Song of Myself, 24):

Walt Whitman, ein Kosmos, der Sohn von Manhattan,
unbändig, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend.

- Jorge Luis Borges, Bemerkungen über Walt Whitman. In: J.L.B., Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991

Ich (205)  Da ich nichts bin als dieser in einem beliebigen künftigen Zeitpunkt bereits verweste Leib, nichts als diese anachronistischerweise schreibenden Knochen, fühle ich, wie dieser Leib nach sich selbst verlangt, wie er seinem Bewußtsein diese noch unvorstellbare Operation abverlangt, durch die er aufhören würde, ein Haufen Fäulnis zu sein. Dieser Leib, der ich bin, besitzt das Vorwissen von einem Zustand, in welchem, wenn er selbst sich als solchen negiert und wenn er gleichzeitig das objektive Korrelat als solches negiert, sein Bewußtsein einen Zustand außerhalb des Leibes und der Welt erlangen würde, welcher der wahre Zugang zum Sein wäre. Mein Leib, nicht mein Morelli-Leib, nicht ich, der ich neunzehnhundertfünfzig bereits neunzehnhundertachtzig verwest sein werde, dieser Leib wird sein, weil hinter der Tür aus Licht (wie diese bedrängende, an meinem Gesicht haftende Gewißheit nennen) das Sein etwas anderes sein wird als Leiber und, als Leiber und Seelen und, als Ich und das Andere, als Gestern und Morgen. Alles hängt davon ab ... (ein durchgestrichener Satz).  - (ray)
 

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