rchivar Aus dem Folgenden geht hervor, was von der Existenz einer Geheimregel und der sogenannten »doppelten Aufnahme« zu halten ist. Raynouard leugnete ihr Bestehen (Monuments historiques relatifs à la condamnation des Templiers). Er erklärte, der einzige Beweis seien die Prozeßaussagen der »Servienten« oder »Dienenden Brüder«, also derjenigen Brüder, die in den Komtureien mit der Landarbeit betraut waren oder die Hausarbeit zu verrichten hatten — Dienstbotengewäsch also. Wenn auch Dienstboten zu übler Nachrede neigen, sind sie doch im allgemeinen besser über die Geheimnisse der Herren informiert als viele von deren besten Freunden.
Außerdem ist selbstverständlich, daß eine solche
Geheimregel, wenn sie je angewandt wurde, nicht schriftlich niedergelegt sein
konnte, sondern von Mund zu Mund weitergegeben wurde. Keine noch so genaue und
geduldige Forschung konnte die kleinste Spur ans Licht bringen. Wie dem auch
sei, die Behauptung vom Bestehen einer Geheimregel, die den Templern verhängnisvoll
werden sollte, ist wohl darauf zurückzuführen, daß die vollständige Regel vom
Ordensarchivar eifersüchtig gehütet wurde. - John
Charpentier, Die Templer. Berlin u.a. 1981 (Ullstein-Klett-Cotta -Tb. 780,
zuerst 1965)
Archivar (2) Der Student
Anselmus erstaunte aufs neue über die wunderbare Herrlichkeit des Gartens,
aber er sah nun deutlich, daß manche seltsame Blüten, die an den dunkeln Büschen
hingen, eigentlich in glänzenden Farben prunkende Insekten waren, die mit den
Flüglein auf und nieder schlugen und, durcheinander tanzend und wirbelnd, sich
mit ihren Saugrüsseln zu liebkosen schienen. Dagegen waren wieder die rosenfarbnen
und himmelblauen Vögel duftende Blumen, und der Geruch, den sie verbreiteten,
stieg aus ihren Kelchen empor in leisen lieblichen Tönen, die sich mit dem Geplätscher
der fernen Brunnen, mit dem Säuseln der hohen Stauden und Bäume zu geheimnisvollen
Akkorden einer tiefklagenden Sehnsucht vermischten. Die Spottvögel, die ihn
das erstemal so geneckt und gehöhnt, flatterten ihm wieder um den Kopf und schrieen
mit ihren feinen Stimmchen unaufhörlich: »Herr Studiosus, Herr Studiosus, eilen
Sie nicht so - kucken Sie nicht so in die Wolken - Sie könnten auf die Nase
fallen. - He, he! Herr Studiosus - nehmen Sie den Pudermantel um - Gevatter
Schuhu soll Ihnen den Toupet frisieren.« - So ging es fort in allerlei dummem
Geschwätz, bis Anselmus den Garten verlassen. Der Archivarius Lindhorst trat
endlich in das azurblaue Zimmer; der Porphyr mit dem goldnen Topf war verschwunden,
statt dessen stand ein mit violettem Samt behangener Tisch, auf dem die dem
Anselmus bekannten Schreibmaterialien befindlich, in der Mitte des Zimmers,
und ein ebenso beschlagener Lehnstuhl stand vor demselben. »Lieber Herr Anselmus«,
sagte der Archivarius Lindhorst. »Sie haben nun schon manches Manuskript schnell
und richtig zu meiner großen Zufriedenheit kopiert; Sie haben sich mein Zutrauen
erworben; das Wichtigste bleibt aber noch zu tun übrig, und das ist das Abschreiben
oder vielmehr Nachmalen gewisser in besonderen Zeichen geschriebener Werke,
die ich hier in diesem Zimmer aufbewahre und die nur an Ort und Stelle kopiert
werden können. - Sie werden daher künftig hier arbeiten, aber ich muß Ihnen
die größte Vorsicht und Aufmerksamkeit empfehlen; ein falscher Strich oder,
was der Himmel verhüten möge, ein Tintenneck, auf das Original gespritzt, stürzt
Sie ins Unglück.« - Anselmus bemerkte, daß aus den goldnen Stämmen der Palmbäume
kleine smaragdgrüne Blätter herausragten; eins dieser Blätter erfaßte der Archivarius,
und Anselmus wurde gewahr, daß das Blatt eigentlich in einer Pergamentrolle
bestand, die der Archivarius aufwickelte und vor ihm auf den Tisch breitete.
Anselmus wunderte sich nicht wenig über die seltsam verschlungenen Zeichen,
und bei dem Anblick der vielen Pünktchen, Striche und Züge und Schnörkel, die
bald Pflanzen, bald Moose, bald Tiergestalten darzustellen schienen, wollte
ihm beinahe der Mut sinken, alles so genau nachmalen zu können. Er geriet darüber
in tiefe Gedanken. »Mut gefaßt, junger Mensch!« rief der Archivarius, »hast
du bewährten Glauben und wahre Liebe,
so hilft dir Serpentina!« Seine Stimme tönte wie klingendes Metall, und als
Anselmus in jähem Schreck aufblickte, stand der Archivarius Lindhorst in der
königlichen Gestalt vor ihm, wie er ihm bei dem ersten Besuch im Bibliothekzimmer
erschienen. Es war dem Anselmus, als müsse er, von Ehrfurcht durchdrungen, auf
die Knie sinken, aber da stieg der Archivarius Lindhorst an dem Stamm eines
Palmbaums in die Höhe und verschwand in den smaragdenen
Blättern. - E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf
Archivar (3)
- Tomi Ungerer's Hintereinander. München 1991
Archivar (4) Nichts kränkte wohl Haucks Stolz tiefer als der Vorwurf, er habe die gestohlenen Dinge ohne alle Sorgfalt eines Sammlers und Gelehrten aufbewahrt, sie in Staub und Unordnung verkommen lassen.
Dann wird das Problem von der neuropathischen Seite her untersucht. Die Doktoren Dyrenfurth und Maguus Hirschfeld sprechen. Nach eigener Angabe hat Hauck zum ersten Male bei einer Handschrift Gortschakows24 eine erotische Empfindung gehabt. Wenn man bedenkt, daß er seitdem Tausende von Briefen gekauft, gestohlen und verkauft hat, muß er eigentlich trotz seiner finsteren Maske ein ganz vergnügtes Innenleben geführt haben.
Magnus Hirschfeld spricht über Fetischismus und Sammlerleidenschaft. Er schildert auch den Sammler, der allmählich zum Amateur-marchand wird. Aber der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Siegert, fragt, ob der berüchtigte Zopfabschneider, der 300 Zöpfe sammelte, einen davon verkauft habe? Hirschfeld weist auch darauf hin, daß der Fetischismus und die homosexuelle Veranlagung des Angeklagten zweifellos auf derselben neuropathischen Grundlage beruhen. Aber wenn er auch glaubt, die Veranlagung beeinträchtige die Verantwortung, so sei diese doch nicht im Sinne des § 51 aufgehoben.
Alles käme eben darauf an, zu wissen, was im erotischen Sinne beseligender ist: das Kaufen, das Stehlen oder das Verkaufen von Autogrammen? Aber das könnte nur Dr. Hauck beantworten, und auf dessen Objektivität kann man sich nicht genau verlassen.
Selbstverständlich - auch er, wie alle, die mit Grund die Anklagebank drücken,
ein objektiv unglücklicher Mensch. Ein höchst unordentlicher Gelehrter, ein
ungeordneter Gelehrter, in dem Sammelwut, krankhafte Veranlagung, diebisches
Geschick sich ein seltsames Stelldichein gaben. - Sling, Der Fassadenkletterer
vom "Kaiserhof". Berliner Kriminalfälle aus den Zwanziger Jahren.
Hg. Ruth Greuner. Berlin 1990
Archivar (5) Liebe ... ich bin jetzt
- auch wenn ich nicht weiß, was diese Zeitangabe bedeutet - ein fleißiger und
geachteter Angestellter in einer der angesehensten Institutionen des Landes,
in das ich gelangt bin. Mein Posten ist bescheiden, ja äußerst unwichtig,
weshalb sich lange niemand gefunden hat, der bereit gewesen wäre, ihn zu bekleiden
und die bescheidenen aber notwendigen Dienstleistungen zu verrichten, mit denen
er verbunden ist. Daraus entstanden nicht geringe Nachteile für das gesamte
Büro, das für seinen guten Arbeitsablauf zahlreiche Formen der Niedertracht
und Schande nicht nur nicht entbehren kann, sondern braucht. An diesem Ort,
dessen Aufgabe es ist, die Zukunft zu entwerfen, verwalte ich das Archiv, und
bin folglich mit der Pflege einer Zeit betraut, die nicht nur vergangen ist,
sondern sich mittlerweile auch in trockenen Kot verwandelt
hat. In dieser Zeit, die in großen Kartons versiegelt ist, hat es nie Platz
für irgendeine Art von Frohsinn gegeben, nicht einmal für eine bescheidene abendlich
gute Laune. Der dumpfe Geruch, den sie ausströmt, erinnert an den Gestank eines
gerade getöteten Tiers, eines blitzartigen Lebens, das schon zu Aas
geworden ist. Ich verdanke diese Anstellung meinem unglaublich verbrauchten
Körper und meinen zerschlissenen Kleidern, und schließlich meiner unverhüllten
Gleichgültigkeit gegenüber allem, wa; existenzhungrig ist. Meine weißen Haare,
die offensichtliche Bereitschaft, jede Art von Krankheit mit natürlicher Gelassenheit
hinzunehmen, und meine hartnäckige Nachlässigkeit, in erster Linie
gegen mich selbst, haben mir einen mehr als achtungsvollen, ja einen ehrerbietigen
Empfang eingetragen. Meine Kollegen sind nicht im eigentlichen Sinne Haushofmeister,
doch sind sie gewiß aus jenem Stoff gemacht, der, wie ich vermute, auf verschiedene
Arten verwendbar ist. Das erklärt, warum sie, obgleich keiner mir rangmäßig
untergeordnet ist, allesamt aufstehen, wenn ich das Büro betrete, und manch
einer sich sogar verneigt. Nicht ohne Tränen schreite ich durch die großen Räume
und ziehe mich in mein Arbeitszimmer zurück. Ich weine häufig, und weil nur
wenige sonst weinen, ja eigentlich niemand weint, werden meine Tränen als gutes
Omen begrüßt, obschon niemand weiß wofür, da dieser Ort - obwohl nicht hoffnungslos
- jeglicher Hoffnung entkleidet ist. Ich werde auch als eine Art Auszeichnung
betrachtet, etwas, das - auch wenn es selbst ohne Ansehen ist - den Dingen,
zwischen denen es verweilt, Ansehen verleiht. Den ganzen Tag lang katalogisiere
ich Schriftstücke verschiedener Art und Bestimmung: Liebesbriefe, Reiseberichte,
Geburtsscheine, Notorie-tätsurkunden für verschollene Tote, Ehebescheinigungen
und Mitgliedskarten für verschiedene und widersprüchliche Religionen. Das alles
scheidet einen Zersetzungsschweiß aus - etwas, das über die einfache und didaktische
Kondition des Todes hinausgeht. Alles ist unerheblich und vielleicht noch mehr:
mit einer Nutzlosigkeit behaftet, die man unmöglich
handhaben kann ohne an Körperlichkeit zu verlieren. Ich habe ein Merkbüchlein,
in dem ich alles notiere, was meiner Meinung nach auf Deine geduldige und -
Du mußt es zugeben - irritierende Heimlichkeit anspielt. Sorgfältig habe ich
die Kataloge der Abweisungen und Abfälle durchgesehen, die ich als eine Dir
angenehme Materie, etwas wie einen effektiven Ausfluß betrachte; aber wenn es
da irgendeine Spur von Dir gäbe, dann wäre sie natürlich unter einem falschen
oder unmöglichen Namen versteckt, oder aber diese Abweisungen und Abfälle -
anonym und undatiert, ohne Absender und Empfänger - gehören Dir: abgestoßene
Splitter, die ich Dir nicht zu Füßen legen und jedenfalls nicht - verzeih mir
den Ausdruck - als unsere betrachten kann. Ich habe nicht die Absicht,
dieses Büro zu verlassen, dessen unverhüllte Nutzlosigkeit ich zu schätzen weiß,
und wo man mir gestattet, lange zu weinen, und wo man meine Arbeit wertschätzt,
auch wenn sie als etwas rätselhaft oder vielleicht nur peinlich gilt. - Giorgio Manganelli, Amore. Berlin
1982 (Wagenbach Quartheft 118, zuerst 1981)
Archivar (6) Es ist, klar, daß das Volk der Magazineure von vornherein verdächtigt wird. Leute ohne rechte Ambitionen auf die Sprossenleiter des beruflichen Aufstiegs, stille Verzichter und an diesen Strand Verschlagene, die nur das Einmaleins der Kataloge beherrschen wollten, sich mit hartem Brot und dünnem Tee begnügten, in ihren Bücherkammern wie in Waben saßen. So lassen sie die Reihe der Verdächtigen für ein erstes leichtes Verhör einen nach dem andern in das Zimmer treten, das ihnen die Direktion freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Stanislaus hat Abendschicht, als die Reihe an ihm ist. Zwei glatt gekämmte,
korrekt gescheitelte Köpfe warten auf ihn. - Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh. Leipzig
1993 (zuerst 1975)
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