- (
han
)
Alleinsein (2) Ich finde es gesund, die
meiste Zeit allein zu sein. Gesellschaft,
selbst mit den Besten, wirkt bald ermüdend und zerstreuend. Ich
bin unendlich gerne allein. Noch nie fand ich den Gesellschafter,
der so gesellig war wie die Einsamkeit.
Wir sind meistens einsamer, wenn wir hinausgehen unter die Menschen,
als wenn wir in unserm Zimmer bleiben. Der denkende und arbeitende
Mensch ist immer allein, sei er, wo er wolle. Die Einsamkeit
wird nicht nach den Meilen der Strecke gemessen, die zwischen
uns und unsern Mitmenschen liegen. Wer in einem der dichtbevölkerten
Bienenstöcke von Cambridge wirklich eifrig studiert, ist so einsam
wie der Derwisch in der Wüste. Der Landmann kann den ganzen Tag
in Feld und Wald hackend und grabend beschäftigt sein, ohne sich
einsam zu fühlen, weil er beschäftigt ist; wenn er aber abends
heimkommt, mag er nicht allein, seinen Gedanken überlassen in
seiner Stube sitzen; er muß dahin, wo er ›Leute sieht‹, sich
erholt und sich, nach seiner Ansicht, für die Einsamkeit des
Tages entschädigt. Dann wundert er sich, wie der Studierende
die ganze Nacht und fast den ganzen Tag ohne Langeweile
und ohne seine Parteigenossen zu Hause sitzen mag, denn er kann
sich nicht klarmachen, daß jener, obgleich im Hause, noch bei
der Arbeit auf seinem Felde ist und in seinem Walde Holz hackt
wie der Landmann auf dem seinen und zur Abwechslung die gleiche
Erholung und Gesellschaft aufsucht wie letzterer, wenn auch vielleicht
in konzentrierterer Gestalt. - Henry David Thoreau, Walden
oder Leben in den
Wäld
ern.
Zürich 1979 (zuerst 1854)
Alleinsein (3) Ich selber brauche diese Menschen
nicht. Nachdem ich allein durch die Stadt gegangen und wiedergekommen bin, weiß
ich, daß ich ganz gut auf einer verödeten Erde leben kann, ohne an dem Alleinsein
zugrunde zu gehen. Ich werde mit meinen Worten zusammenleben, mit denen, die
mir geblieben sind. Einige davon werden vielleicht Wurzel fassen, und sie werden
dadurch eine gewisse Macht über mich bekommen, der ich mich fügen muß. Das ist
nicht so schlimm; es ist ein Gesetz, dem ich mich gern unterwerfe. Aber diese
Leute um mich her werden mich höchstens dabei stören; denn ich werde Macht über
sie haben, und wehe mir, wenn ich sie nicht ausüben würde. Sie würden mich umbringen.
Nichts macht unfreier als Macht haben, und nur Knechte lieben es, mächtig zu
sein. - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht
eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)
Alleinsein (4) Der Weise sei sich selbst genug.
Diogenes, der sich selbst Alles in Allem war, hatte, als er sich selbst
davon trug, alles Seinige bei sich. Wenn Ein universeller Freund Rom und die
ganze übrige Welt zu seyn vermag; so sei man sich selbst dieser Freund, und
dann wird man allein zu leben im Stande seyn. Wen wird ein solcher Mann vermissen,
wenn es keinen größern Verstand und keinen richtigem Geschmack, als den
seinigen, giebt? Dann wird er bloß von sich abhängen, und es ist die höchste
Seeligkeit, dem höchsten Wesen zu gleichen. Wer so allein zu leben vermag, wird
in nichts dem Thiere, in Vielem dem Weisen und in Allem Gott ähnlich seyn. -
(
ora
)
Alleinsein (5) In allem gibt man sich mit
Worten zufrieden, sogar was die Freundschaft angeht.
Billy gilt als mein Freund. Zwischen unseren Geschmäckern in manchen Dingen
liegen Hunderte von Meilen. Vallette? Dumur? Von ihnen trennen mich politische
Ansichten, und wenn ich aus dem Mercure wegbin, habe ich keinerlei Verbindung
zu ihnen. Einzig Rouveyre läge auf meiner Linie, doch ihn sehe ich kaum, und
von Auriant, mit dem ich viele literarische Vorstellungen gemeinsam habe, stoßen
mich leider ebenso viele Seiten ab und mißfallen mir - etwa sein Mangel an Takt
und Verschwiegenheit. Im Grunde - und das habe ich schon längst entdeckt — ist
man allein, selbst in der Liebe. Das hat übrigens gar
nichts weiter Schmerzliches. Man gewöhnt sich daran. Man findet Geschmack daran.
- (
leau
)
Alleinsein (6) Es war einmal ein arm Kind und hart
kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt.
Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der
Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich
an; und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da is es
zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und
wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt,
wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde
wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat
sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein. -
Georg Büchner, Woyzeck
Alleinsein (7) Wenn man einmal mit jemand zusammengelebt
hat, ist es qualvoll, nachher allein zu leben. Die Stille eines nur vom Feuer
erhellten Zimmers, in dem unversehens die Uhr zu ticken
aufhört, die unruhigen Schatten in einem leeren Haus - nein, es war besser,
mit seinem Todfeind zusammenzuleben, als sich dem Grauen
des Alleinseins auszuliefern. - (
bal
)
Alleinsein (8) Allein zu sein bedeutet, mit sich zu sein, und das heißt stets, zu zweit zu sein.
Andernfalls, ohne diese »innere« Teilung oder Unterscheidung, hätten wir
niemals Umgang mit jemand anderem; denn dieser Umgang besteht darin, daß eine
fremde Stimme oder ein fremdes Hören an die Stelle des Hörens des
Anderen tritt, der in uns ist und das zweite Glied jeden Gedankens
bildet. Die grundlegende Relation des Bewußtseins ist wie zwischen zwei Polen
— von denen der eine zu mir oder zu dir gehören kann, während
der andere notwendig von mir ist. Vielleicht ist es daher so, daß das
Denken nach und nach durch die Gesellschaft
— im einfachsten Sinne des Wortes — herausgebildet, ausgeprägt wurde. Sicher
ist jedenfalls, daß das bewußte Denken, das heißt das ausdrückend-ausgedrückte,
sich in Form einer Korrespondenz zwischen Sprechen und Hören, Geben und Empfangen,
Tun und Leiden bezeugt. Es findet ein Austausch
statt. - (pval2)
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