- Walter E. Richartz,
Tunneltexte
Ticken (2) Die nassen Stellen an ihrem Kleid, wo sie in der Damentoilette der Volksbibliothek das Blut ausgewaschen hatte, waren jetzt getrocknet, und sie konnte sich ohne Gefahr wieder auf die Straße hinaus wagen. Selbst wenn der Wind ihren Mantel auseinanderblies, würden die Leute die blassen Flecken an ihrer Bluse gar nicht bemerken, oder andernfalls nicht feststellen können, woher sie kamen.
Sie klappte das Buch zu, in welchem sie seit einer Stunde zum Schein gelesen hatte, und stellte es in das Regal für Handbücher zurück. Sie kannte niemanden in der Bibliothek, und niemand kannte sie. Dennoch war es gefährlich, zu lange auf einem Platz sitzen zu bleiben, besonders an einem stillen Platz, weil ihr Gehirn manchmal laut tickte wie ein Metronom, und Spione konnten aus dem Rhythmus des Tickens erkennen, was sie dachte.
Einer dieser Spione war ein alter Mann. Er saß an einem Tisch nicht weit vom Auskunftspult, halb verdeckt von einem Exemplar der U.S. News and World Report. Wie unverdächtig vertieft er schien; wie ein Kind in sein Bilderbuch. Aber etwas in der Neigung seines Kopfes verriet ihn. Sie begann ziemlich laut zu summen, damit er ihre Gedanken nicht hören konnte. Er ließ die Zeitschrift sinken und warf ihr einen gehässigen Blick zu, weil er merkte, daß er entdeckt war.
Als sie an seinem Tisch vorbeiging, beugte sie sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm zu: »Es wird Ihnen nicht gut bekommen, wenn Sie mir folgen.« Dann ging sie auf die Tür zu, wobei sie den Mantel fest um sich wickelte.
Sie hatte natürlich den Sieg davongetragen. Und dennoch: das Ticken
ihres Gehirns wurde langsam lästig. Es kam und ging in unregelmäßigen
Abständen. Seine Lautstärke wechselte je nach der Intensität
ihrer Gedanken, und wenn ein Gedanke sie aufregte, war das Geräusch ohrenbetäubend,
einfach zum Verrücktwerden. - Margaret Millar, Liebe
Mutter, es geht mir gut .... Zürich 1975 (zuerst 1955)
Ticken (3) Wenn der Schlaf den Menschen
flieht und der Mensch im Bett liegt, die Beine töricht ausgestreckt, und
neben ihm auf dem Nachttisch die Uhr tickt und der Schlaf die Uhr
flieht, dann meint der Mensch, ein riesiges schwarzes Fenster öffne sich
vor ihm und zu diesem Fenster hinaus fliege seine feine, graue
menschliche Seele, sein lebloser Körper aber, die Beine töricht
ausgestreckt, bleibe im Bett liegen und die Uhr singe mit ihrem leisen
Laut: »Wieder ist ein Mensch entschlafen«, und das riesige und ganz und
gar schwarze Fenster klappe zu.
Ein Mann namens Oknow lag im Bett, die Beine töricht ausgestreckt, und
versuchte einzuschlafen. Aber der Schlaf floh Oknow. Oknow lag mit
offenen Augen, und furchtbare Gedanken tickten in seinem menschlichen
Kopf.
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(charms)
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