orbote Wir
zählten sechs Frauen, sieben Männer, darunter einen Heranwachsenden, sowie drei
kleine Mädchen im Alter von etwa ein, zwei bzw. drei Jahren; zweifellos eine
der kleinsten Gruppen, der es je gelungen ist, mindestens dreizehn Jahre lang
ohne den geringsten Kontakt mit der Außenwelt zu überleben. Überdies waren zwei
Mitglieder der Gruppe an den unteren Gliedmaßen gelähmt: eine junge Frau, die
sich mit Hilfe von zwei Stöcken aufrechthielt, und ein junger Mann, der sich
mühsam am Boden dahinschleppte. Aus seinen abgemagerten Beinen traten spitze
Knie hervor, die Kniekehlen waren geschwollen und wie mit Lymphe gefüllt, die
Zehen des linken Fußes leblos, während die des rechten Fußes ihre Beweglichkeit
bewahrt hatten. Trotzdem gelang es den beiden Krüppeln, sich im Wald
zu bewegen, ja sogar mit sichtlicher Leichtigkeit lange Strecken zurückzulegen.
War es Kinderlähmung oder ein anderer Virus? Traurig mußte ich angesichts dieser
Unglücklichen, die in der feindlichsten Natur, welcher der Mensch überhaupt
begegnen kann, sich selbst überlassen waren, an die Worte von Thevet
denken, der die Küsten-Tupi im 17. Jahrhundert besucht und seiner Bewunderung
für dieses Volk Ausdruck verliehen hatte: »Sie sind aus denselben Elementen
gemacht wie wir . . . Niemals werden sie von der Lepra, von Lähmungen, von der
Schlafkrankheit, von Geschwüren oder anderen Gebrechen befallen, die äußerlich
zu sehen sind.« Er konnte nicht ahnen, daß er selbst und seine Gefährten die
Vorboten eben dieser Übel waren. - (
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)
Vorbote
(2) An einem Abend, spät, immer noch an der Place de Panthéon.
Es klopft. Eine Frau tritt ein; ihr ungefähres Alter
und ihre Züge entziehen sich mir heute. In Trauer, glaube ich. Sie verlangt
eine Nummer der Zeitschrift Littérature, die noch nicht erschienen ist,
irgend jemand hat ihr das Versprechen abgenommen,
sie am nächsten Tag nach Nantes mitzubringen. Zu meinem großen Bedauern besteht
sie darauf, die Nummer zu haben. Aber sie scheint hauptsächlich gekommen zu
sein, um mir die Person zu »empfehlen«, die sie schickt, und die in Kürze nach
Paris kommen, sich hier niederlassen soll. (Ich habe den Ausdruck behalten:
»die sich in die Literatur stürzen möchte«, und seit ich wußte, auf wen er angewendet
wurde, fand ich ihn so merkwürdig, so ergreifend.) Aber wen sollte ich auf diesen
mehr als wunderlichen Auftrag hin empfangen, beraten? Ein paar Tage vergingen,
und Benjamin Péret war da.
- (nad)
Vorbote
(3) Oda von Siering heißt sie und ist so alt wie das Jahrhundert.
Vorboten des Unheils hat sie im Gepäck: die Mutter im Eissarg, eine Missbildung
im Glas für den Vater. Ebbo von Siering ist Anthropologe, ein Hirnforscher
mit schrulligen Ideen, die man zwei Weltkriege später als furchtbar erkennen
wird. In Berlin darf er nicht lehren. Dafür sägt der mad scientist in seinem
Labor an den Köpfen getöteter estnischer Rebellen und sucht darin nach dem Sitz
des Bösen. -
Philipp
Bühler, Berliner Zeitung v. 3. Februar 2011
Vorbote
(4) Jetzt wollen wir die Anzeigen des nahe bevorstehenden Todes
anführen. Bei der Raserei das Lachen; bei Krankheiten,
wo das Bewußtsein bleibt, ein Pflücken und Falten der Kleider und des Bettzeuges,
ein Nichtachten auf diejenigen, von denen der Kranke aufgeweckt wird, die freiwillige
Entleerung der natürlichen Bedürfnisse. Das sicherste Kennzeichen aber gibt
das Aussehen der Augen und Nase und selbst das beständige Liegen auf dem Rücken,
ferner der ungleiche oder schwache Pulsschlag und was sonst noch Hippokrates1,
der größte Arzt, beobachtet hat. So unzählige Merkmale des Todes es nun gibt,
so hat man dagegen kein sicheres für Gesundheit und Lebensdauer, daher auch
der Censor Cato, in einem Schreiben an seinen Sohn über Gesunde, die
einem Orakel ähnliche Bemerkung macht, daß eine altkluge Jugend das Zeichen
eines frühen Todes sei. - (pli)
Vorboten (5) Wenn einige der Gerüchte, die diese sandigen Ebenen entlangliefen und wie lebendige Unglücksboten von Sumpfgrasbüschel zu Sumpfgrasbüschel sprangen, nicht grundlos waren, so lag es nahe, daß es dieses Jahr vor Ende März eine wahrscheinlich sogar noch schlimmere Überflutung geben würde, als das Land seit den allerfernsten Tagen erlebt hatte. Denn diese dunkelgrünen Wellen, glatt und schlüpfrig, ohne Schaum, ohne Gischt, die auch so sonderbar nach dem tiefsten Atlantik rochen, brachten Erinnerungen an weit entfernte geheimnisvolle Unglücke. Mitteilungen von verlorenen Inseln und untergetauchten Riffen brachten sie, wo der reisende Demetrius, wenn wir Plu-tarch glauben dürfen, hundert Jahre vor Christus Erzählungen von übermenschlichen Sagengestalten gehört hatte, die in der Ferne vom Meer umschlossen lebten.
Ja, sogar vor dem fünfzehnten März hatten -diese gewaltigen Ozeanwellcn
die Kormoranc in der St. Audric's Bucht aufgeschreckt und die Möwen bei Black
Rock, bei Blue Ben und Quantock's Head versprengt. Die Bewohner von Kilve Chantry
waren unruhig geworden; und von Benhole bis zum Wickmoor, von den Stert Flats
bis zur Mündung des Parrett, über Bridgwater Bar bis nach Gore Sand flatterten
aufgescheuchte fransige Flügel und schrillten Meeressehreie, und nachts gab
es ein schwaches Schlürfen, Plätschern und Murmeln, und all dies unter einem
Mond, der immer gewaltiger wurde, bis er eine Größe erreicht hatte, die mit
schrecklichen Ereignissen schwanger zu gehen schien. -
(cowp)
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